Thomas-Mann-Umspielung

„Stunde der Hochstapler“ im Berliner Ensemble

Das Leben als Bluff: Für Alexander Eisenach schlägt die „Stunde der Hochstapler“

Foto: JR Berliner Ensemble

Es ist eine höfliche Geste, dass das Berliner Ensemble Besucher der Inszenierung „Stunde der Hochstapler“ im Kleinen Haus am Eingang warnt, die Aufführung enthalte „laute Knalleffekte“. Bei Bedarf steht Ohropax bereit. Die akustischen und optischen Knalleffekte sind dann aber vergleichsweise harmlos. Inhaltlich knallt es dafür um so mehr in Alexander Eisenachs Versuch, seine assoziative Thomas-Mann-Umspielung „Felix Krull“, ebenfalls am BE, in die Gegenwart und zur Diagnose einer Gesellschaft der permanenten Selbstvermarktung, Selbsterfindung und konsequent subjektiver, opportunistischer Wirklichkeitskonstruktionen fortzusetzen. Welche Wirklichkeit lege ich mir zurecht und wie viele davon gibt es? Weil sich unter diesen Voraussetzungen jeder Betrachter seine eigene Realität schafft, stellt sich natürlich auch die Frage: Wer bin ich in der Wahrnehmung der Anderen, bin ich vielleicht nur ihre Imagination? Oder sie nur meine? Wer träumt hier wen? Und sind menschliche Organismen unter Gesichtspunkten der Datenverarbeitung vielleicht nur Informationsträger, biologische Datenspeicher – und das, was sie für Selbstbewusstsein halten eine Art Programmierfehler veralteter Software, Überreste alteuropäischer Subjektvorstellungen?

Große Fragen, irgendwo zwischen Medienblasenkritik, Modesoziologie und zu Science Fiction hochgetuntem Konstruktivismus. Sympathischerweise setzt Autor und Regisseur Alexander Eisenach bei der szenischen Realisierung dieses Overkills eher locker angerissener als schlüssig ausformulierter Gedankenketten nicht auf entsprechenden theatralischen Reiz-Overkill, sondern auf eine Art Jahrmarktstheater. Ein Drehbuchautor in der Krise (lustig und ohne Scheu vor Peinlichkeit: Peter Moltzen), möglicherweise ein Geistesverwandter des Autors des Abends, fragt sich, wann das angefangen hat, das Lügen und das Erfinden vermeintlicher Wahrheiten. Ein aufgekratzter Filmregisseur (Marc Oliver Schulze), möglicherweise eine Karikatur des Regisseurs des Abends, ist begeistert wie nach zwei Gramm Kokain und malt sich die Machtergreifung einer künstlichen Intelligenz aus, die die überflüssigen Menschen einfach mit einer großen Flutwelle wegspült, um ungestört ihre Algorithmen weiterzuentwickeln. Vielleicht als kleine Hommage an Kubricks „2001 – Odyssee im Weltall“, dem Klassiker des Genres Wildgewordener-Großrechner-bläst-Menschen-das-Licht-aus, gibt es einen kleinen Schlenker in die Steinzeit.

Die Herren Filmkünstler erweisen sich wenig überraschend als begabte Stumpf-Primaten; die einzige halbwegs Vernünftige am Lagerfeuer ist eine Prophetin, die gelernt hat, in Alternativen zu denken (Cynthia Micas). Aber auch das ist möglicherweise nur ein Traum. Der Träumer, der Künstler, der sich das alles ausgedacht hat, vielleicht auch nur Gott (ein eher verlebter, offenbar seit Jahrzehnten unter Schlaflosigkeit leidender Gott: Wolfgang Michael) schlurft im Schlafrock durchs Obergeschoss des sechseckigen Jahrmarktsbudenturms auf der Bühne (Bühne: Daniel Wollenzin). Er warnt die vollauthentischen Steinzeittrottel, die er vielleicht gerade träumt, vor dem, was noch kommen wird: Zivilisation, Gesellschaftsordnung, Turnschuhe mit blinkender Sohle, der ganze Quatsch. Offenbar neigt Gott zu Kulturpessimismus, vielleicht hat er zu viel Botho Strauß oder Thomas Manns „Betrachtungen eines Unpolitischen“ gelesen. Gott hat einen schweren Knall, aber immerhin ist er in Therapie bei einer tollen Schauspielerin, Cordelia Wege, die die Rätsel dieser interessant wirren Aufführung zwar auch nicht lösen, aber ihr immerhin Glanz, Freude und das Glück eines Cordelia-Wege-Auftritts bescheren kann.

Termine: Felix Krull – Stunde der Hochstapler im Berliner Ensemble Kleines Haus, 13–24 €

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