Ob Musiker, Maler, Bildhauer oder Dichter – sie alle brauchen Inspiration. Auguste Rodin hat diesem Thema 1896 eine Skulptur gewidmet: Der Held, oder auch „Der Mensch und sein Genius“ aus dem Jahr 1900. Wir sehen einen Mann, der an einem Felsen lehnt. Aus seiner Schulter wächst eine weibliche Figur ohne Kopf und ohne Arme. Fliegt sie etwa weg, wie ein großer Flügel andeuten mag? Sie verkörpert den Genius, beflügelt die Inspiration. Diese kann schnell wieder verschwinden, das weiß jeder Künstler.
„Mit dem Symbolismus zur Jahrhundertwende geriet die Vorstellung vom Künstler als Genie ins Wanken“, sagt die Kuratorin der Ausstellung, Maria Obenaus, „davon erzählt die Skulptur.“ Ein Thema, das geradezu vortrefflich zu Rodins bewusst unvollkommenem, flüchtigem Stil zu passen scheint. Vor allem zwei Schriftsteller ließen sich von Rodins Statue inspirieren: Der deutsche Dichter Rainer Maria Rilke, der 1905 bis 1906 als Rodins Privatsekretär arbeitete und sein Gedicht „Nike“ dem Kunstwerk widmete.
Zwanzig Jahre lang zierte sie den Schreibtisch des Dichters Hugo von Hoffmannsthal. Nach dem zweiten Weltkrieg musste Hoffmannsthal die Kleinplastik verkaufen. Rilke vermittelte beim Verkauf an den Schweizer Sammler Werner Reinhart, von dort gelangte sie später in die Sammlung der Nationalgalerie. Am 17. November, dem 100. Todestag des französischen Bildhauers, öffnete die Alte Nationalgalerie eine kleine, konzentrierte Ausstellung, in deren Zentrum die 40 Zentimeter kleine Bronzefigur steht. An eben jenem Tag führte uns die Kuratorin selbst durch die Schau, die bei den französischen Impressionisten untergebracht ist – so stehen die Skulpturen zwischen Claude Monets Sommer und dem Wintergarten. Aber auch Briefe, Schriften und Fotografien aus den Nachlässen Rilkes und Hofmannsthals sind zu sehen, die noch einmal einen neuen Blick auf Rodins Werk erlauben.
Drei Jahre haben die Vorbereitungen gedauert. Dass die Eröffnung am 100. Todestag stattfinden konnte, stimmt Kuratorin Maria Obenaus froh.
Text: Kirsten Niemann