Berlinale 2018 – Forum

Volksvertretung

Marie Wilke beobachtet die Demokratie: Aggregat zeigt das Deutschland von heute

In den 90er-Jahren gab es einmal eine kleine Kontroverse um ein Kunstwerk von Joseph Beuys, das ein paar Abgeordnete für den Bundestag kaufen wollten. „Tisch mit Aggregat“ wurde als „Sperrmüll“ verunglimpft, die Ausgaben für den Ankauf als Verschwendung diskreditiert. Heute steht der Tisch vor dem Plenarsaal, und niemand macht mehr großes Aufheben darum.

Aggregat
Fotos Kundschafter Filmproduktion

Für Marie Wilke ergab sich aus dem Werk eine Assoziation, die ihr zu einem Titel für ihren neuen Film verhalf: „Aggregat“ handelt von der Demokratie in Deutschland in Zeiten, in denen es dem Land sehr gut geht, in denen aber doch viele Menschen das Gefühl einer Krise haben. Das trifft dann oft die Politiker, denen vorgeworfen wird, sie wären abgehoben. „Fremdkörper“, sagt ein Mann, das Parlament kommt ihm „abstrakt“ vor. Bei Marie Wilke ist nichts abstrakt, ihr Film ist ganz konkret. „Ich beschäftige mich schon länger filmisch mit der Demokratie. Nun ging es mir darum, etwas zu umkreisen, was man schwer fassen kann, weil es ja ganz gegenwärtig ist, zugleich aber auch schon historisch zu werden beginnt. Ich habe versucht, einen Schritt herauszutreten“, erzählt Wilke bei einem Treffen in einem Café in Mitte, wo die gebürtige Schönebergerin nun auch lebt.

Marie Wilke
In Bozen hat Marie Wilke den Dokumentarfilm für sich entdeckt, unter anderem durch eine Begegnung mit Klaus Wildenhahn. In Berlin ging sie an die UdK, wo sie „Experimentelle Medien­gestaltung“ machte und auf Heinz Emigholz und Harun Farocki traf. „Ich war aber auch zehn Jahre an der Filmuni Babelsberg und habe mich dort mit der DEFA-Tradition auseinandergesetzt.“
Foto: Foto: Klaus Lueber

In ihrem Film „Staatsdiener“ (2015) sammelte sie Beobachtungen in einer Polizeischule in Sachsen-Anhalt, nun beschäftigt sie sich mit dem Komplex der Volksvertretung. Mittelfristig soll das auf eine Trilogie zum Thema Demokratie hinauslaufen, mit einem dritten Film über die Justiz. „Aggregat“ macht da schon einmal einen hochinteressanten Mittelteil, denn man sieht hier, wie Deutschland mit sich selbst spricht, wie Abgeordnete mit ­Leuten sprechen, wie Demonstranten auf das System einsprechen, wie Journalisten von Vorgängen berichten – und Marie Wilke ist tatsächlich häufig in der Position einer Beobachterin, die „einen Schritt zurück“ gemacht hat.

Der distanziert anmutende Gestus der Beobachtung in „Aggregat“ macht Sinn: „Ich bin insgesamt nach diesen Dreharbeiten weder optimistischer noch pessimistischer, sondern differenzierter ­geworden“, sagt Marie Wilke. Tatsächlich lernt man mit „Aggregat“ eine demokratische Grundtugend: Geduld. Man kann lernen, genau zuzuhören und so lange hinzusehen, bis man etwas herausgefunden (und nicht einfach die vorgefasste Meinung bestätigt hat). Das sind Tugenden, die Marie Wilke nun auf einem neuen Feld erproben will: Für das ZDF arbeitet sie gerade an einem Serienprojekt aus dem Bereich „True Crime“.

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