Wenn du Ton-Techniker bist, bist du für alle Töne zuständig. Du drehst nicht nur an den Reglern, drückst nicht nur die richtigen Knöpfe. Du haust dich auch selbst rein. Mit deiner Stimme. Volle Kanne. So ist das im Zelt am Kanzleramt.
Im Tipi ist die Show des Abends, „The Return of the Fabulous Singlettes“, gerade mal eine gute halbe Stunde alt, die drei Damen mit diesen unfassbaren Frisuren auf der Bühne gerade sind gerade beim 60s-Klassiker „When you walk in the room“ von Jackie DeShannon angekommen, den ganz viele Bands irgendwann mal gecovert haben. Es naht der finale Chorus. Das geneigte Publikum solle doch bitte mitsingen. Jetzt.
Und der Tontechniker, ganz hinten, ganz oben, mit dem besten Überblick von allen, der Techniker, der Daniel Selinger heißt, steht auf, und sein Licht-Kollege Sven Herzel, der neben ihn ist, steht auch auf, und beide singen aus voller Kehle drauflos: „WALK IN THE ROOM!“ Und lachen dabei. Doch, die haben ihren Spaß.
„Das sind wirklich echte Cracks“, hat Fine Winkler, Abendspielleiterin im Tipi, eine Stunde vorher gesagt. Da haben sich die Teilnehmer der tip-Backstage-Führung gerade an das schwankende Klima im Tipi am Kanzleramt gewöhnt. Es gibt keine Klimaanlage, nur eine Heizung. Ein mächtiges Gebläse pustet warme Luft ins Zelt. Ein paar Gehmeter ist es wonnewarm, dann kommt von irgendwoher ein kühler Luftzug um die Ecke.
Aber nicht nur die Temperaturregulierung ist in einem Zelt ziemlich tricky. Alles wird zur Herausforderung. Das Licht, der Sound – oder auch nur der Weg raus zu den Containern unter Pagoden rund um das Zelt, wo die Leitung residiert, wo die Werkstätten sind, zu denen ein holperiger Trampelpfad führt. Hintenrum geht es durch eine Tür, auf der „Bühne“ steht, in die Garderobe. Dort bereiten sich, vor rot drapierten Wänden, die drei Performerinnen des Abends auf die Show vor: Die australischen Künstlerinnen Naomi Eyers, Gina Hogan und Melissa Langton sind nach einigen Jahren „The Fabulous Singlettes“ zurück in der Stadt – und werden sich am Abend mit fabulösen Hochsteckfrisuren mit vielen Klassiker-Hits von den 50er- bis in die 80er-Jahre vorarbeiten. Mit einer fünfköpfigen Live-Band im Rücken.
Seit 17 Jahren steht das Tipi-Zelt direkt neben dem Kanzleramt, dieser Bundeswaschmaschine, am Großen Tiergarten. Lage, Lage, Lage. Einmal nur musste es um 50 Meter versetzt werden. Eigentlich ist es auf typisch berlinerische Art entstanden: Es gab etwas zu Feiern. Die Bar jeder Vernunft, 1992 von Lutz Deisinger und Holger Klotzbach auf dem Parkdeck der heutigen Akademie der Künste in Schöneberg erfunden, brauchte ein Partyzelt für die große Sause zum zehnten Geburtstag. Und stellte das Zelt dort auf, wo vier Jahre vorher ein anderes Zelt, das Tempodrom, abgebaut werden musste. Da blieb es dann stehen. Bis heute. Die künstlerische Leiterin Franziska Keßler sagt: „Wie das in Berlin so ist: Die Provisorien halten am längsten.“
Die Bar jeder Vernunft ist längst eine Institution für Musikkabarett, für Kleinkunst, „oder wie wir es gerne nennen: Feinkunst“, sagt Keßler. Viele große Karrieren begannen hier. Die Geschwister Pfister, Max Raabe, Pigor & Eichhorn, Tim Fischer. „Eckart von Hirschhausen kam nachts immer von der Charité rüber“, sagt die Pressesprecherin Sabine Wenger.
Und so manche Künstler treten immer noch gern hier auf. Lutz Deisinger, erzählt Keßler, sei künstlerisch für die Eigenproduktionen zuständig, zuletzt „Frau Luna“, eine neue Eigenproduktion für den Herbst werde gerade entwickelt, „Die fünf glorreichen Sieben“ unter anderem mit Katharina Thalbach und Meret Becker, „da sind wir schon ganz hibbelig“. Sie selbst kümmere sich um die Gastspiele. Denn man arbeite ohne öffentlich Förderung. Alles Geld, das ausgeben wird, müsse selbst verdient werden.
Und dann macht die Besuchergruppe bei dem Licht- und Ton-Technikern Station, die sich, noch ist immer noch eine knappe Stunde bis zur Showtime Zeit, an ihren Reglern und Knöpfen vorbereiten. „Das sind meine beiden Pulte“, deutet Licht-Experte Sven Herzel vor sich. „Ich habe nur eins“, grinst der Ton-Kollege Daniel Selinger.
Seit 15 Jahren sind die beiden ein Team, nicht nur im Tipi, sie gehen mit so manchen Künstlern auch auf Tour. Cracks eben. „Wir kommen in der Endproduktionsphase zur Probebühne“, erzählt Selinger. „Dann sitzen wir mit dem Laptop da und programmieren die Licht- und Tonstimmungen.“ Bei den Singlettes, erklärt Herzel, sei der wechselnde Sound eine Besonderheit für ihn. „In den 50er Jahren war er noch nicht so basslastig. Wenn es aber in die 80er geht, hat das schon mehr Karamba.“
Ein Besucher der Führung fragt: „Bei wem liegt der Jingle mit Otto Sander?“
Selinger grinst: „Der liegt bei mir.“
Der Besucher: „Den hätte ich gern. Das ist der Klassiker.“
Sieht aber schlecht aus für den Wunsch.
Die Stimme des 2013 verstorbenen Schauspielers hallt noch immer vor jeder Show durch das Zelt. So auch jetzt. Und dann geht die Show los, die drei Singlettes-Damen singen und tanzen sich durch die Jahrzehnte, „We are not going to leave Berlin as Singles“. Frech, frivol, flirty. Fantastisch.
Und sehr bald singen alle im Zelt mit: „Everytime when you walk in the room.“ Von den Tischen ganz vorn bis zum Techniker-Tandem ganz hinten, ganz oben.
Text: Erik Heier
Fotos: F. Anthea Schaap