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Selbsterfahrungsbericht

Plötzlich abgedriftet: Muss eine Freundschaft Verschwörungstheorien und Lügen aushalten?art

Es ist zum Kopf-auf-den-Tisch hauen: Andauernd demonstrieren Gegner*innen der Corona-Maßnahmen in Berlin. Unter ihnen sind Verschwörungstheoretiker*innen, Rechtsextreme und linke Esoteriker*innen. Sie halten sich nicht an Fakten, verstehen das Präventionsparadox nicht und verbreiten antisemitische Verschwörungsideologien. Doch was wenn eigene Freund*innen in diese Ecke abzurutschen drohen? Wenn sie gegen die Corona-Maßnahmen sind, nicht mehr auf der Basis von Fakten diskutieren, vielleicht sogar Menschen zitieren, die sonst nur von Verschwörungstheoretiker*innen zitiert werden? Ein Selbsterfahrungsbericht von der Debattenfront.

Kann man mit Menschen befreundet sein, die Widerstand 2020-Demos gehen würden? Wie geht man mit Freunden um, die gegen die Corona-Maßnahmen sind?
Kann man mit Menschen befreundet sein, die auf Widerstand 2020-Demos gehen würden? Foto: imago images/Future Image

Ich hatte es schon geahnt. Freundin P. hatte bereits letzten Sommer davon geredet, dass Impfungen Autismus verursachen könnten und dass man sich besser gesund ernähren als impfen lassen solle. Kurz am Rande: Die These mit dem Autismus durch Impfungen ist schon längst widerlegt, wird aber von Impfgegner*innen weiterhin angeführt. Auch P. ließ sich davon nicht abbringen.Vor ein paar Tagen, als ich sie in meiner Heimatstadt Hameln erneut traf, ging es wieder los. Dieses Mal wetterte sie aber nicht nur gegen Impfungen, sondern auch gegen die Corona-Maßnahmen. Wir diskutierten, die Debatte wurde immer hitziger und immer lauter. Und ich ärgerte mich, dass ich nicht besser vorbereitet war.

Corona-Krise: Die Akzeptanz für die Maßnahmen sinkt

Die Akzeptanz für die Maßnahmen in der Bevölkerung sinkt. Gefühlt kennt fast jede*r jemanden, der oder die mit den Gegner*innen der Corona-Maßnahmen sympathisiert. Menschen beschimpfen und bedrohen den Virologen Christian Drosten.

Und seit Ende März sammeln sich Verschwörungstheoretiker*innen, stramme Rechte, Esoteriker*innen und versprengte Linke vor der Volksbühne zu sogenannten „Hygiene-Demos.“ Am letzten Mai-Wochenende wollen sie jetzt zwei solcher Demos im Mauerpark abhalten — im Amphitheater, wo sonst Karaoke-Songs ertönen.

Manche dieser Demonstrant*innen wittern hinter der Pandemie eine weltweite Verschwörung, mit dem Ziel, die Menschheit zu kontrollieren, andere glauben gar nicht erst an das Virus. In die Theorien mischen sich allzu oft antisemitische Überzeugungen.

Auch in der neugegründeten Partei „Widerstand 2020“ sammeln sich Verschwörungstheoretiker*innen, Rechtspopulist*innen und linksesoterische Impfgegner*innen — und protestieren gegen die Corona-Maßnahmen. Die Partei will den Bundestag durch ein Notstandparlament ersetzen und das Grundgesetz ändern.

Kann man mit jemandem befreundet sein, der oder die zu Widerstand 2020-Demos gehen würde?

In meiner Heimatstadt formieren sich ebenfalls „Widerstand 2020“-Anhänger*innen und gehen unter der Führung eines AfD-Mannes auf die Straße. Freundin P. äußerte dafür Verständnis und ließ durchblicken, dass sie sich auch vorstellen könne, dort gegen die Corona-Maßnahmen zu demonstrieren. In diesem Moment fragte ich mich: Will ich mit so jemandem befreundet sein? Wo ist der Punkt, an dem ich mir eingestehen muss, dass Diskutieren keinen Sinn mehr macht? Und, sollte dieser Punkt schon erreicht sein, sollte ich die Freundschaft beenden oder das Thema besser aussparen, um der Freundschaft willen?

Rechts ist Freundin P. eigentlich nicht. Aber sie scheint solche Sachen wie das Präventions-Paradox nicht zu verstehen — und exponentielles Wachstum auch nicht. Sie wies auf die negativen Folgen des Shutdowns hin: verschobene Operationen, Menschen mit Behinderung, die in Wohnheimen wohnen und diese nicht mehr verlassen können, der Anstieg von häuslicher Gewalt gegen Kinder und Frauen. Sie hat Recht: Darüber müssen wir reden und regelmäßig neu evaluieren, ob die Maßnahmen noch angemessen sind.

Auch über die Folgen des Shutdowns müssen wir reden

Freundin P. ließ aber außer Acht, dass tragende Säulen der Gesellschaft möglicherweise eingestürzt wären, wenn die Verantwortlichen das öffentliche Leben nicht rechtzeitig herunter gefahren hätten. Dass auch keine Operationen hätten durchgeführt werden können, wenn zu viele Ärzt*innen erkrankt wären. Dass es Probleme in Wohnheimen für Menschen mit Behinderung gegeben hätte, wenn zu viele Mitarbeiter*innen krank geworden wären. Dass womöglich unsere Versorgungen mit Lebensmitteln zusammengebrochen wäre, wenn zu viele LKW-Fahrer*innen, Kassierer*innen und Landwirt*innen mit dem Coronavirus infiziert worden wären.

Als ich sie fragte, ob ihr die Bilder der Leichentransporte in Italien, der Leichenkühlhäuser in New York nicht reichten, um die Corona-Maßnahmen zu unterstützen, entgegnete sie, die Bilder seien aus dem Zusammenhang gerissen. Als ob man da irgendwas aus dem Zusammenhang reißen kann: Leichenberge sind Leichenberge. Aber sie argumentierte, in der Lombardei seien nur so viele Menschen gestorben, weil da die Luft so schlecht sei.

Und sie zitierte den Maßnahmen-Gegner Dr. Wolfgang Wodarg. Wodarg hält die Corona-Pandemie für Panikmache und hat sich zum Thema bereits von der Ex-Tagesschausprecherin und Rechtspopulistin Eva Herman interviewen lassen. Wodarg ist erstens kein Virologe und verbreitet zweitens Falschinformationen. Auf meine Anmerkungen bezüglich Wodarg hin sagte sie, ich solle halt nicht nur „Spiegel“ und Konsorten, sondern auch mal auf anderen Seiten lesen. In diesem Moment fragte ich mich wieder, ob die ganze Diskussion mit ihr überhaupt Sinn machte. Das hörte sich doch arg nach Rechtspopulisten-Sprech an.

Vorbereitet sein, wenn man Diskussionen mit Maßnahmen-Gegner*innen führt

Außerdem war Freundin P. davon überzeugt, dass die Studie, die der Virologe Hendrik Streeck in Gangelt durchgeführt hat, sie darin bestätige, dass die Maßnahmen übertrieben seien. Und ich? Ich ärgerte mich, dass ich gerade keine Zahlen bei Hand hatte und selbst nochmal nachgucken musste, warum Wodarg spinnt. Später suchte ich die Zahlen heraus. Zwischen dem 20. Februar und dem 3. März starben in Italien rund 25.000 Menschen mehr als im Vergleichszeitraum der Vorjahre ohne Corona. Selbst wenn dort mehr Menschen wegen schlechter Luft an Covid-19 gestorben sein sollten, ist es moralisch nicht zu rechtfertigen, dass sich wegen fehlender Corona-Maßnahmen noch mehr Menschen anstecken und sterben.

Außerdem habe ich die Ergebnisse von Streecks Studie auf ganz Deutschland umgerechnet. In Gangelt haben sich laut der Studie 15 Prozent der Bevölkerung mit dem Coronavirus infiziert. Davon starben 0,37 Prozent an den Folgen von Covid-19. Wendet man diese Zahlen auf ganz Deutschland an und geht davon aus, dass das Infektionsgeschehen im ganzen Land so abgelaufen wäre wie in Gangelt, dann käme man auf 12,15 Millionen infizierte Menschen (15 Prozent „Durchseuchung“). 12,15 Millionen mal 0,37 Prozent Letalitätsrate ergäben 44.955 Tote.

Die Grippewelle 2017/18 überforderte Krankenhäuser, aber Corona hätte sie ohne Maßnahmen noch härter getroffen

Die Grippewelle 2017/2018 forderte etwa 25.000 Tote. Damals waren viele Kliniken mit der Anzahl der schwer an Grippe erkrankten Patient*innen überfordert. Zeitungen riefen dazu auf, nicht wegen aufschiebbaren Anlässen ins Krankenhaus oder zum Arzt zu gehen. Wie hätte es in Deutschlands Krankenhäusern erst bei einer Zahl von fast 45.000 Toten ausgesehen? Hinzu kommt: In Gangelt blieb es bei 15 Prozent Infizierten, weil die Politiker*innen Maßnahmen eingeführt wurden. Sonst wäre die Zahl der Infizierten und Toten höher.

Natürlich kann man nicht davon ausgehen, dass sich das Virus überall in Deutschland gleich schnell wie in Gangelt verbreitet hätte. Man weiß es nicht. Das bedeutet aber auch: Mit Pech hätte es sich auch noch schneller verbreiten können. Die Todeszahlen wären in die Höhe geschossen. Es hat sich aber offenbar nicht in ganz Deutschland so schnell verbreitet.

Die Gründe dafür sind mannigfaltig und nicht alle sind bekannt. Sicher ist nur: Hätten die Politiker*innen keine Maßnahmen ergriffen, hätte es sich schneller verbreitet und es hätte es mehr Tote gegeben — das besagte Präventions-Paradox. Außerdem ist es so, dass die die Zahl der 25.000 Grippetoten aus der Saison 2017/18 eine Hochrechnung ist, die Zahl der tatsächlich nachgewiesenen Grippetoten aus diesem Jahr beläuft sich auf 1674 Fälle. In Gangelt dagegen sind die 0,37 der Erkrankten nachgewiesenermaßen an Covid-19 gestorben. #

Eigentlich sind die Zahlen der Grippetoten und der an Covid-19-Gestorbenen also nicht vergleichbar, weil bei es sich bei der einen Zahl um eine Hochrechnung handelt und bei der anderen um keine Hochrechnung, sondern um ein aus tatsächlichen Toten abgeleitetes Modell. Die Letalität von Covid-19 könnte also deutlich höher sein, als der Vergleich 25.000 zu den 44.500 aussagt. Mir hat das Rechenmodell trotzdem geholfen, zu verstehen, wie gefährlich Covid-19 ist.

Thema wechseln oder Freundschaft beenden?

Freundin P. und ich haben irgendwann das Thema gewechselt, weil der Abend ansonsten in einem Fiasko geendet wäre. Aber mich juckt es in den Fingern, ihr eine Nachricht mit diesem Rechenexempel zu schicken. Mal sehen, was sie sagt.

Wenn sie sich von diesen Zahlen nicht überzeugen lässt, werde ich das Thema vermeiden. Ich werde zähneknirschend über ihre kruden Ansichten in diesem Bereich hinweg sehen, denn sie ist mir wichtig. Aber nur bis zu einem gewissen Punkt. Wenn sie tatsächlich mit Widerstand 2020 auf die Straße geht oder zu den Hygiene-Demos nach Berlin kommt, dann beende ich die Freundschaft. Und zwar mit einer Erklärung, warum, und mit einem großen Knall.

Mit Nazis geht man nicht auf die Straße. Haltung zeigen bedeutet für tolerante Menschen auch, Intoleranz und menschenverachtende Meinungen nicht zu tolerieren. Freundin P. tut genau das, wenn sie mit den Rechten auf die Straße geht. Und sie macht sich mit ihren Methoden und Denkweisen gemein: Sie ignoriert Fakten.

Haltung zeigen ist jetzt und in anderen Krisen noch wichtiger als sonst, wenn das überhaupt geht — eben weil so vieles im Umbruch ist, weil Politiker*innen Entscheidungen unter Zeitdruck und unter Erfolgsdruck handeln.

Denn nur so ist fundierte Kritik an der Regierung möglich: auf der Basis von Fakten und mit deutlicher Abgrenzung nach rechts. Und nicht mit Aluhut und wilden Theorien, wie Attila Hildmann, Ken Jebsen und andere sie derzeit laut in die Welt rufen.

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