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Psychologie und Stadt

Wie hochsensible Menschen in Berlin leben

Berlin ohne Filter: Hochsensible Menschen nehmen ihre Umwelt unmittelbarer, aber auch schmerzhafter war als andere Menschen. Bilder, Klänge, Gerüche. Wie lebt es sich mit dieser Eigenschaft in einer Großstadt wie Berlin?

Foto: David von Becker

Manchmal macht sie einfach die Tür zu und lässt die Welt draußen. Komplett. Sie schaltet ihr Handy ab, deaktiviert Facebook, der Fernseher bleibt aus und das Radio stumm. Es kommt vor, dass sie dann einfach nur dasitzt. An die Wand starrt. Lange. Wenn es ihr besser geht, macht sie Yoga. Oder geht mit einem Buch in den Park.

Sonst hält sie die Stadt in diesen Momenten einfach nicht aus.
Emma U. *, 37, Kreuzbergerin, ist hochsensibel. Als hochsensibel gelten – sehr kurz gefasst – Menschen, die zu viele Eindrücke aufnehmen und sie gleichzeitig schwerer verarbeiten können. Nach Forschungen der Universität von Kalifornien, Santa Barbara, sollen weltweit 14 Prozent davon betroffen sein, die Dunkelziffer liegt vermutlich höher.
Das Telefonklingeln nimmt dann die Stärke einer Sirene an, in Menschenmengen erfasst diese Menschen Panik. Und wenn jemand im in ihrer Wahrnehmung falschen Ton „Hallo“ zu ihnen sagt, klingt das für sie wie eine Beleidigung. Bilder, Klänge, Gerüche – alles stürmt ungefiltert auf Hochsensible ein.

In einer Großstadt wie Berlin potenzieren sich die Reize. Es ist ein Phänomen unserer Zeit. Informationsoverkill, Datenflut, urbanes Geräuschwirrwarr. Und immer irgendwo jemand, der sein Handy anbrüllt. Wie lebt es sich als Hochsensibler in Berlin?

Emma ist eine zierliche Frau mit schwarzer Mähne. An einem Sommerabend ist sie zum Gespräch in eine Pizzeria im Graefekiez gekommen, sitzt an einem der Tische auf dem Bürgersteig. Autos sieht man kaum, neben dem Tisch duftet ein Blütenstrauch. Eine gute Atmosphäre für einen Menschen, der alles aufnimmt, sich leicht gestört fühlt.

Schon als Kind, sagt sie, habe sie gespürt, dass sie anders sei als andere Kinder. Sie habe sich damals schon Dinge zu Herzen genommen, viel Zeit für sich gebraucht. „Und ich konnte die Knallerei an Silvester nicht ausstehen, hielt mir die Ohren zu – obwohl das ja damals in einem viel geringeren Ausmaß war als heute.“ Inzwischen flüchtet sie regelmäßig schon Tage vor Silvester aus Berlin.

Dr. Stefan Röpke

Beim Leben in einer oft chaotischen Stadt wie Berlin müssen sich Betroffene Inseln schaffen: in eine ruhige Straße ziehen, das Schlafzimmer in Richtung Hof legen. Das rät der Professor Stefan Röpke, Oberarzt an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Charité am Hindenburgdamm. Er befasst sich schon seit einigen Jahren mit Hochsensibilität. „Es tut gut, bewusst auf positive Reize zu fokussieren – in Konzerte oder raus in die Natur gehen. Alles tun, was das positive Erleben verstärkt“, sagt er am Telefon. Das setze nicht zwingend Stille voraus. „Es geht um die Freude, die ausgelöst wird.“ Der Rat anderer, sich ein „dickeres Fell“ zuzulegen, funktioniere nicht: Hochsensible erlebten die Welt auf ihre Weise. Abstellen lässt sich das nicht.

Mitte der 90er-Jahre begann die amerikanische Psychologin Elaine Aron in Kalifornien mit ihren Forschungen zum Thema Hochsensibilität. Sie fühlte sich selbst betroffen. Inzwischen sind ihre Forschungen weltweit an Universitäten und Kliniken angekommen. Ob man selbst hochsensibel ist, lässt sich im Internet in vielen Tests erfragen. Zum Fragen-Katalog gehört, wie Stress, Lärm und Gefühle empfunden werden. Oder wie sich Musik auswirkt und ob Streit mit dem Partner noch lange nachhallt.

Hochsensibilität sei keine Krankheit, sagt Psychiater Röpke. „Viel eher ist Hochsensibilität ein Persönlichkeitsmerkmal.“ Dafür müssten drei Komponenten zusammen kommen: eine niedrige Reizschwelle, schnelle Erregbarkeit und das Gefühl, überbelastet zu sein. Aber auch „große Freude an positiven Stimuli“ wie Musik, Kunst oder Sinnesreizen.

Auch subtile Reize zu empfinden, die andere nicht wahrnehmen, gehöre dazu. Genau festgelegt werden könne das Phänomen aber nicht. Denn es handele sich, wie Röpke anmerkt, um ein „Spektrum“. Das bedeutet, dass die Sensibilität sich bei jedem Betroffenen anders auswirken kann.
Krank machen könne Hochsensibilität nur dann, wenn sie gemeinsam mit anderen Erkrankungen auftrete, sagt Röpke. Zum Beispiel mit einer Depression, einer bipolaren Störung oder einer Angststörung.

Hochsensibilität könne eine Depression verstärken. Oder zu einer führen, wenn der Druck größer wird. „Hilfe suchen sollte man sich, wenn es im Beruf oder der Familie massive Schwierigkeiten gibt.“ Dann sei der Gang zum Neurologen oder in eine Selbsthilfegruppe angebracht.

Auch wenn Emma U. zu Silvester aus der Stadt fliegt: Sie liebt, wie sie sagt, „besonders Kreuzberg, sonst wäre ich ja nicht schon so lange hier“. Seit 2003 lebt sie in dem Stadtteil. Mitterweile arbeitet sie in einem Studio für Lampen- und Leuchtkörper. An Kreuzberg schätzt sie den Wechsel zwischen Lebendigkeit und Ruhe. Zwischen Parks und wuseligen Kiezen. Sie lebt in einer Seitenstraße mit alten Bäumen, hat einen Balkon.

Mit 13 las Emma zum ersten Mal über Hochsensibilität und dachte: „Mein Gott! Das trifft ja alles auf dich zu!“ Heute glaubt die Designerin, dass ihre hohe Sensibilität sich auf alle Bereiche ihres Lebens auswirkt – im Guten wie im Schlechten. „Das betrifft alle Wahrnehmungsebenen. Lautstärke, Gerüche, Situationen. Aber auch Situationen, die nur in der eigenen Fantasie existieren, weil sich die verstärkte Wahrnehmung da einschaltet.“

Damit meint sie Missverständnisse mit Freunden und Bekannten, die durch ihr Empfinden entstehen. „Ich interpretiere oft Gesagtes zu meinen Ungunsten. Oder denke schnell, ich werde nicht gebraucht, wenn ein Anruf oder eine Nachricht später kommt, als von mir erwartet.“ Gerüche erlebt die 37-Jährige besonders stark, ebenso wie Gewaltdarstellungen im Fernsehen oder in den Sozialen Medien: Kriegsszenen, verwundete Kinder, gequälte Tiere. „Solche Bilder bekomme ich lange nicht mehr aus dem Kopf.“

Auch Stress in der Arbeit steckt Emma nicht leicht weg. Sie nimmt ihn mit nach Hause. Darum ergreift sie von Zeit zu Zeit Gegenmaßnahmen. „Ich muss dann absolut mit mir allein sein, um das zu verarbeiten.“ Neben dem Rückzug in die eigenen vier Wände ohne jeden Reiz von außen hat sie Strategien entwickelt. „Ich laufe. Da ist man vollkommen mit sich allein. Nur auf die Bewegung konzentriert.“ Wenn Lärm und Menschenmengen sie in der U-Bahn überfordern, setzt sie Kopfhörer auf.

Der Maler Adrian H., 52, bezeichnet sich ebenfalls als hochsensibel. Er hat zum Gespräch in sein Schöneberger Atelier geladen. Es gibt Kaffee mit Sojamilch.

Adrian H. sagt: „Ich empfinde, was in meinen Mitmenschen vorgeht. Einerseits ist das schön, andererseits überfordert es mich aber auch oft.“ Er ist rotblond und breitschultrig, mit feinen Gesichtszügen und einem verhaltenen Lächeln. „Ich brauche die große Sensibilität in meinem Beruf“, sagt er. Was er von anderen aufnimmt – Freude, Euphorie, Wut, Angst, Verzweiflung –, findet sich auch in seinen Gemälden wieder.

Seit über 20 Jahren lebt Adrian, der seine Kindheit in Brasilien verbracht hat, in Berlin. In seinem Atelier riecht es nach Ölfarben und Terpentin. Neben eigenen Werken hängt ein Druck von Tizian an der Wand –„Die Schindung des Marsyas“. Das Bild beschäftigt ihn gerade: „Weshalb werden Menschen gequält, gefoltert?“, fragt er.

Adrian malt großformatige Bilder, in denen ihm Menschen und Landschaften gleichermaßen wichtig sind. „Ich glaube, man kann mich zwischen Romantik und Impressionismus einordnen.” Beim Arbeiten kann er vollkommen in sich versinken. Beim Musikhören auch. „Manchmal mache ich ein Album an und höre nur das erste Stück. Danach drifte ich in Gedanken ab“, erzählt er. „Plötzlich merke ich, dass die Musik aus ist.“ Die CD läuft durch, ohne dass er es merkt.

Im zwischenmenschlichen Bereich trifft den Maler seine Hochsensibilität am meisten. „Wenn ich mich morgens mit meiner Frau gestritten habe, hängt mir das den ganzen Tag nach. Ich fühle das wie einen dicken Klumpen im Magen. Sie dagegen lenkt sich auf der Arbeit ab, vergisst das schnell wieder.“

Manchmal beeinflussen Adrian die Stimmungen anderer extrem, für manche ein typisches Zeichen für Hochsensibilität. Er sagt: „Kürzlich sah ich beim Frühstück in einem Hotel, wie ein Opa voller Zorn versuchte, sein Croissant aufzuschneiden. Ein Croissant ist aber nicht dazu gedacht, sich wie ein Brötchen aufschneiden zu lassen. Man reißt es eher auf. Weil es in seiner weichen, bröseligen Konsistenz zerfällt. Das brachte den Alten in Rage. Er wollte etwas auf seine Weise tun – und das funktionierte nicht.“ Adrian lacht. Das Bild des grimmigen Opas hat sich ihm eingeprägt. „Ich glaube, viele Menschen denken über so etwas gar nicht nach. Oder es geht ihnen nicht nahe.“

Wenn sein Empfindungsbarometer besonders stark ausschlägt, ergreift er Maßnahmen. Dann hört er über Wochen keine Musik, geht nicht ins Kino, meidet Menschenmengen. Fährt nicht in der U-Bahn oder mit dem Bus. Bleibt in der freiwilligen Enklave seines Ateliers. Dort malt er. Tagelang. Und versinkt in Farben und Formen.

Nicht nachvollziehen kann es der Künstler, wenn Hochsensible andere mit ihren Befindlichkeiten terrorisieren, ihre eigenen extremen Gefühle an anderen auslassen. Launisch werden. „Das ist kein Grund, selbstmitleidig zu werden oder anderen damit auf die Nerven zu fallen. Man muss jedem das Recht zugestehen, zu sein, wie er eben ist – auch, wenn der nicht so empfindlich ist wie man selbst.“

„Alle Menschen sind im Grunde hochsensibel“, stellt Susan Schumacher, Heilpraktikerin für Frauen und Kinder, fest. Das Gespräch findet in einem Café nahe dem S-Bahnhof Warschauer Straße statt. Susan Schumacher trägt einen Zopf, hat große Augen, ihr Lachen klingt fröhlich. „Leider stumpft die Gesellschaft viele dann ab“, sagt sie.

2012 hat Schumacher eine Praxis in Friedrichshain eröffnet. „Ich habe mich bewusst auf Frauen konzentriert, weil Frauen sehr viel leisten müssen und auch sehr viel bewirken können“, sagt sie. Zum Beispiel in der Doppelbelastung aus Kindererziehung und Beruf. „Und Kinder sind die Zukunft.“

Gerade Kinder seien besonders empfindlich für Eindrücke von außen, hätten oft eine stärkere Wahrnehmung. „Dazu gehören Bilder, Geräusche, Handlungen anderer Menschen.“ Für ein Kind selbst sei das aber in der Regel kein Problem. „Es sind die Erwachsenen, die hier Spannung aufbauen. Durch Druck, den sie ausüben.“ Und genau das sei die Schwierigkeit, nicht das große Empfindungsvermögen der Kinder.

„Meist fällt die Hochsensibilität erst bei Problemen auf. Ein harmonisches Leben mit dem Kind ist schwierig. Es widersetzt sich, ist ständig krank. Es will sich nicht anziehen lassen, nicht baden lassen und so weiter.“ Der Körper versuche das „Zuviel“ an Emotionen zu regulieren. Und das drücke sich oft in Krankheiten aus.

Überhaupt würde auf Kinder heute eine Menge an Einflüssen einströmen, sagt die Heilpraktikerin: Umweltgifte, eine Flut von Bildern und Eindrücken. Dass Hochsensibilität erblich ist, davon ist Susan Schumacher – ebenso wie ein Großteil der Forscher – überzeugt.

Die Probleme hochsensibler Kinder behandelt Schumacher ganzheitlich: „Wir führen lange Gespräche über die Lebenssituation der Kinder, darüber, was man ändern kann.“ Es bringe nichts, bloß Medikamente zu geben, wenn sich an der Lebenssituation nichts ändere. Weil das Kind sich in der Kita nicht wohlfühle oder es in der Familie zu Streit komme.

Schumacher sagt, hochsensible Kinder bräuchten Raum, „damit sie sich entfalten können. Sich ganz viel in der Natur bewegen, spielen, auch wild spielen – im Wald oder auf dem Abenteuerspielplatz“. Wichtig sei auch, dass die Kinder lernten, sich kreativ auszudrücken. „Dazu gehört, mit den Händen etwas zu machen, zu malen, zu basteln, zu gestalten.“ Das rät Schumacher den Eltern immer wieder. „Gerade beim Malen lassen sich negative Emotionen, die hochsensible Kinder gerne speichern, verarbeiten.“

Martin Marstrand, Foto: Janine Theisen

Ein hochsensibles Kind, das genau daran litt, war auch Martin Marstrand. Heute gibt der 38-jährige Norweger in Prenzlauer Berg seine Erfahrungen weiter: als Bewusstseins-Coach. In seine Räume kommen Menschen, die auf der Suche nach sich selbst sind. Die nicht wissen, wohin mit ihren Gefühlen. Genau so ging es Martin Marstrand jahrzehntelang auch. „Es hat lange gedauert, bis ich meine Hochsensibilität als das erkennen konnte, was sie ist – ein Geschenk und eine Hochbegabung.“ Sein skandinavischer Dialekt klingt offen, warm, mit leicht gerolltem R.

Marstrand ist viel herumgekommen. Mit 19 zog er von Norwegen nach Indien, dann in die Schweiz. Von dort nach Las Palmas. 2012 kam er zum ersten Mal nach Berlin. „Und es war Liebe auf den ersten Blick.“ Zwei Jahre später kam er wieder, „um zu bleiben“.

Seine Ausbildung zum Bewusstseins-Coach hat Marstrand unter anderem an der Spiel-Pädagogischen Akademie Brienz/Schweiz und am Institut Norsk Gestaltinstitutt Høyskole (Norwegen) für Ganzheitliche Therapie absolviert. Kurz gesagt, unterstützt er Menschen dabei, sich zu erkennen und sich dann selbst zu helfen. „Ich spürte, dass ich meine Begabung, zu spüren, was mit anderen los ist, auf diese Weise einsetzen kann.“

Bei seinen Coachings zeigt er Ratsuchenden, wie sie mit ihrer Sensibilität umgehen können. „Man muss lernen, zu sich zu finden, sich zu erden.“ Er meditiert mit ihnen, macht Spiele, Improvisationstheater. „Betroffene müssen lernen, das, was auf sie einströmt, nicht mehr persönlich zu nehmen.“

Es ist ein Fortschritt, dass Hochsensibilität nun endlich ernst genommen wird, sagt Martin Marstrand. An Unis werden Vorlesungen gehalten, es wird an Fachkliniken weiter über das Phänomen geforscht. Richtig so, findet der Bewussteins-Coach: „Denn Gefühle, auch in der Intensität, wie Hochsensible sie wahrnehmen, sind Stärke und kein persönliches Manko.

Die Namen aller Betroffenen wurden anonymisiert.

Hochsensibel in Berlin Selbsthilfegruppe jeden 2. und 4. Dienstag im Monat, 19 Uhr, Selbsthilfezentrum Neukölln-Nord, Wilhelm-Busch-Str. 13, Neukölln, 030-6056600

Offenes Hochsensibel-Treffen jeden 2. Monat am letzten Montag des Monats, Brotfabrik, 19 Uhr, Caligariplatz 1, Weißensee

Termine und Treffen für Hochsensible und Neugierige. www.zartbesaitet.net

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