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Kommentar

Verbot der Corona-Demo: Wer sorgt sich um gefährdete Berliner*innen?

Am Mittwochmorgen wurde klar: Der Berliner Senat beschloss ein Verbot der Corona-Demo am 29. August. Schnell gingen die Diskussionen um die Rechtsmäßigkeit der Entscheidung los. Doch an die Berliner*innen, die an diesem Tag Angst vor Neonazis haben müssen, die zu Tausenden die Stadt fluten wollen, denkt kaum jemand. Ein Kommentar.

Verbot der Corona-Demo
Bilder von der letzten Corona-Demo am 1. August: Russlandfans, Hippies und gewaltbereite Nazis gingen Seite an Seite. Foto: imago images / Müller-Stauffenberg

Es ist nicht mal eine Woche her, dass der Gedenkmarsch für die Opfer des rechtsterroristischen Mordanschlags in Hanau aufgrund steigender Corona-Zahlen in der Region verboten wurde. Das Timing war schlecht, der Unmut war groß – doch die Entscheidung stand und wurde respektiert, wenn auch nicht gerade mit Begeisterung.

Verbot der Corona-Demo: Große rechtsextreme Beteiligung befürchtet

Nun hat Innensenator Andreas Geisel (SPD) nach zahlreichen Aufrufen die Berliner Corona-Demo verboten. Es sei keine Entscheidung gegen die Versammlungsfreiheit, wurde in der Pressemitteilung klargestellt, sondern „für den Infektionsschutz“. Nach den Erfahrungen der letzten Demo vor knapp vier Wochen stand der Senat schließlich auch unter Zugzwang. Trotz eines vorgeblichen Hygienekonzeptes wurde teilweise von Lautsprechern dazu aufgefordert, Hygiene-Regeln zu missachten, Hippies tanzten mit offen Rechten, Journalist*innen wurden angegriffen und Politiker*innen auf Hunderten Plakaten bedroht. Die Polizei stand unterbesetzt daneben und schaute zu.

Und alle Zeichen deuten darauf hin, dass es diesmal nicht besser wird: Seit Wochen wird nicht nur unter Corona-Leugnern mobilisiert, sondern auch unter Rechtsextremen, davon viele gewaltbereit. Führende Figuren der sogenannten „Neuen Rechten“ haben sich angekündigt. Die Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus spricht von einer „verschwörungsideologische[n] Bündnisdemonstration mit bundesweiter Mobilisierung und großer rechtsextremer Beteiligung„. In einschlägigen Chatgruppen wird sogar gefordert, mit Waffengewalt den Reichstag zu stürmen. Die angeblich so braven Bürger, die ja nur gegen den Mund-Nasen-Schutz demonstrieren wollen, haben kein Problem, neben diesen Personen zu stehen und wollen sich vielmals auch über die Entscheidung des Senats hinwegsetzen, sollte das Verwaltungsgericht das Verbot nicht kippen.

Verbot der Corona-Demo: Demonstrierende fantasieren von Waffengewalt

Die Reaktion in vielen Medien? Man schlägt sich auf die Seite der Demonstrierenden: Das Verbot der Demonstration sei ein Angriff auf die Versammlungsfreiheit, titeln Boulevardzeitschriften. Andere, vermeintlich progressive Stimmen, meinen, man solle doch lieber Gegenproteste fördern, schließlich müsste man andere Meinungen aushalten.

Doch wo waren diese Stimmen, als Hanau abgesagt wurde, oder wenn Jugendliche sich bei Klimaprotesten in einem Polizeikessel wiederfinden? Wo sind diese Stimmen, wenn Polizist*innen linke Demonstrationen stürmen? Und wie verantwortungsvoll ist es, Bürger*innen zu Gegenprotesten animieren zu wollen, wenn gleichzeitig rechte Demonstrant*innen von Waffengewalt fantasieren?

Verbot der Corona-Demo: Wo bleibt das Verständnis für gefährdete Berliner*innen?

Es wird viel Verständnis für Corona-Leugner*innen und ihre gewaltbereiten rechten Bündnispartner*innen entgegengebracht, aber keine Sekunde lang wird über die Berliner*innen gesprochen, für die dieses Wochenende lebensgefährlich sein kann. Die Menschen mit Vorerkrankungen zum Beispiel, die sich zwei Mal überlegen, ob sie am Wochenende durch eine Stadt navigieren wollen, in der selbsternannte „Corona-Rebellen“ aus der ganzen Bundesrepublik und, nach Angaben der Demonstrierenden selbst, aus ganz Europa anreisen wollen. Berliner*innen mit zugeschriebenem Migrationshintergrund, Schwarze Berliner*innen, jüdische Berliner*innen, queere Berliner*innen. Die Liste ist endlos.

Noch im Juni schnellten Bücher, die sich mit Rassismus auseinandersetzten, an die Spitze der Bestsellerlisten, waren überall ausverkauft. „Oh, es gibt in Deutschland ja auch Rassismus!“, schien das Land kollektiv zu erkennen, huch. Jetzt wäre es an der Zeit, diese Erkenntnis auch umzusetzen. Doch wenn die gesamte rechte Szene mobilisiert, um in der Hauptstadt Angst und Schrecken zu verbreiten, bleibt es ganz still.

Corona-Demo: Die Bilder aus Chemnitz sind schon vergessen

Die Bilder aus Chemnitz sind schon vergessen, von den Hetzjagden, der Fratze des Hasses, dem selbstgefälligen Grinsen der rechten „Vordenker“. Oder aus Dresden, als Rechtsterroristen fast ungestört ein alternatives Viertel kurz und klein schlagen konnten. Dass viele Berliner*innen am diesem Wochenende – ob begründet oder unbegründet – Angst vor ähnlichen Szenen haben, Angst davor haben, dass die Polizei unterbesetzt und überfordert den Rechten keinen Einhalt gebieten kann, scheint kein Thema zu sein.

Dabei ist es unsere Stadt. Und nicht die derer, die unsere Gesundheit gefährden und unseren Lebensstil zerstören wollen. Freiheit bedeutet nicht, dass wir jedem Schreihals zuhören müssen und ihm unsere Straßen freiräumen. Nein, Freiheit bedeutet, dass wir gemeinsam einen Raum schaffen, in dem sich so viele wie möglich frei entfalten können. Und diesen Raum, dieses Berlin, gilt es zu verteidigen.


Mehr Berliner Stadtpolitik:

Die Hintergründe zur Entscheidung haben wir hier zusammengefasst: Berlin verbietet Corona-Skeptiker-Demo am Wochenende.

Auch im Vorfeld der letzten Großdemonstration gab es Diskussionen: „Tag der Freiheit“ – Bitte nicht schon wieder eine Verschwörungsdemo.

Wir haben die peinlichsten Berliner*innen gekürt – im Corona-Spezial: Das ist unsere Nerv-Elite.

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