Ich fürchte, ich steh’ im Wald: Viele Großstadtkinder haben keine Ahnung von der Natur, sie wird ihnen zunehmend fremd. Angebote zum Wildnistraining für Kinder sollen dieser „Naturentfremdung“ entgegenwirken. Und sie machen vor allem auch sehr viel Spaß!
Mit großen Augen starrt das Reh die Kinder an. Verharrt reglos vor ihnen, nur fünf Meter entfernt. Marla (10), Sati (6) und Juri (7) halten den Atem an. Dann läuft das Tier los, hinein ins Dickicht. Und ist verschwunden, so plötzlich, wie es aufgetaucht ist.
Solche Begegnungen sind es, die die Kinder der Freien Naturschule im Stadtgut in Pankow noch tagelang beschäftigen. Einmal in der Woche sind sie mit dem Wildnis-Pädagogen Jürgen Klühr einen ganzen Tag im Wald unterwegs: Spuren lesen, Windrichtung bestimmen, Feuer machen, Kräuter sammeln. Und jedes Mal lernen sie ein bisschen mehr dazu.
Es ist ein wichtiger Bestandteil des Unterrichts an ihrer Schule.
In den vergangenen Jahren sind einige Studien erschienen, die belegen, dass den Kindern und Jugendlichen in fortgeschrittenen Industrieländern die Natur immer fremder wird, sie sich immer seltener in ihr bewegen, immer weniger über sie wissen. „Naturentfremdung” ist der Begriff dafür. In Deutschland ist das ein noch viel zu wenig thematisiertes Phänomen, im angelsächsischen Raum wird das „Natur-Defizit-Syndrom“ (englisch: „Nature Deficit Disorder“) bereits viel stärker diskutiert. In Großstädten wie Berlin können sich Kinder schon glücklich schätzen, wenn es ihre Eltern am Wochenende mit ihnen mal in die Hasenheide schaffen.
Dabei gibt es in Berlin zahlreiche Angebote für Kinder, dem Wald näher zu kommen: vom Wildnistraining, das sich von einem bis zu mehreren Tagen erstreckt, über Wald-Camps, die von den Kindern und ihren Eltern besucht werden können, bis zu Trecking-Stunden im Wald unter Anleitung reichen die Möglichkeiten.
Wenn Jürgen Klühr (44) und sein Kollege Greg Sommer (37), auch er ist Wildnis-Pädagoge, einmal wöchentlich mit den Kindern in den Wald gehen, steht am Anfang das Feuer. Auf dem Gelände der Kita Waldläufer am Waldrand von Pankow, wo sie sich vor dem Gang in die Wildnis treffen, werden die Flammen allerdings nicht mit Feuerzeug oder Streichhölzern entfacht: sondern auf die ganz alte Art per Feuerbohrer.
Das funktioniert so: Ein Holzstab wird auf weichem Holz so lange gerieben, bis dabei winzige Funken Glut entstehen. Die werden auf ein Zünderbündel geblasen. Gustav (9) und Himalay (10) haben das schon öfter gemacht – mit Nachdruck drehen sie den Bohrer im Holzstückchen. Tatsächlich, nach ein paar Minuten raucht es und erste Funken stieben. Und dann lodert es irgendwann richtig.
Die rund 20 Kinder sitzen im Kreis um das Feuer und erfahren ihre Aufgaben für den Tag im Wald: Sie sollen den Fuchsbau beobachten, die Himmelsrichtung und die Windrichtung bestimmen, Tierspuren orten. Es kann losgehen.
„Die Kinder sind zwischen sechs und zwölf Jahren alt – das ist bewusst so gelegt, damit die Größeren den Kleineren helfen können“, sagt Jürgen Klühr. Er hat einen Dreitagebart, einen aufmerksamen Blick, grüne Augen und trägt eine khakifarbene Cargohose und einen weinroten Wollpulli, den er bald auszieht. Das braune T-Shirt, das darunter zum Vorschein kommt, reicht. Am Feuer ist es warm. Und die Sonne kommt heraus.
Beim ersten Spiel, es heißt „Finde den Fuchs”, spielt Greg Sommer den Fuchs. Der gebürtige Amerikaner ist mittelgroß, hat gewellte braune Haare, ein offenes Lachen. Seit 2008 lebt er in Deutschland. Kurz erklärt er die Regeln: Ziel sei, sich so nahe unbemerkt an den Fuchs, also ihn selbst, anzuschleichen, bis man ihn berühren kann. Und er verschwindet im Unterholz. Nach einer halben Stunde schafft es ein Junge, ihn zwischen den Sträuchern aufzustöbern und am Rücken zu berühren. Der Fuchs ist gefangen.
Dann geht es in Gruppen in den Wald. Einige der Kinder dürfen nach der sogenannten „Dreier-Regel“ mit Erlaubnis der Eltern für einen kurzen Zeitraum allein im Wald herumstöbern. „Zu dritt“, erklärt Jürgen Klühr. „Wenn einem was passiert, kann eines der Kinder bei ihm bleiben, während das dritte Hilfe holt.“ Ein anderes Team wird von ihm selbst begleitet. Aufmerksam und leise bewegt sich die Gruppe durchs Gehölz. Ein Amselnest wird entdeckt, zahlreiche Suhlen von Wildschweinen, Blätter, die vom Wild angeknabbert wurden. Und auf einmal ist da das Reh, direkt vor ihnen.
Die andere Gruppe trifft auf den Welpen eines Fuchses. „Wir haben uns ganz leise an den Bau heran geschlichen“, erzählt Teo (11). „Und dann war das Fuchsjunge da. Es sah aus dem Bau und wir haben uns genau in die Augen geschaut.“ Teo ist begeistert, ein bisschen ergriffen sogar.
Dann findet Marla einen toten Vogel – oder besser das, was noch von ihm übrig ist. Ein Häufchen bläulicher Federn. „Das ist ein Eichelhäher“, sagt sie. Gemeinsam mit Greg Sommer überlegen die Kinder, wer hier Beute gemacht haben könnte. Ein Marder? Oder ein Raubvogel?
Die Kinder, die jetzt um die Federn herumstehen, haben schon eine Menge gelernt: anhand des Sonnenstands bestimmen, wo Osten oder Westen ist. Die Windrichtung erkennen. Pflanzen erkennen – und essen. Vorher gab es einen Snack aus Brennnesselblättern. Die „brennenden“ Härchen haben die beiden durch Zerreiben der Blättchen unschädlich gemacht. Jetzt knabbern Satie und Emma an ein paar Blättern Sauerampfer herum.
Das monatelange Training wirkt bereits. Die Kinder können sich im Wald lautlos bewegen. Sich orientieren. Ein paar Stunden ohne Wasser auskommen. Dieses Training bringt den Kindern den Wald näher, Stück für Stück.
„Wir brauchen wieder eine engere Verbindung zur Natur”, sagt Jürgen Klühr. „Denn wir sind ein Teil von ihr. Wenn wir diesen nicht leben, fehlt uns ein wichtiges Stück unserer selbst.”
Klühr betreibt auch die Wildnisschule Weg der Wildnis in Pankow. Dort geben Sommer und er ihr Wissen über die Natur auch an Lehrkräfte weiter: in der Jahresausbildung „Wildnispädagogik für die Arbeit an Schulen“. Seminare werden zudem ganz konkret für Männer und Jungs, Frauen und Mädchen angeboten – damit sich das Verständnis für die Natur auch Schulen und in Familien weiter verbreitet.
Dass das auch bitter nötig ist, bestätigt die Naturpädagogin Lara Jahnke vom Naturbildungsinstitut „Blattwerk”. „Kürzlich hatte ich den Fall, dass eine Abiturientin nicht wusste, was ein Waschbär ist. Sie kannte nicht mal das Wort, sondern sagte: ,Schau‘ ‚mal, da ist ja der Freund von Pocahontas’”, erzählt Jahnke. Man hört die Naturpädagogin am Telefon seufzen.
Ebenso wie „Weg der Wildnis“ bildet „Blattwerk“ Naturpädagogen aus, veranstaltet außerdem Camps und Exkursionen. In der ganzen Welt. „Wir reisen regelmäßig nach China, besuchen dort Schulen und Kindergärten. Dort haben die Kinder sogar noch weniger Bezug zur Natur als hier”, sagt Lara Jahnke. Unter anderem liege das an den Kitas „Die sind regelrecht militärisch strukturiert. Da besteht ein großer Handlungsbedarf.“
Aber auch in Deutschland läuft manches anders als gewünscht: so wie beim diesjährigen Familiencamp von „Blattwerk“, einem Wildnistraining in den Wäldern rund um Berlin. In diesem Frühjahr fand das Camp mit 200 Teilnehmer*innen zum ersten Mal auf dem Gelände der „Wildnisschule Waldschrat“ bei Müncheberg im Landkreis Märkisch-Oderland statt. Vom 27. April bis zum 1. Mai sollte die Begegnung dauern. „Am 30. April ist unser Camp dann mit der Androhung einer Räumungsklage aufgelöst worden”, erzählt Jahnke. Das Gelände sei nicht für ein Camp ausgewiesen, hieß es in der Begründung. Angezeigt worden seien sie von Unbekannt. Kinder und Eltern mussten ihre Sachen packen, die Maifeier fiel aus. Hoffentlich ein einmaliger Vorgang.
Einmal hat Lara Jahnke Kindern im Wald Tierfelle gezeigt, diese auch umgedreht. „Iiihh, das ist ja Haut“, hätten die Kinder aufgeschrien. Als Jahnke ihnen erklärte, dass daraus Leder gemacht würde, hätten die staunenden Kinder ihr das kaum glauben wollen. Sie hatten keine Ahnung, woraus Leder besteht.
Auch der Wildnispädagoge Matthias Kitzmann staunt immer wieder, wie fremd Kindern der Wald geworden ist.Für die deutschlandweit operierende Wildnisschule Wildniswissen führt er Schulklassen in den Wald. Rund 2.500 Kinder sind das im Jahr. Viele könnten sich dort nicht mal natürlich bewegen, stellt er fest. „Es gibt immer wieder Kinder, die gleich hinfallen, wenn wir mit ihnen in den Wald hineingehen“, sagt Kitzmann, der am Wildniswissen-Standort Berlin-Brandenburg in Buckow sitzt. „Die können nur noch auf geradem Untergrund laufen.” Immerhin gewöhnten sich die meisten schnell an den unebenen Waldboden.
Viele hätten auch keine Immunabwehr mehr, weil die Eltern „jedes bisschen Dreck“ von ihnen fern hielten. Ein Mädchen sei im Wald von einer Mücke gestochen worden, „das entzündete sich so sehr, dass die Lehrer den Notarzt rufen mussten“. Überhaupt wäre die große Vorsicht der Eltern ein großes Problem. „Sie haben Angst, die Kinder könnten sich beim Schnitzen schneiden, beim Feuermachen verbrennen.” Und diese Angst übertrage sich oft auf die Kinder.
Bei größeren Kindern, etwa ab der sechsten, siebten Klasse, setze zudem der Ekelfaktor ein. „Die kennen keine Nacktschnecken und kreischen, wenn sie eine sehen.“ Ein Mädchen habe sogar eine massive Panikattacke bekommen, als auf dem Waldboden eine Gruppe Spinnen krabbelte. Auch diese Ängste würden von den Eltern weitergegeben, glaubt Kitzmann. Allenfalls eine Klassenlehrerin oder ein Klassenlehrer sei in der Lage, diesen Bezug zur Natur zu stärken – und dabei Versäumnisse der Familien auszugleichen.
Denn jenseits des Ekels seien Kinder unglaublich offen für neue Eindrücke, erzählt Kitzmann. „Kürzlich fanden wir ein totes Wildschwein. Da war dann die Neugier größer.”
Aber auch in Berliner Zentrumsnähe lassen sich Kenntnisse über die Wildnis gewinnen. Zum Beispiel auf dem Tempelhofer Feld. Vor allem Vogelbeobachter kommen hier auf ihre Kosten. Über der großen Weite kreisen Mäusebussarde und Turmfalken. Die Artenvielfalt reicht von der Bachstelze bis zur Nachtigall. Und dann brütet dort natürlich die Feldlerche. Exkursionen bietet das Freilandlabor Britz an. Die Geschäftsführerin Ursula Müller sagt: „ Im dortigen Forscherzelt werden Kinder zu Wetterexperten und Vogelkundlern.“ Ausflüge in den Britzer Garten und Führungen im Stadtgebiet, bei denen heimische Wildtiere wie der Fuchs entdeckt werden, gehören auch zum Angebot des Freilandlabors.
Bereits 1983 gehörte Müller zu den Gründerinnen der Beratungsstelle „Grün macht Schule“ für kindgerechte und ökologische Gestaltung von Schulhöfen. Die 60-Jährige war auch beteiligt am Entstehen der Waldpädagogik in Berlin. „1989 reiste ich mit einigen Förstern in die Schweiz, wo im Hochgebirge die erste Waldschule eröffnet worden war.“
Inzwischen gäbe es in Berlin mehr als zehn solcher Projekte. „Kinder, die, aus welchen Gründen auch immer, nicht in die Natur kommen, besuchen wir vor Ort. Zum Beispiel in der High-Deck-Siedlung in Neukölln.“ Dort würden Spiele rund um Natur und Umwelt veranstaltet. Oft kommen die Kinder eher spontan, als dass sie angemeldet seien.
Kürzlich habe das Team mit den Kindern Müll von den Freiflächen gesammelt, ihn zu einem regelrechten Berg aufgeschichtet, erzählt Ursula Müller: „Das hat die Kinder beeindruckt.“ Und wer weiß, vielleicht landet dann die leere Haribo-Tüte nicht mehr im Gras, sondern im Mülleimer.
Schon das wäre ein kleiner Gewinn für die Natur.
Der Artikel stammt aus unserer Edition Sommer in Berlin 2019
Natürliche Adressen
Weg der Wildnis
Survivaltraining für Kinder und Jugendliche, Weiterbildung für Pädagog*innen und Naturwissen für Kinder. Wildniswochenende „Unter Männern“, vom 25.10. bis 27.10.2019. Kosten: Vater und Sohn/Großvater und Enkel: 290 € (zwei Personen) Schildower Str. 5, Blankenfelde, www.wegderwildnis.de
Freilandlabor Britz
Umweltbildungsangebote für alle Altersgruppen.
Angeleitete 1,5 Std.-Forschertour auf dem Tempelhofer Feld oder im Britzer Garten – ab sieben Jahren. Auch als Geburtstagsralley. Anmeldung drei Wochen im Voraus, unter Tel. 70 09 06-738. Preise nach Gruppengröße und Absprache. Ökolaube und Freilandlabor im Britzer Garten, Bus M 44, Haltestelle „Britzer Garten“, Parkeingang „Buckower Damm“. Sangerhauser Weg 1, Britz, www.freilandlabor-britz.de
Naturschutzzentrum Ökowerk e.V.
Ein Lern- und Erlebnisort im ältesten Wasserwerk Berlins mitten im Grunewald. „Zauberkräuter-Werkstatt“ ( Kinder, Familien, Erwachsene ) am 8. Juni, 15–17 Uhr. Kosten: Erwachsene 4 € / Kinder und Ökowerk-Mitglieder 3 € / Familien 10 € Teufelsseechaussee 22, Grunewald, www.oekowerk.de
Stiftung Naturschutz Berlin
Naturerfahrungsräume und wilde Flächen in der Stadt. „Tiere selbst beobachten. Leihen von Wildtierkameras“, unter [email protected], Preis auf Anfrage. Spieroweg in Spandau, Moorwiese in Pankow, Naturerfahrungsraum Kienberg in Marzahn-Hellersdorf, www.stiftungnaturschutz.de
Wildniswissen
Lehrgänge, Seminare und Freizeitangebote rund um das naturnahe Leben, „Klassenzimmer Natur für Schulklassen“. Zum Beispiel fünf Schulprojekttage, 60 € pro Schüler, jeweils von 8–14 Uhr im Wald um Berlin. Infos über Matthias Kitzmann, Tel. 0178-144 10 25, [email protected]
Blattwerk Naturpädagogik Berlin
Weiterbildungsangebote für Pädagoginnen und Ferienangebote für Kinder. Projekte für Kinder und Erwachsene, zum Beispiel Waldbaden und Naturmeditation. (Kinder ab zehn Jahren), nächster Termin, Stichwort „Feiern“: 18. August, 17–20 Uhr, Treffpunkt: Lehrkabinett / Parkplatz „Rübezahl“, Müggelheimer Damm 143, Köpenick. Teilnahmegebühr: 35 € pro Person. Seestr. 57, Wedding, www.blattwerk-natur.de
Waldschule Zehlendorf
Walderlebnistage, Thementage und Abendwanderungen für Kinder und Jugendliche. „Miniatur-Floßbau im Grunewald“: Di, 25.6., 10–14.30 Uhr, ab 6 Jahre. Kosten: 2,50 € pro Kind, 5 € pro Erwachsener oder 10 € pro Familie. Stahnsdorfer Damm 3, Zehlendorf, www.jibw.de
Bund-Jugend Berlin, Umweltschutz und Umweltpolitik für Jugendliche und junge Erwachsene
Treffen der Bildungsagentinnen, jeden 3. Dienstag im Monat, 19 Uhr, Einsatzorte: diverse Erich-Weinert-Str. 82, Prenzlauer Berg, www.bundjungend-berlin.de