Wenn man Mark Reeder, 61, mit seiner runtergerockten Ray Ban Sonnenbrille sieht, den stilechten Dr. Martens Stiefeln, vor allem aber den lässigen schwarzen Pumphosen und diesem schelmischen Lächeln, das zu seiner jungenhaften Haut passt, ahnt man schnell: Der Typ ist eine verdammt coole Socke. Der wird schon gut was erlebt haben.
Alle, die seinen Dokumentarfilm „B-Movie: Lust & Sound in West-Berlin 1979–1989“ von 2015 gesehen haben, wissen: Der Typ aus Manchester, den es 1978 mit zwanzig Jahren nach Berlin zog, kennt sie alle: Er hat das einzige Berlin-Konzert von Joy Division organisiert. Nick Cave hat bei ihm gewohnt. Er war in David Bowies Wohnung geladen. Er hat die Toten Hosen nach Ost-Berlin gebracht und die New-Wave-Band Malaria! rund um Gudrun Gut und Bettina Köster aufgenommen und gemanagt. Im Grunde genug Anekdotenstoff für mindestens ein Dutzend Leben oder ein Hollywood-Drehbuch.
Ja, mit so einem will man durch Schöneberg streifen! Vom Café Einstein geht’s beim Event Berlin mit Berlinern präsentiert von Mastercard Priceless Berlin, über den Nollendorfplatz, und Reeder gerät rasch ins Reden: Im Neuen Schauspielhaus, dem markanten Gebäude direkt am Platz, hauste bis 2014 die Diskothek namens Goya; aber zur wilden Zeit hieß der Laden Metropol – und war auch berühmt für seine Konzerte. Depeche Mode etwa haben hier gespielt. Reeder schwärmt von Gay Disco und Hi-NRG. Von hier aus ist man schnell in der Nollendorfstraße 17, wo der englische Schriftsteller Christopher Isherwood (1904-1986) 1930 einzog und bis 1933 blieb, als die Nazis die Macht übernahmen. Isherwood erlebt ja schon seit einer ganzen Zeit ein Revival: 2009 verfilmte der Modedesignstar Tom Ford Isherwoods späten Roman „A Single Man“, oscarnominiert. Auch befeuert durch die Serie „Babylon Berlin“, die zur gleichen Zeit spielt wie Isherwoods frühe Berlin-Werke, ist aber auch der Berliner Episodenroman „Goodbye to Berlin“ wieder gefragt, zumal er gerade in neuer deutscher Übersetzung vorliegt. Reeder sieht das so: „Für junge Menschen heute sind diese Werke wie Spiegel, in denen sie Parallelen zum Berlin der Gegenwart sehen.“ Junge Menschen, ja, Reeder klingt, selbst wenn er schon in den 1970ern überall dabei war, selbst wie ein junger Mensch – weil er sich einen offenen Blick und Begeisterung bewahrt hat.
Am liebsten wäre man dabei gewesen, als Mark Reeder sich 1978 zum ersten Mal in seine prachtvolle Marmorbadewanne legte. Im besetzten Haus in der Winterfeldtstraße. Strom und Gas gingen noch, eine Weile lang zumindest. Reeder findet: „Solche Häuser würden heute ohne die Hausbesetzer nicht mehr stehen. Der Stadtbausenator damals wollte nur Neubauten. Ästhetisch schön.“ Er schmunzelt und weist auf einen besonders hässlichen Nachkriegsbau. Man erfährt allerlei Insider-Anekdoten, etwa dass die laut Reeder beste Szene aus seiner Doku „B-Movie“ vom Verleih keine Freigabe bekam, weil man darauf das Gesicht eines Polizisten identifizieren konnte, der eine Nebelgranate in Richtung eines Hausbesetzers warf. Der das filmte. Kamera, Action!
Ja, hier am Winterfeldtplatz residierte bis 1978 auch, wo heute das Slumberland haust, die Eckkneipe Dschungel, die danach als Edel-Punk-Disco mit strenger Tür in der Nürnberger Straße wiedereröffnete. David Bowie war gerne da und sang 2009 im Song „Where Are We Now“ auch viele Jahre später noch davon. Im Café M., einst Mitropa, soffen Blixa Bargeld und Nick Cave ganze Nächte lang. Hier geht die Reeder-Tour vorbei, über die Akazienstraße (Reeder spricht derweil davon, dass er als einziger Mann von den Malaria!-Mädels akzeptiert wurde, weil er ihnen niemals in den Sound reingequatscht hat) bis zur Hauptstraße, der Ex-Wohnung von David Bowie. Hier wird es ganz andachtsvoll. Hier liegen Blumen. Einer der Tour-Gäste kam sowieso mit einem Bowie-Rucksack. Ja, in was für einem Designer-Prachtbau mag Bowie gewohnt haben? Mark Reeder, der die Wohnung von innen kennt, betont: Nee, Bowie hat in ganz einfachen Verhältnissen gewohnt. Das hat ihn, nach seinem Kokain-Jetsetleben, zurück auf die Erde gebracht, ihm Haftung und Halt gegeben, diese Berliner Arbeitergegend, die ihn ans England seiner Kindheit erinnert haben muss. Trotzdem war Bowie natürlich ein Freigeist, hing gern im Café Anderes Ufer rum, einem der ersten schwulen Cafés Deutschlands.
Hier nimmt der Trip mit Reeder auch sein Ende, bei Mozza-Sticks, Mimosa, Bowiebildern, Gesprächen über die wilden Siebziger. Reeder verabschiedet sich bei allen persönlich, per Handdruck und diesem jungenhaften Lächeln, der nur ahnen lässt: Auch in zwanzig Jahren wird Reeder noch in Berlin sein und Menschen von seiner Stadt erzählen, von Techno, den er geprägt hat, und auch von unserer Zeit, die den Menschen dann sicher weit weg und doch seltsam vertraut vorkommen wird – so wie uns eben jene Zeit, als Reeder eine Marmorbadewanne hatte, Joy Division in die Stadt holte und der Sound ein Desaster gewesen sein muss. Aber hey, der Abend ist eine Legende.
Text: Stefan Hochgesand
Fotos: Sarah Bergmann