Caspar Davis Friedrichs „Wanderer über dem Nebelmeer“, gemalt um 1817, ist das zentrale Werk der Ausstellung. In Siegerpose steht er auf dem Gipfel, einen Fuß vorgestellt, den Wanderstock in die Hüfte gestemmt.
Wir sehen ihn von hinten, denn er genießt das Gebirgspanorama, wo gerade der Nebel über den schroffen Felsen liegt. Schon lange hatte sich Birgit Verwiebe, Kuratorin an der Alten Nationalgalerie Berlin, mit dem Gedanken getragen, eine Ausstellung zum Wandern zu machen. Doch erst als klar war, dass dieses Gemälde als Leihgabe der Hamburger Kunsthalle nach Berlin kommen würde, hat sie ihr Vorhaben zusammen mit dem Kurator Gabriel Montua umgesetzt.
Die Bergsteigerin und das Frauenwahlrecht
Gabriel Montua war dann auch unser „Wanderführer“ bei dieser ZITTY ART präsentiert von Mastercard Priceless Berlin. Startpunkt für den Rundwanderweg ist eine zweite großartige Leihgabe, die 1912 entstandene „Bergsteigerin“ von Jens Ferdinand Willumsen, die aus Kopenhagen kommt. Auch die Bergsteigerin hat, wie Friedrichs Wanderer, einen Gipfel erklommen. Auch sie stützt sich auf den Wanderstock. Aber sie ist als Frau ein Novum. Erst Ende des 19. Jahrhunderts gab es auch weibliche Spaziergängerinnen, die für würdig befunden wurden, ohne Männerbegleitung das Hauptmotiv eines Gemäldes zu sein. Dass bei Willumsen nun eine Frau als stolze Bergbezwingerin auftritt und derart selbstbewusst in die Landschaft schaut, wäre ohne die Emanzipationsbewegung nicht möglich gewesen und weist voraus auf die Einführung des Frauenwahlrechts in Dänemark 1915.
Es hat sich gesellschaftlich wahnsinnig viel verändert in den gut 100 Jahren, die diese hervorragend kuratierte Ausstellung umfasst. Mit Gletscherbildern in den Alpen beginnt sie, naturalistische Landschaftspanoramen im Stile der 19. Jahrhunderts, irgendwo klein ist in ihnen auch der Mensch zu sehen. Mit dem Aufkommen der Naturwissenschaften sowie mit der Verbreitung der Schriften von Philosophen wie Rousseau und Burke, bei denen die Naturerfahrung (in unterschiedlicher Form) zentral ist, wird das Sujet ab 1800 auch für die Maler interessant. Thematisch sind die Räume der Schau geordnet. Beispielsweise ist dem Wandern ist als Sinnbild für den menschlichen Lebensweg, insbesondere im Motiv der Pilgerreise, ein großer Bereich gewidmet. Da passt dann auch diese Sonderausstellung wunderbar zu den Gemälde, die dauerhaft zu sehen sind, so wie Caspar David Friedrichs „Mönch am Meer“ oder sein „Riesengebirge“.
Die Freiheit des Künstlers
Die Italiensehnsucht ist ein anderes Thema der Schau, ebenso wie das Narrativ des Künstlers als freiem Wanderer. Auch da ist es wieder eine Leihgabe, diesmal aus Montpellier, die allein schon den Weg in die Alte Nationalgalerie lohnt: Gustave Courbets „Die Begegnung oder Bonjour Monsieur Courbert“, 1854. Courbet stellt sich als Wanderer dar, der er auf seinen von einem Diener begleiteten Mäzen Alfred Bruyas trifft – wobei der von der Sonne beschienene Maler sein Bündel mit Arbeitsgerät scheinbar mühelos auf dem Rücken trägt, den Kopf reckt und extrem selbstbewusst auftritt (was für viel Spott unter den Zeitgenossen sorgte).
Das letzte Exponat der Ausstellung ist eine Skulptur von Ernst Barlach, der „Wanderer im Wind“ 1934. „…statt römische Armgesten zu vollziehen, ziehe ich den Hut in die Stirn“, schrieb Barlach dazu in einem Brief. Hitler war seit einem Jahr an der Macht, die Erfahrung des 1. Weltkriegs lag hinter dem Künstler. Das Wandern, im 19. Jahrhundert noch Sinnbild für den freien Schritt und die freien Gedanken, hatte nach dem Einmarsch in Frankreich seine Unschuld verloren. „Doch wir wollten nicht auf diesem bitteren Ton mit der Ausstellung enden“, sagte Gabriel Montua. Deshalb bildet Willumsens „Bergsteigerin“ nicht nur den Start, sondern auch den Abschluss der „Wanderlust“. Eine höchst sehenswerten Ausstellung – und tatsächlich die erste – kaum zu glauben , wenn man sieht, wie überzeugend die Schau in der Alten Nationalgalerie funktioniert –, die das Thema Wandern in den Mittelpunkt stellt.
Text: Stefanie Dörre