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Björn Kuhligk über die Ausstellung „Berlin im Siebdruck“


Die Ausstellung „Berlin im Siebdruck“ zeigt Arbeiten von ATAK, Jim Avignon, Mawil, Nadia Budde, Flix, Nadia Budde, Hennig Wagenbreth, Jakob Hinrichs, Jason Lutes, Reinhard Kleist, Kat Menschik und Barbara Yelin: Seit 2014 gibt der tipBerlin eine Edition mit Siebdrucken heraus, die sich thematisch mit Berlin beschäftigen. Im März 2025 werden die Arbeiten mit einer Ausstellung in der Galerie Neurotitan gewürdigt. Björn Kuhligk schreibt hier über die große Frage, wie Berlin sich eigentlich abbilden lässt.

Reinhard Kleist: „David Bowie“, 2021; Kat Menschik: „Moabit“, 2017; ATAK: „Stillleben mit Fernsehturm und Eule“, 2014

Berlin im Siebdruck: „Wir haben es hier mit Bildern zu tun, die in ihrer Unterschiedlichkeit dieser Stadt so nahe wie möglich kommen“

Wie lässt sich Berlin abbilden? Und was bitte soll denn an dieser Stadt so interessant sein? Gut, es ist die größte Stadt Deutschlands und auch noch Hauptstadt, aber auch nur, weil Bonn, also das komplette Bonn, aufgegeben wurde, was uns natürlich für Bonn leidtut, aber auch nicht lange, weil wir dringend weitermüssen. Denn wenn wir hier was müssen, dann immer weiter und zwar schnell. In Berlin ist immer alles offen, es gibt keine Dunkelheit, alles ist irgendwie aufregend, und schlafen und danach frühstücken können wir nach all den Terminen, oder wir lassen auch das einfach ausfallen.

Berlin muss aber auch mal kurz anhalten, und das macht es auf allen Bildern, um die es hier geht. Das ist das Gute an allen Bildern, ob gemalt, digital erstellt oder analog fotografiert: Die Zeit steht still und wir auch – mindestens für einen Moment – und je länger dieser Moment dauert, desto interessanter finden wir das jeweilige Bild. Und wir haben es hier mit einigen Bildern zu tun, die in ihrer Unterschiedlichkeit dieser Stadt so nahe wie möglich kommen. Stellen Sie sich folgende Situation vor: Zwei treffen sich und einer hat Kummer. Der Zeichner Flix begegnet dieser Szenerie nachts auf dem Schwedter Steg, oberhalb von allem und in der Ferne der Fernsehturm. Kurz als Erklärung: Der Fernsehturm ist enorm wichtig. Sollte er eines Tages umkippen, warum auch immer, müsste man Berlin abreißen, weil niemand mehr erkennen würde, welche Stadt das überhaupt ist.

Flix: „Andere Mütter“, 2018

Aber wieder zurück: Zwei auf der Brücke, einer hat Kummer mit der Liebe. Der eine sagt: „Du musst jetzt wieder nach vorne schauen, Keule. Andere Mütter haben auch –“ Und der andere sagt: „Halt die Fresse.“ Das ist, ich bin mir 200-prozentig sicher, ein ganz typischer, zugewandter Dialog unter Männern, klassisches Problemgespräch, auf den Punkt gebracht, nichts außendrum, sicherer Abstand, klare Sache, schnell geklärt und weiter und in der Ferne als stabiler Halt der Fernsehturm.

Es ist das Marsupilami, das oben auf der Figur der Siegessäule sitzt

Auf einem weiteren Bild von Flix sehen wir die Stadt von weit oben, und es ist nicht Otto Sander, der da steht wie in dem Film „Der Himmel über Berlin“ von Wim Wenders, nein, es ist das Marsupilami, das oben auf der Figur der Siegessäule sitzt. Jenes scheue und seltene Lebewesen, das im Dschungel eines Fantasielandes lebt und seinen acht Meter langen Schwanz zusammenknäulen und als Waffe einsetzen kann. Sollte sich eines schlimmen Tages zum Beispiel die Autolobby komplett durchsetzen oder die Bebauung des Tempelhofer Feldes beginnen, würde ich dem Marsupilami umgehend Bescheid geben.

Auch Jason Lutes hat den Fernsehturm abgebildet, davor ein Rest der Berliner Mauer, am Himmel ein Schwarm Vögel, uns entgegenkommend und eine Rundung fliegend. Es ist das Bild, das den klarsten Aufbau hat, und in dieser Klarheit entsteht eine Weite, die in den Berliner Himmel weist. ATAK hingegen bleibt innerhalb von vier Wänden, wieder der Fernsehturm – diesmal als Bild an der Wand. Es ist das farbenprächtigste Bild der Reihe. Nadia Budde hat jedem Berliner Teilbezirk einen Kiezkopf verpasst und es sieht aus, als wäre die Stadt nur von merkwürdigen und irgendwie auch freundlichen Gestalten besiedelt. „Wir wollen nicht ein Stück vom Kuchen, wir wollen die ganze Bäckerei“. Ich kannte diesen Satz schon, bevor ich seine politische Dimension begriff, dieser Satz, der über Jahrzehnte in Großbuchstaben an einer der Yorckbrücken stand.

Reinhard Kleist: „Nick Cave“, 2017

Reinhard Kleist hat die Brücken abgebildet, dahinter die nicht mehr existierende Kneipe Zum Umsteiger, an deren Wänden die Verkehrsgeschichte Berlins hing und die von einem sehr netten Ehepaar bewirtet wurde. Davor stapft uns der Musiker Nick Cave durch den Schnee entgegen. Auf einem anderen Bild von Reinhard Kleist sehen wir den Musiker David Bowie neben einem Astronauten auf der Berliner Mauer. Vielleicht ist es sein besungener Major Tom, vielleicht auch nicht, vielleicht ist es auch nicht so wichtig. Wichtig scheint, dass Bowie einfach überall stehen kann – selbst auf dem oben an der Mauer angebrachten Rundrohraufsatz, an dem die, die fliehen wollten, abrutschen sollten, und dass Bowie bereits den Rest der Grenzanlage samt Todesstreifen überwunden hat und nun, den Osten der Stadt im Rücken, nach Westen sieht. Ein Mensch, der unverwundbar ist, einer, der zu einer anderen Ordnung gehört, einer guten, anmutigen und anständigen.

„Hier rauchte Nick Cave 1984 im Regen eine Zigarette“

In den 90ern machte ich irgendwo in Thüringen eine Wanderung durch ein Waldstück, und mitten in diesem Nirgendwo stand plötzlich ein Schild: „Hier urinierte Johann Wolfgang Goethe in den Wald“. Ähnliche Schilder müssten eigentlich innerhalb von Schöneberg und Kreuzberg auch überall stehen. „Hier trank David Bowie – wir haben vergessen was, aber er trank was“ oder „Hier rauchte Nick Cave 1984 im Regen eine Zigarette“. Auch auf dem Bild von Jim Avignon wird geraucht und getrunken, aber auch gekokst und auf das Handy gesehen, und draußen fährt die U-Bahn als Hochbahn vorbei.

Jim Avignons Figuren, die ich seit Anfang der 90er Jahre kenne, sind aber nicht nur Träger von Coolness und Berlin-Hype. Sie sehen immer auch ein wenig aus wie Figuren, die die ganze Ambivalenz der Berlin-Begeisterung in sich tragen, und diese großen Münder mit den zu vielen Zähnen könnten jederzeit aufgerissen werden und sich gegenseitig fressen, oder schlichtweg diese Gegenwart fressen oder von ihr gefressen werden. Jim Avignon ist in seinen Bildern immer nah dran, er bleibt in den Details zwischenmenschlicher Aktionen oder Nicht-Aktionen.

Über Silvester, weil Berlin auch nicht immer schön genug ist, waren wir mit Freunden in der Nähe von Lübeck, auf dem Land. War es dunkel, dann war es wirklich dunkel, also komplett. Wir waren mit einem Mietauto unterwegs, und war es wirklich dunkel, also komplett dunkel, musste meine Frau fahren. Sie hatte auf dem Land das Autofahren gelernt und war damals eigentlich auch nur in der Dunkelheit unterwegs gewesen, während die Nachtfahrt, die ich für die Führerscheinprüfung absolvieren musste, darin bestand, einen Teil der hellerleuchteten Berliner Stadtautobahn zu fahren. Dunkel war es vielleicht mal, wenn wir nachts in einem Park saßen, aber dort saßen wir auch nie allein, und irgendwo war immer Licht, irgendwo war immer Berlin. Damals sah ich meinen ersten Berliner Fuchs, er sah aus wie ganz Berlin, das muss ich bestimmt nicht näher erklären, jedenfalls sah er nicht gut aus.

Kat Menschik: „Berlin Wild Life“, 2014

Daran musste ich denken, als ich das Bild von Kat Menschik sah, auf dem sie Tiere zeigt, die auch in der Stadt zu finden sind. Die Stadt scheint fast hinter ihnen zu verschwinden, sie sind die eigentlichen Bewohner, selbst die Häuser gehören ihnen. Als vor über 20 Jahren eine Rotte Wildschweine die S-Bahn von Königs-Wusterhausen nahm, am Alexanderplatz ausstieg, die Polizei nicht zuständig und überfordert war und dann schließlich ein Förster zwei Sauen in einer Kita nahe dem Alexanderplatz erlegte, dachte ich, na gut Berlin, scheiß der Hund drauf, hier geht wirklich alles, wir kommen mit allem klar. Hier steht David Bowie auf der Mauer, das Marsupilami sitzt auf der Schulter der Goldelse, die Schweine sind auf dem Alex angekommen und es gibt noch immer Menschen, die unbedingt nach Berlin ziehen wollen, naja, warum nicht, gibt Schlimmeres. Wer jung ist, hält das aus.

„Du bist verrückt mein Kind, du musst nach Berlin, wo die Verrückten sind, ja da musst du hin!“

Barbara Yelin greift den berühmten Satz „Du bist verrückt mein Kind, du musst nach Berlin, wo die Verrückten sind, ja da musst du hin!“ des österreichischen Komponisten Franz von Suppè auf. Wir sehen die Friedrichstraße hinab und Berlin scheint sich aufzutürmen, wir ahnen die Schichten der Berliner Stadtgeschichte, und wie schön, dass im Vordergrund eine ältere Person die Straße kreuzt, obgleich die nächste Ampel in Sichtweite ist. Auch sie scheint geschützt zu sein, allein durch ihre Anwesenheit und ihr Alter, und der Rest, also der Verkehr, die anderen Menschen, überhaupt die komplette Friedrichstraße haben Acht auf sie zu geben.

Jakob Hinrichs hat sich des Künstlers Joseph Beuys angenommen, denn der war sicherlich auch mal in Berlin. Alle wichtigen äußerlichen Kleidungsmerkmale von Beuys und natürlich auch alle seiner wichtigen Arbeiten sind hier durch einzelne Gegenstände aufgerufen. Jakob Hinrichs hat nicht nur aus Arthur Schnitzlers „Traumnovelle“ eine fulminante Graphic Novel gemacht, sondern auch in dem Buch „Ick hau’ Dir uff’n Kopp, bis de Läuse piepen!“ Berliner Redensarten illustriert. Könnten wir Jakob Hinrichs’ Kopf besuchen, könnten wir genau nachverfolgen, wie seine Ideen entstehen. Da wir darauf verzichten müssen, was für Jakob Hinrichs’ Kopf auf jeden Fall viel besser ist, denn wer möchte schon Besuch von uns allen in seinem Kopf haben, sehen wir uns einfach seine Bilder an – und das ist eine große Freude!

Jakob Hinrichs: „Wir alle spielen Circus Busch“, 2022 (aus der Zille-Mappe) 

Ein weiteres findet sich in einer gesonderten Mappe, in der sich Jim Avignon, Mawil, Henning Wagenbreth, Barbara Yelin und eben Jakob Hinrichs mit Zeichnungen von Heinrich Zille auseinandersetzen. Die Zeichnungen, Grafiken und Fotografien Heinrich Zilles sind in der bildenden Kunst so etwas wie das Zentrum Berlins. Das Besondere besteht darin, dass sich Zille in seiner Kunst für die prekär Lebenden, für die am Rand, für die soziale Unterschicht, für das Leben in den Mietskasernen interessierte und es abbildete. Die fünf gegenwärtigen Illustrator:innen haben sich je eines Bildes von Zille angenommen und es in die Gegenwart übertragen. Es sind ganz verschiedene Herangehensweisen: Die sehr nahe Überschreibung des Zille-Bildes „Kinder der Straße“ auf die Jetzt-Zeit von Jim Avignon, die ein wenig suggeriert, dass sich eigentlich gar nichts verändert hat, bis zu dem eigensinnigen, kraftvollen und farbigen Strich von Barbara Yelin, der fast einer Übermalung gleichkommt, denn die Vorlage hierfür war die mit dem Titel „Bahnhof Alexanderplatz-Berlin“ versehene Kohlezeichnung.

Der Siebdrucker Jens-Uwe Clauß in seinem Shining-Labor. Foto: privat

Seit 2014 gibt der tip-Redakteur Jacek Slaski, der sich die ganze Sache ausgedacht hat, die limitierte und signierte Edition heraus. Alle Illustrationen sind von Jens-Uwe Clauß, der in der Kastanienallee die Druckerei Shining-Labor betreibt, im Siebdruckverfahren hergestellt worden, einer Technik, bei der die Farbe mit einer Rakel aus Gummi auf das Papier aufgetragen wird. Eine Rakel besteht, ganz einfach gesagt, aus einer Platte und einem Griff. Wahrscheinlich sollten die beiden dafür den Verdienstorden des Landes Berlin erhalten, aber was macht man eigentlich mit so einem Ding? Vielleicht läuft man damit ein paar Tage gutgelaunt herum und lässt sich von anderen fragen, was man da eigentlich Tolles an der Jacke hat, auch gut. Aber ernsthaft: Solange es solche Menschen in dieser Stadt gibt, hat Berlin noch eine reelle Chance, weiterhin aufzufallen, auch wenn der Fernsehturm längst umgefallen ist.

Wie also lässt sich Berlin abbilden? Ikonografisch? Situativ? Alltäglich? Mit klarem Strich?

Nun aber ganz zurück zu der Anfangsfrage. Wie also lässt sich Berlin abbilden? Ikonografisch? Situativ? Alltäglich? Mit klarem Strich? Welche ästhetischen Mittel wende ich an und warum, um was zu erzählen? Vielleicht ist die Frage auch ein bisschen egal, wenn Sie nicht gerade irgendetwas studieren, was mit Bildgestaltung und ästhetischen Fragestellungen zu tun hat. Machen wir es doch so: Sie holen jetzt einfach mal ihr Handy aus der Tasche und drücken, ohne hinzusehen, ab. Berlin wird schon drauf sein. Und wenn es auch nur Ihre Wohnung ist, egal. Auch die, glauben Sie mir einfach, sieht nach Berlin aus. Das Foto wird höchstwahrscheinlich nicht so gut werden, aber für diese Stadt reicht es. Wer mehr von der Kunst möchte, hängt sich einen oder mehrere der Siebdrucke in die Wohnung. Limitiert, signiert und mit Liebe gedruckt. Die Wohnung wird dann noch schöner – ich weiß es.


Zum Autor: Björn Kuhligk wurde 1975 in Berlin geboren. Er schreibt Lyrik und Prosa und veröffentlichte zahlreiche Bücher sowie Beiträge in Anthologien. Kuhligk erhielt zahlreiche Preise und Stipendien. Unter anderem erschienen von ihm „Wir sind jetzt hier. Neue Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ (2014, gemeinsam mit Tom Schulz) und zuletzt das Langgedicht „An einem Morgen im März“ (2023) sowie die „Berlin-Beschimpfung“ (2024), illustriert von Jakob Hinrichs. 


Berlin im Siebdruck – Ausstellung

  • Neurotitan Shop & Gallery Rosenthaler Str. 39, Mitte, Mo–Sa 12–20 Uhr, 8.–22.3., Eintritt frei
  • Eröffnung: Fr 7.3., 19 Uhr (Live: Tango Bravo + Grateful Cat)
  • Finissage: Sa 22.3., 20 Uhr (Live: Mazookas)
  • Mehr über die Ausstellung „Berlin im Siebdruck“ lest ihr hier
  • Ein Radiointerview über die Ausstellung mit Jacek Slaski, Kurator und tip-Redakteur, könnt ihr hier auf FluxFM hören, ein Gespräch mit Jacek Slaski und Jens-Uwe Clauß auf Radioeins hört ihr hier

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