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Wünschewagen: Wie eine Mutter aus dem Hospiz zum Abiball der Tochter gelangte

22 Wünschewagen gibt es in Deutschland. Sie sollen letzte Träume, letzte Bitten, letzte Hoffnungen von Menschen erfüllen, die nicht mehr lange leben werden. Mit dem Berliner Wagen wurden bereits 85 Wünsche erfüllt. Eine, deren letzter Traum erfüllt wurde, ist Betty. Die todkranke Frau hatte die Hoffnung, zum Abiball ihrer Tochter zu können. Bericht über ein emotionales und logistisches Projekt kurz vor einem endgültigen Abschied.

Herausforderung für den Wünschewagen: Betty will zum Abiball der Tochter – ist allerdings totkrank. Foto: Gianluca Quaranta

Projekt für Wünschewagen: Betty will noch einmal raus aus dem Hospiz

Betty ist bereit zu sterben. Sie hat Bauchspeicheldrüsenkrebs im Endstadium. Die Lymphknoten und mehrere Organe sind befallen. Das Hospiz, in dem sie lebt und sterben wird, liegt direkt am Rand des Landschaftsparks Herzberge in Berlin-Lichtenberg. Aus ihrem Fenster schaut sie auf eine Wiese, auf der manchmal Schafe grasen. Auf der anderen Seite des Backsteinhauses steht ein Wald.

Das Hospiz ist ein Ort, den man gewöhnlich nicht wieder verlässt. Nur der Körper wird irgendwann herausgetragen, um dem Feuer oder der Kompostierung übergeben zu werden. Betty will, dass das Leben für sie eine Ausnahme macht. Sie hat noch einen großen Ausflug vor. Einen Trip mitten ins Leben. An einen Ort, an dem sich ganz viele Wege trennen.

Betty will zum Abiball ihrer Tochter. Ihr einziges Kind, ihren wichtigsten Menschen an der Schwelle zum Erwachsenendasein sehen, „das ist ein guter Moment zum Loslassen“, sagt sie.

Der Wünschewagen ermöglicht Todkranken letzte Reisen

Bettys Wunsch ist ein mittelgroßes logistisches Problem. Ihr Bauch ist voller Metastasen. Eine Autofahrt im Sitzen könnte so viel Druck darauf erzeugen, dass ihr die Galle hochkommt, wenn nicht sogar der Magen reißt. Zudem braucht sie medizinische Betreuung.

Für solche Fälle gibt es in Deutschland 22 Wünschewagen. Die Wunscherfüller, ehrenamtliche medizinische Fachkräfte, fahren mit diesen umgebauten Krankenwagen, die vom Arbeiter-Samariter-Bund betrieben werden, Todkranke zu ihren letzten Wünschen. Zur Ostsee, zum Die-Ärzte-Konzert, zum Lebenspartner ins Pflegeheim zum Beispiel. Den Berliner Wünschewagen gibt es seit 2016, mit ihm wurden bereits 85 Wünsche erfüllt.

Mit Betty fahren heute Isabelle und Christian. Sie Rettungssanitäterin und Pflegerin, er Notfallsanitäter. Die Wünschewagen-Ausflüge sind spendenfinanziert. Die allermeisten haben etwas mit geliebten Menschen zu tun, Orten der Kindheit und des Glücks. „Das zeigt, was wirklich wichtig ist“, sagt Christian. Er fährt seit 2016 ehrenamtlich mit dem Wünschewagen durch Deutschland.

„Das ist gar nicht bedrückend, wie man vielleicht meinen würde, sondern sehr erfüllend. Nicht die Krankheit steht im Vordergrund, sondern der schöne Tag. Viele sind überrascht, dass sie wirklich nochmal aus dem Hospiz rausdürfen. Die Fahrgäste bringen dann oft unerwartet viel Kraft auf. Danach spüre ich keine Wehmut, aber Zufriedenheit bei ihnen.“

Betty und ihre Wunscherfüller:innen auf dem Weg in den Wünschewagen. Foto: Gianluca Quaranta

Betty will nicht mit der Transportliege im Zimmer abgeholt werden, sondern ihre Begleiter:innen auf der Terrasse des Hospizes treffen. Sie wird von ihrem Pfleger im Rollstuhl gebracht. Sie trägt schwarze Keilsandalen und einen gelben Jumpsuit. Den topmodischen Einteiler hat ihr ein Freund geschneidert, sie hat seit ihrem 30. jeden runden und halbrunden Geburtstag darin verbracht. Auch den 35., an dem sie gerade erfahren hatte, dass sie eine Tochter bekommt.

Bettys Haare sehen aus wie frisch vom Friseur. In einer diskreten Umhängetasche verbirgt sich eine Pumpe, die permanent das Schmerzmittel Hydromorphon in ihren Körper spült. Sie wirkt topfit.

Sie erzählt, wie stolz sie auf sich, aber vor allem auf ihre Tochter ist, wie gut sie beide die Zeit seit dem Todesurteil durchgestanden haben. Wie die Tochter trotz dieser Belastung Abitur gemacht hat mit der Note 2,1. Sie weint kurz.

Man sieht: eine schöne, stolze Frau. Man erlebt: eine beeindruckende Persönlichkeit.

So schick wie tapfer: Betty. Foto: Gianluca Quaranta

Dann geht es los. Betty legt sich auf die Transportliege, wird Kopf voraus in den Bauch des Fahrzeugs geschoben. Das medizinische Equipment wie Defibrillator und Sauerstoffflasche ist hinter Paneelen versteckt. An der Decke prangt ein Sternenhimmel aus blauen LEDs, das Muster des großen Wagens ist mit weißen Lichtern davon abgesetzt.

„Ich bin offen fürs Sterben“, sagt Betty. Als sie im März die Diagnose Bauchspeicheldrüsenkrebs im Endstadium hörte, hat sie sich gegen die Chemotherapie entschieden und umgehend einen Platz im Hospiz organisiert. „Ich habe keine Chemo durchgezogen, weil sich das nicht rentiert hätte. Ich dachte mir eher: Genieße die Zeit, die dir jetzt noch bleibt und mach das Beste draus.“

Nach einem tumorbedingten Magendurchbruch ist sie ins Hospiz eingezogen. „Ich wäre fast verblutet. Man hat mich in einer Not-OP zusammengeflickt. Das kann jederzeit wieder aufbrechen. Und ich will das meiner Tochter nicht antun, dass sie mich dann findet und das ihr letzter Eindruck von mir ist.“

Was passiert nach dem Sterben? „Da habe ich gar keine Vorstellung, aber schon ein paar wilde Träume hinter mir.“ Vielleicht werde sie ja in einer anderen Dimension wiedergeboren. Sie zeigt der Runde ein Bild auf ihrem Handy: zwei versonnene Außerirdische auf einem Berg. Mit Cannabis in der Hand. Sie lacht.

Eine Odyssee vom Hospiz zum Abiball

40 Minuten dauert die Fahrt durch Berlin. Sommersonntagabendverkehr. Jede Erschütterung bringt die Flüssigkeit in Bettys Bauchraum in Wallung. Bei der Ankunft in Tempelhof braucht sie erst einmal ein paar Minuten im weit geöffneten Wagen, um sich zu sammeln.

Ihr Pfleger Sascha sagt: „Man kann sich als gesunder Mensch kaum vorstellen, welche Odyssee selbst kurze Wege für Menschen in diesem Zustand sind.“ Sascha arbeitet seit 17 Jahren im gleichen Hospiz. Er sagt: „Sterben ist eine furchtbar intime Sache. Man bekommt da ganz viel Vertrauen entgegengebracht, das ist sehr schön.“

Betty ist bereit. Ihr Ausstieg aus der Seitentür des Wünschewagens, an der Hand von Sascha, geschieht erhobenen Hauptes und mit straffem Rücken. Als läge ein roter Teppich unter ihr. Dann setzt sie sich in den Rollstuhl, sammelt sich und lässt sich inmitten ihrer Entourage durch den Seiteneingang in die Columbiahalle schieben.

Drinnen: Dämmerlicht. Die Begrüßungsrede hat schon begonnen. Zwei Abiturient:innen erzählen lustige Schwänke aus der Abizeit. Davor stehen festlich gedeckte Tische, daran sitzen Abiturient:innen und Eltern in Anzug oder Kleid auf weiß verhüllten Stühlen. Betty wird an den Tisch ihrer Tochter geschoben, der am rechten Rand steht. Die beiden schauen sich tief in die Augen, dann umarmen sie sich herzlich, küssen sich. Sie hören händchenhaltend der Rede zu.

Betty und ihre Tochter und ein bewegender Moment: Der Beginn eines Erwachsenenlebens und das Ende eines anderen. Foto: Gianluca Quaranta

Die Tochter wird zu einem Fototermin gerufen und Betty muss durchatmen. Die stickige Luft in der Halle tut ihr nicht gut. Sie lässt sich vor die Tür rollen und sitzt dort wortlos in ihrem Rollstuhl. Einmal nimmt sie noch ihre ganze Kraft zusammen und lässt sich zurückrollen. Eine Weile sitzt sie noch bei ihrer Tochter. 30 Minuten nach ihrer Ankunft wünscht sich Betty, zurückgefahren zu werden. „Das war sehr schön“, sagt sie. „Ein bisschen zu kurz. Aber ich habe mitgenommen, was ging.“ Die ganze Woche hat sie gefürchtet, am Tag des Abiballs zu krank für diesen Ausflug zu sein. Jetzt hat sie es geschafft.

Ihre Tochter bleibt zurück. Neben dem Vater. Sie zieht jetzt zu ihm.

Draußen ist es noch hell. Nicht mehr ganz so heiß. „Der Wind ist schön auf der Haut“, sagt Betty. Kurz nach dem Abiball feiert sie sogar noch einmal Geburtstag. Den 54sten. Rund vier Wochen später, am 13.7.2022 schläft sie friedlich ein. Für immer.


Wünschewagen

Der Berliner Wünschewagen sucht Wunscherfüller mit Notfall- und Rettungs-Sanitätsausbildung. Kontakt für Freiwillige und natürlich letzte Wünsche: [email protected]

Spenden an: Arbeiter-Samariter-Bund LV Berlin
IBAN: DE22 1002 0500 0001 1560 01
BIC: BFSWDE33BER Bank für Sozialwirtschaft
Spendenzweck: Wünschewagen (angeben, damit die Spende im Projekt landet)


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