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Fotobuch „Vanishing Berlin“: Fortschritt fressen Seele auf

Der Berliner Fotograf Alexander Steffen durchstreift seit Jahren Berlin. Dabei ist er stets auf der Suche nach den Zeichen des Wandels und nach Orten, die Geschichte werden oder schon geworden sind. Eben nach der verschwindenden Seele der Stadt. Seine Bilder zeigen Brachen, Abrisshäuser, verlassene Läden, unverputzte Brandwände, alte Werbeschilder – es sind Spuren aus der Vergangenheit, aus den wilden 1990er-Jahren und der Zeit als Berlin noch von einer Mauer getrennt wurde.

Anny Haubner, Musik-Bading, Karl-Marx-Straße, Neukölln, 2021
Anny Haubner, Musik-Bading, Karl-Marx-Straße, Neukölln, 2021 – „Vanishing Berlin: In der Zwischenzeit – For the Time Being“ (Edition Braus). Foto: Alexander Steffen 

„Vanishing Berlin“: Steffens Auslese aus mehr als 10.000 Fotos

Steffen beobachtet und dokumentiert die Veränderungen, mehr als 10.000 Fotos sind so bei seinen scheinbar ziellosen Wanderungen entstanden. Ein enormes Archiv, aus dem er nun die besten Aufnahmen herausgesucht hat und sie in dem Bildband „Vanishing Berlin: In der Zwischenzeit – For the Time Being“ präsentiert. Das Buch ist ein wichtiges Zeugnis des verschwindenden Berlins, einer sich immerzu wandelnden Stadt.

Eins ist sicher, nichts bleibt so wie es ist. Eine Floskel, die beim Betrachten der Berlinfotos von Alexander Steffen, immerzu in den Sinn kommt. Die Bilder zeigen das Flüchtige, die urbane Vergänglichkeit. Es sind Freiflächen, Brandmauern, Ladenfronten oder Graffiti, es sind Orte, die man vielleicht sogar selbst mal gesehen hat, die heute aber oft frischer Farbe und neuen Häusern gewichen sind. „Ach, so sah es dort aus, stimmt, das gab es ja auch“, denkt man beim Anblick der beklebten Fassaden oder leerstehenden Geschäfte.

Auch wenn die Bilder um die Vergangenheit kreisen, ist „Vanishing Berlin“ kein historischer Exkurs, es ist viel mehr eine Auseinandersetzung mit der Dynamik und dem Tempo der Gegenwart. Die Bilder der Remisen, abgehalfterten Garagen, kleinen Werkstätten und zugewucherten Baulücken sind Dokumente des Jetzt. Sie stehen im Spannungsfeld der Stadtplanung, der Politik und Gentrifizierung. Wohin entwickelt sich Berlin und wem gehört die Stadt überhaupt? Die Fotos stellen indirekt diese Fragen, in dem sie jene fragile Schicht der urbanen Textur in den Vordergrund rücken, die alt und ungewollt, überholt und vergessen scheint und doch so sehr für die Seele Berlins von Bedeutung ist. Steffen sucht diese Seele und findet sie auch.

Martin Grässel Nachf., Alt-Moabit, Tiergarten, 2021
Martin Grässel Nachf., Alt-Moabit, Tiergarten, 2021 – „Vanishing Berlin: In der Zwischenzeit – For the Time Being“ (Edition Braus). Foto: Alexander Steffen 

Alexander Steffen erinnert an unnütze und ungeliebte Orte

Denn wie langweilig sind in Wirklichkeit Neubaugebiete, gestriegelte Rasenflächen, akkurat verlegte Bordsteine und perfekt geordnete Plätze? Ja, sie sind sauber und schick, vermutlich lässt es sich dort angenehm wohnen, aber diese neuen Orte atmen nicht, sie sind steril und bar jeder Geschichte. Alexander Steffen erinnert an die unnützen und ungeliebten Orte, an abblätternden Putz und die rostroten und sandgelben Ziegeln, an unrentabel gewordene Industriebauten mit Schornsteinen aus denen längst nichts mehr raucht.

Steffen wurde 1967 in West-Berlin geboren, er studierte Politik an der FU und sattelte schon bald auf die Fotografie um. Seit den Wendejahren ist er mit seiner Kamera unterwegs, damals als die ersten Technoclubs in den Ruinen entstanden und Mitte ein wilder Bezirk war, er betrieb von 1999 bis 2005 die Galerie transition und begann 2009 mit dem „Vanishing Berlin“-Projekt.

Man kann sein Buch auch mit einem Hauch Wehmut und Nostalgie betrachten, sich an die eigene Jugend und ein ruppigeres Berlin erinnern, als es noch Kohleofen gab, die Böden mit tiefroter Farbe gestrichen und die Mieten ein Witz waren. Oder man fragt sich angesichts des Verschwindens, was für die Zukunft der Stadt wichtig ist und wie wir mal leben wollen. Die Bilder liefern zu beiden Lesarten einen Ausgangspunkt.

„Vanishing Berlin: In der Zwischenzeit – For the Time Being“ (Edition Braus)

Vanishing Berlin: In der Zwischenzeit – For the Time Being Fotografien von Alexander Steffen. Mit Texten von André Kirchner und Alexander Steffen. Edition Braus, Deutsch / Englisch, Hardcover, 24 x 30 cm, 184 Seiten, etwa 250 Fotografien, 29,90 Euro

Buchvorstellung & Pop-Up Ausstellung  in Kooperation mit Kairo Kiosk (Baupalast) & Vernetzungstreffen Rathausblock in der Adlerhalle auf dem Dragoner Areal, Mehringdamm 20, Kreuzberg, Do 23.9., 18 bis 21 Uhr

Weitere Informationen: www.vanishing.berlin 


Fotogalerie: Vanishing Berlin

Alt-Berlin, Krumme Straße, Charlottenburg, 2021
Alt-Berlin, Krumme Straße, Charlottenburg, 2021 – „Vanishing Berlin: In der Zwischenzeit – For the Time Being“ (Edition Braus). Foto: Alexander Steffen 

Brache, Charlottenburger Straße, Weißensee, 2020
Brache, Charlottenburger Straße, Weißensee, 2020 – „Vanishing Berlin: In der Zwischenzeit – For the Time Being“ (Edition Braus). Foto: Alexander Steffen 

Pulverfabrik & CCC Filmstudios, Kleine Eiswerderstraße, Spandau, 2019
Pulverfabrik & CCC Filmstudios, Kleine Eiswerderstraße, Spandau, 2019 – „Vanishing Berlin: In der Zwischenzeit – For the Time Being“ (Edition Braus). Foto: Alexander Steffen 

Brandwand, Neukölln, 2018
Brandwand, Neukölln, 2018 – „Vanishing Berlin: In der Zwischenzeit – For the Time Being“ (Edition Braus). Foto: Alexander Steffen 

Brache, Kurfürstenstraße, Schöneberg, 2017
Brache, Kurfürstenstraße, Schöneberg, 2017 – „Vanishing Berlin: In der Zwischenzeit – For the Time Being“ (Edition Braus). Foto: Alexander Steffen

Brache, Rigaer Straße, Friedrichshain, 2016
Brache, Rigaer Straße, Friedrichshain, 2016 – „Vanishing Berlin: In der Zwischenzeit – For the Time Being“ (Edition Braus). Foto: Alexander Steffen 

Fuck AFD, Rummelsburger Landstraße, Lichtenberg, 2021 "Vanishing Berlin: In der Zwischenzeit – For the Time Being" (Edition Braus). Foto: Alexander Steffen
Fuck AFD, Rummelsburger Landstraße, Lichtenberg, 2021 – „Vanishing Berlin: In der Zwischenzeit – For the Time Being“ (Edition Braus). Foto: Alexander Steffen 

Vanishing Berlin - Cuvry-Brache, Kreuzberg, 2010 – 2019 "Vanishing Berlin: In der Zwischenzeit – For the Time Being" (Edition Braus). Foto: Alexander Steffen
Cuvry-Brache, Kreuzberg, 2010 – 2019 – „Vanishing Berlin: In der Zwischenzeit – For the Time Being“ (Edition Braus). Foto: Alexander Steffen 

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