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Traumstadt? So hart gehen Zugezogene mit Berlin ins Gericht

Viele Menschen wollen nach Berlin ziehen. Immer noch. Doch wie frei, tolerant und weltoffen sind wir heute und wohin entwickeln wir uns als Gesellschaft? In einer Facebook-Gruppe verkündete kürzlich eine New Yorkerin, sie würde mit dem Gedanken spielen, nach Berlin zu ziehen. Sie erkundigte sich nach der Stimmung in der Stadt, speziell nach Diskriminierung und Intoleranz, da sie selbst schwarz ist. Daraus entwickelte sich eine hitzig geführte Debatte um Freiheit, Gentrifizierung und Rassismus, die viel über den Zustand Berlins aussagt.

Umzug nach Berlin: Ist die Stadt wirklich so weltoffen und tolerant, wie viele es gern hätten? Foto: Westend61

„Ich spiele mit dem Gedanken, nach Berlin zu ziehen. Wie ist das Klima gerade gegenüber Ausländern, gab es spürbare Veränderungen?“, fragt die junge Frau in einem Facebook-Post. Normalerweise tauschen sich in dieser englischsprachigen Gruppe junge Berliner Expats über hippe Jobs und Kunstprojekte aus, oder schieben sich gegenseitig heißbegehrte WG-Zimmer und Wohnungen auf Zeit zu. Doch diesmal geht es um mehr, um die Betriebstemperatur der Stadt. Daher der Hinweis auf die Hautfarbe der Post-Erstellerin, er ist zentral für die Richtung, die die Diskussion nimmt.

Expats sind Seismographen für die Tendenzen und Trends. Alteingesessene ziehen ihre Berlin-Routine durch, ärgern sich vielleicht über Veränderungen, wollen meist aber einfach nur ihre Ruhe. Die jungen, kreativen, hippen und erlebnishungrigen Menschen kommen aus aller Welt nach Berlin, um die Stadt zu durchdringen, zu erforschen, ihr Tempo anzunehmen und ihr mit ihrer Lust und Energie ihr ein neues Tempo zu geben. Sie prägen die Stadt, kulturell, ökonomisch, kulinarisch.

So manche Hipster, also jene jungen, erlebnishungrigen Menschen, die modisch gekleidet auf flotten Fahrrädern durch Neukölln und Kreuzberg sausen, kennen nicht selten wenige Wochen nach ihrer Ankunft die relevanten Bars, Clubs, Restaurants und Galerien. Sie waren an Orten, von denen Eingeborene nicht einmal gehört haben, sie haben Dinge erlebt, die Ur-Berlinern und Ur-Berlinerinnen viel zu nervig und zu anstrengend wären. Deshalb lohnt es sich manchmal, ihren Eindrücken und Perspektiven auf die Stadt zuzuhören.

Nach Berlin ziehen? Eine Stadt der Inklusivität, des Multikulturalismus und der Toleranz

Die ersten Reaktionen auf die Frage nach Rassismus in Berlin sind eher positiv: „Aufgrund der Geschichte baut Berlin wahrscheinlich mehr als jede andere Stadt in der EU auf Inklusivität, Multikulturalismus und Toleranz“, schreibt jemand. Es ist richtig, auf den ersten Blick ist Rassismus kein besonders großes Problem. Doch es ist nicht alles rosig: „Viele Leute, die nicht nordeuropäisch aussehen, bemerken den Rassismus einige Zeit nach ihrer Ankunft hier“, folgt eine weiteres Statement.

„Winter und Dunkelheit sind sehr lang, die Menschen in Berlin können sehr unangenehm und feindselig sein, es kann schwierig sein, deutsche Freunde zu finden“, gibt jemand anders zu bedenken. Viele Expats bleiben wohl deshalb unter sich, haben wenig Kontakt zu „echten“ Berlinern und Berlinerinnen. Es entstehen hermetische Universen, nicht nur deshalb wird an manchen Orten vornehmlich Englisch oder Spanisch gesprochen, was wiederum die alten Bewohner ärgert, die sich kolonialisiert fühlen. „Wer hier lebt, soll auch die Sprache lernen“, heißt es oft oder: „Es kann doch nicht sein, dass ich in eine Café einen Kaffe auf Englisch bestellen muss“.

Ein sonniger Tag in Berlin, die Stadt ist für ihre entspannte Atmosphäre und die vielen parks weltbekannt. Foto: Imago/Emmanuele Contini
Warum viele nach Berlin ziehen: Ein sonniger Tag in Berlin, die Stadt ist für ihre entspannte Atmosphäre und die vielen Parks weltbekannt. Foto: Imago/Emmanuele Contini

Für viele der Expats in der Facebook-Gruppe stellt tatsächlich die Sprache die größte Hürde dar, es sind oft gut ausgebildete Menschen, die sich in der Arbeitswelt zurechtfinden, in die angesagten Clubs reinkommen und vernetzt sind. VIP-Ausländer, wenn man so will, deren hauptsächliche Probleme nicht Ausbeutung, Flucht, Schwarzarbeit oder Gewalt sind und doch begegnet auch ihnen Diskriminierung und Rassismus im Alltag.

„Ich habe viele negative Reaktionen erfahren, weil ich einen Akzent habe. Es gab Leute, die mich ausgelacht haben oder ins Englische wechselten, obwohl ich Deutsch mit ihnen sprach“, schreibt eine Frau aus Südamerika an einer Stelle. Man kann in Berlin gut ohne Deutsch auskommen, wenn man aus einem privilegierten Background kommt oder, das wäre das andere Extrem, kein Problem damit hat, in einer abgehängten Parallelwelt zu leben, in der ausschließlich Türkisch, Arabisch, Russisch oder eine andere Sprache gesprochen wird. Aber das wollen nicht alle und viele haben durch die Sprachbarriere Schwierigkeiten. In alltäglichen Situationen und vor allem in bürokratischen Angelegenheiten.

Berlin ist schön, aber extrem rassistisch

Man spürt in der Debatte schnell die unterschiedlichen Perspektiven durchscheinen. Jemand, der aus Lifestyle-Gründen nach Berlin kam, um hier die Kunst und Clubszene auszuloten, hat andere Erfahrungen als Menschen, die unter Lebensgefahr aus Kriegsregionen hierher flüchteten. Ein junger Palästinenser, der vor wenigen Wochen in Berlin ankam, ist voll des Lobes. Noch lobst Du, schreibt jemand zurück, das sei nur die „Flitterwochen-Zeit“, den Rassismus wirst Du noch kennenlernen, unkt es.

Ein Franzose sieht hingegen ganz klar die Schattenseiten, „Berlin ist offen und tolerant, doch eine andere Tatsache ist, dass jeder männliche schwarze Freund von mir, der aus dem Ausland zu Besuch kam, erleben musste, dass ihn jemand für einen Drogendealer hielt oder in Bars abgewiesen wurde“. Auch das gibt es. „Viel zu viele weiße Berliner wissen es wirklich nicht oder wollen die ganze Wahrheit nicht hören“, fügt er noch hinzu. Und eine Frau resümiert traurig: „Berlin ist schön, aber extrem rassistisch, besonders wenn man eine sichtbare Person of Color ist. Am frustrierendsten ist vielleicht, dass viele weiße Deutsche sagen, dass das kein Rassismus sei, weil man die Sachen nicht direkt ins Gesicht gesagt bekommt, sondern dass sie unterschwellig passieren.“

Plötzlich driftet die Diskussion aber ab, wie auf einer Party, bei der in der Küche die Leute durcheinanderreden. Rassismus und Offenheit, Toleranz und Diskriminierung, alles wichtige Themen, doch angesichts der ökonomischen Situation schrumpfen sie rasant. Wo leben, wie eine Wohnung finden und diese bezahlen können? Das unheimliche Wort „Gentrifizierung“ steht im Raum, auf einmal diskutieren Menschen aus aller Welt, die auf die eine oder andere Wise in Berlin gelandet sind, die die Stadt wegen ihrer Attraktivität anzog und die diese Stadt attraktiver gemacht haben, die nicht selten lebende Symbole der Gentrifizierung sind, über die Gentrifizierung. Es ist absurd.

Nach Berlin ziehen: Krass hier! Werbung für Neubauten in der Heidestraße. Die Situation auf dem Wohnungsmarkt ist extrem schwierig. Foto: Imago/Jochen Eckel
Krass hier! Werbung für Neubauten in der Heidestraße. Die Situation auf dem Wohnungsmarkt ist extrem schwierig. Foto: Imago/Jochen Eckel

„Berlin ist kein Ort für Kreative mehr. Die Stadt wurde so gründlich gentrifiziert und die Freiräume sind verschwunden, geräumt oder überbaut worden“, raunt einer der Fahrräder repariert und an der HU studiert. Jemand anders erwidert, Gentrifizierung gäbe es doch überall, das sein kein spezifisches Berlin-Phänomen. Doch der Mythos der billigen Mieten ist noch nicht ganz verschwunden aus den Köpfen, auch wenn es diese Mieten in der Realität gar nicht mehr gibt. „Das Problem ist, dass man als ‚Ausländer‘ kaum eine Wohnung oder ein Zimmer in den Bezirken bekommt, in denen man in Berlin am besten leben kann. Oder es ist sehr teuer“. In Kreuzberg, Neukölln, Prenzlauer Berg, Friedrichshain oder Mitte also. Dort wo (fast) alle wohnen wollen.

Über die Miete mache sie sich keine Sorgen

Dann meldet sich die Erstellerin des Posts – die Initiatorin der Debatte – wieder zu Wort. Über die Miete mache sie sich keine Sorgen, die Mieten seien auch in New York hoch, gibt sie an, das könne sie dann schon bezahlen. Da kommt Unmut auf. „Genau das ist doch das Problem, dass Leute aus Städten herkommen, wo solche astronomischen Mieten gezahlt werden, und die auch bereit sind, sie auch hier in Berlin zu zahlen, damit treiben sie die Preise an.“ Nicht ganz falsch.

Das Gespräch zieht sich hin. „Berlin ist die Hauptstadt der Outsider“, ruft jemand hinein. Kommt immer drauf an, von wo aus man schaut, denn meist haben Outsider nicht viel Geld und mit wenig Geld wird das Leben in Berlin zunehmend schwerer. Ist Berlin also noch eine Stadt, die junge Kreative aus aller Welt anzieht? Ist Berlin ein Sehnsuchtsort, eine Stadt der Freiheit? Sicherlich, aber zugleich auch nicht für jeden und für jede. Nicht mehr und sie wird es wohl immer weniger sein, in Zukunft.

Zum Abschluss, sieht es jemand, der ein DJ zu sein scheint, eher pragmatisch: „Berlin besuchen, macht Spaß, aber es ist keine Stadt zum Leben“, sagt er. Die Meinung kann man haben, muss man aber nicht. Ob die New Yorkerin nach Berlin ziehen wird, wurde an dieser Stelle nicht entschieden. „Herzlich Willkommen, an Dich und an alle“, beendet eine Frau, die mit Theater zu tun hat, das Ganze schließlich.


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