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Alter Kiez, neuer Kiez

Umzug von Prenzlauer Berg in den Bergmannkiez: Das bessere Spießerviertel

Unsere Autorin hat einen Umzug von Prenzlauer Berg in den Bergmannkiez in Kreuzberg hinter sich. Und obwohl es dort fast genau so bürgerlich und spießig ist wie im durchgentrifizierten Nordosten, findet sie: Die Menschen sind dort etwas weniger engstirnig, die Straßen bunter und das Leben schöner.

Umzug von Prenzlauer Berg nach Kreuzberg: Restaurants gibt's im Bergmannkiez viele, Kneipen kaum.
Umzug von Prenzlauer Berg in den Bergmannkiez in Kreuzberg: Restaurants gibt’s hier viele, Kneipen kaum. Foto: Imago/Schöning

Essen ja, Saufen nein: Der Bergmannkiez ist ab 23 Uhr tot

Ich bin kürzlich von einem High-End-Kiez in den nächsten gezogen: Von der Wohnung mit Blick auf die U2, drei Tramlinien und unzählige LKW, die rumpelnd über die Kreuzung fuhren, in das ruhige Zimmer zu einem Hinterhof im Bergmannkiez. Bis auf den Lärmpegel und die zentralere Lage keine große Veränderung, könnte man jetzt denken.

Kreuzberg 61 kommt ähnlich bürgerlich und gentrifiziert daher wie der Prenzlauer Berg an seinen schwabigsten Stellen. Die Cafés tragen Namen wie „Fräulein Nimmersatt“ oder „Knofi“ und selbst die spießigen Eltern von BWL-Studentin Charlotte aus Konschtanz fühlen sich im Bergmannkiez wohl. Sushi, Rindfleisch, das im koreanischen Restaurant brutzelnd auf Pfannen an den Tisch kommt und Jakobsmuscheln bei Umami, statt Falafel, Handyläden und Woolworth, wie wenige Straßen weiter im engen, schmuddeligen Neukölln. Wunderbar, warum nicht gleich so, Charlotte!

Nach 23 Uhr sind die Bürgersteige im Bergmannkiez ähnlich leer wie in P’Berg, kein Wunder, gibt ja auch fast keine Kneipen mehr. Essen ja, aber länger wach bleiben, sich einen Dienstagabend schön trinken, gar am nächsten Morgen um acht Uhr nicht vollends produktiv sein? Auf keinen Fall! Am Ende vergisst man noch, Ben-Patricks Avocado-Kitabrot in seinen Fjallraven-Kanken zu packen oder den Müll runterzubringen. Schaffe, schaffe, saubermache gilt auch im Bergmannkiez. Und dem Klientel in der Bio Company könnte man auch am Kollwitzplatz begegnen.

Bergmannkiez: Zentral, aber weniger anonym

Bei meinem ersten Besuch dort brüllte ein etwa vierjähriger Junge mit Blick auf mich: „Mama, die Frau kauft die gleiche Milch wie wir, DIE DARF DAS NICHT!“ und trommelte mit seinen Füßen auf die Fußstütze seiner Cybex-Platinum-Kinderkarre für mindestens 2000 Euro. Er brüllte das bestimmt fünf Mal in ohrenbetäubender Lautstärke. Mama streichelte ihm über den Kopf und sagte: „Emil, bitte, ich hab doch gesagt, nicht immer so schreien!“

In mancher Hinsicht ist das Leben im Bergmannkiez sogar noch anstrengender als in den geleckten Straßen des Prenzlauer Bergs, den mein Kollege hier ohnehin schon begraben hat. Dort dominieren die Anti-Impf-Muttis und SUV-Vatis so sehr das Straßenbild, dass meine Bekannten kaum einen Grund haben, sich dorthin zu begeben. Der Umstand, dass sie am Alex umsteigen müssten, macht einen Ausflug nach Prenzlauer Berg dann gänzlich unwahrscheinlich. Der Bergmannkiez dagegen, zentral gelegen, voll mit guten Restaurants und Läden für besonderen Bedarf, wie zum Beispiel ein Laden nur für Bilderrahmen (!), lockt tatsächlich auch Menschen aus meinem Bekanntenkreis vor meine Haustür. 12 Tipps für den schönen Bergmannkiez: Entspannen, bummeln und gut essen.

Umzug von Prenzlauer Berg in den Bergmannkiez in Kreuzberg: Tagsüber ist viel los, abends fast nichts mehr.
Umzug von Prenzlauer Berg in den Bergmannkiez in Kreuzberg: Tagsüber ist viel los, abends fast nichts mehr. Foto: Imago/Schöning

Und so passierte es neulich, dass ich verkatert, mit einem Kaffee-Fleck auf dem Pullover und einer Tiefkühl-Pizza in der Hand am Sushi-Cube vorbeischlappte und vor einer Freundin floh, die mich von ihrem Tisch aus gesehen hatte. Als sie mir dann später eine Nachricht schrieb, tat ich so, als hätte ich sie nicht gesehen. Das Leben in einem In-Kiez ist hart!

Geleckt, aber nicht klinisch sauber

Trotzdem bin ich froh, dem Prenzlauer Berg entflohen zu sein. Im Bergmannkiez begegnet man zwar nervigen Müttern mit teuren Kinderwägen, die ihre Stimmen auch nicht erheben würden, wenn Ole-Tillman dir vors Schienbein treten würde, aber auch Uwe, der schon seit 50 Jahren in seiner dunklen Zweizimmerwohnung wohnt und morgens um neun Uhr ein Schultheiß bestellt. Man kann richtig gute asiatische Fusion-Küche essen, aber muss trotzdem keine halbe Weltreise machen, um bei Eurogida einzukaufen. Endlich höre ich auf der Straße nicht nur deutsch, schwäbisches deutsch und vielleicht spanisch, sondern auch mal wieder türkisch, arabisch oder russisch. Und im Blumenladen kann man wohlriechende Trockenblumen kaufen und kurz danach über Urinpfützen im U-Bahnhof Mehringdamm springen.

Überhaupt, obdachlose Menschen werden in Kreuzberg 61 nicht so sehr geschasst, nicht so sehr beäugt wie außerirdische Kakerlaken wie in der schwäbischen Exklave rund um Helmholtz- und Kollwitzplatz. Auf der Verkehrsinsel am Mehringdamm/Ecke Yorckstraße haben sich ein paar Hartgesottene eine Trutzburg aus Einkaufswagen, Sonnenschirmen und Spanplatten gebaut. Immer wieder bleiben Interessierte stehen und lesen die „Wir-bleiben-Erklärung“, die sie auf ein paar Kartons gekritzelt haben. Und in der Zossener Straße, sagte mir neulich eine Mittfünfzigerin, sitzen die Alkis immer noch in der selben Ecke wie in den 80ern.

Es gibt Haufen mit dreckigen Klamotten, die irgendwo auf der Straße herumliegen und, Halleluja, aus den Fenstern hängen die lila-gelben Transparente, die fordern, Deutsche Wohnen und Co zu enteignen. Die habe ich in meinem alten Viertel vergeblich gesucht. Und ja, es macht die Straße um einiges lebenswerter, dass es nun Sitzgelegenheiten, Blumenkübel und den breiten Fahrradweg gibt und die Autos nur noch eine Spur haben. Wenn ich will, bin ich mit dem Rad in zehn Minuten in einer meiner Lieblingsbars am Kotti oder in fünf in einer Eckkneipe am Hermannplatz. Aber wer weiß, wie oft ich dort überhaupt hinfahren werde. Denn eigentlich mag ich meinen neuen, mal spießigen, mal aufregenden Kiez doch ziemlich gerne.


Mehr Umzüge in Berlin

Vor einem Jahr ist unsere Autorin vom Wedding nach Prenzlauer Berg gezogen und herausgefunden: Manche Vorurteile stimmen einfach. Und für tip-Redakteur Jacek Slaski ging es von Friedrichshain nach Kreuzberg. In den Westen zog es Ben-Robin König bei seinem Umzug von Neukölln nach Moabit: Er fragt sich, ob er sein altes Viertel überhaupt vermissen soll.

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