Verkehr

Wo bleibt die Wende zum Fahrradverkehr?

Meter für Meter: Um ein Rad-Volksbegehren zu verhindern, hat der Senat große Versprechungen gemacht. Jetzt haben die Aktivisten die Gespräche mit der Verwaltung frustriert beendet

imago/ Rolf Kremming

Feierabendverkehr in Kreuzberg. Entlang der Hasenheide bedeutet das an diesem Nachmittag für Autos: Stau. Im Schritttempo schieben sie sich auf einer Spur vom Südstern Richtung Hermannplatz. Die Radfahrer hingegen sausen rechts an der Kolonne vorbei. Sie fahren auf einem frisch in Grün gestrichenen Radweg, der durch rot-weiße Poller von der Straße abgetrennt ist. Keine parkenden Autos versperren den Weg, nirgendwo wird eine aufgerissene Autotür zur Gefahr. Laut einer aktuellen ­Umfrage des ADFC Berlin wünschen sich 86 Prozent der Radfahrer solche Radwege.

Der geschützte Radweg an der Hasenheide ist bis auf eine baubedingte Lücke fast fertiggestellt. Einen weiteren dieser Art gibt es bereits an der Holzmarktstraße. Die beiden Radwege sind die sichtbarsten Projekte einer verbesserten Infrastruktur, um die Radinitiativen seit Jahren kämpfen. Und die der Senat in einem Mobilitätsgesetz versprach – um ein Radvolksbegehren abzuwenden, dessen Initiatoren noch viel weitergehende Forderungen aufgestellt hatten. Nun geht es voran, könnte man meinen. Anfang April gab das Bezirksamt Pankow bekannt, dass die Stargarder Straße zur Fahrradstraße werden soll. Und der Bund fördert einen Testabschnitt für einen Radschnellweg unter der U1.

Die Gespräche sind gescheitert

Doch den Berliner Fahrradvereinen geht es nicht schnell genug voran. Ende März brachen der ADFC Berlin und der Verein Changing Cities die planmäßig letzte Sitzung des „Dialogs Radverkehr“ mit der Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz vorzeitig ab. Der Vorwurf: Der Senat verschleppe die Vorhaben und sei nicht bereit, weitere Verhandlungstermine einzugehen. „Das Beteiligungsversprechen der Grünen löst sich gerade in heiße Luft auf“, so Stefan Lehmkühler von Changing Cities. Der Verein war aus dem Volksentscheid Fahrrad hervorgegangen und ­betonte immer wieder, dass er an der konkreten Planung beteiligt sein will. Ohne den Druck der Vereine könnte es noch länger dauern, so die Befürchtung.

Die Gespräche liefen seit Dezember und sind so im Mobilitätsgesetz vorgesehen. Ziel war es, Vorgaben für den Radverkehrsplan zu erarbeiten: Wie breit sollen Radwege sein? Welche Oberfläche wird benutzt? Wann wird was gebaut? Laut der Umfrage des ADFC fühlen sich 88 Prozent der Radfahrer im Verkehr so unsicher, dass sie ihre Kinder nur mit schlechtem Gefühl alleine fahren lassen. Berlin landete im Ranking der fahrradfreundlichsten Großstädte auf Platz zwölf – von 14. Die Vereine werfen der Senatsverwaltung vor, sie habe sich nicht auf verbindliche Vorgaben eingelassen, sondern diese in Dokumente oder Leitfäden geschoben, die erst später angefertigt werden. „Das heißt im Klartext: Bis Ende des Jahres wissen die Planer nicht, wie sie planen sollen“, so Ragnhild Sørensen, Sprecherin von Changing Cities. „Eine Beschleunigung der Planungsprozesse ist extrem wichtig, wenn die Ziele bis 2030 erreicht werden sollen.“

In der Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz bedauert man, dass die Vereine den Dialog abgebrochen haben und weist die Vorwürfe als „absurd“ zurück. „Richtig ist, dass die Planung und Umsetzung von Infrastrukturvorhaben nicht von heute auf morgen erfolgen kann“, sagt Sprecher Jan Thomsen. Doch die Verwaltung unter Senatorin Regine Günther (parteilos, für Die Grünen) arbeite „so entschieden wie keine andere zuvor an der Verkehrswende“.

Dafür bräuchte es vor allem Ressourcen, und die würden nach und nach aufgebaut: 26 neue Mitarbeiter hat die 2017 gegründete und landeseigene infraVelo GmbH mittlerweile. Sie ist beispielsweise mit der Planung und Finanzierung von Radschnellwegen betraut. Auch in der Senatsverwaltung selbst seien zehn Mitarbeiter hinzugekommen, ausschließlich zuständig für den Radverkehr, berichtet Thomsen. Und von 24 Stellen für Radplaner in den zwölf Bezirken seien bisher „gut die Hälfte besetzt“.

Millionen für die Radinfrastruktur

Zudem werde mehr Geld für die Radverkehrsförderung ausgegeben. 2018 waren es 13,5 Millionen Euro, eine Verdopplung gegenüber 2017. Und im laufenden Jahr sollen es 20 Millionen Euro werden. Zusätzlich stehen, über ­mehrere Jahre, zweckgebunden 50 Millionen Euro landesweit bereit, zum Beispiel für Fahrradparkhäuser, sowie 16 Millionen Euro für bezirkliche Vorhaben. Geld aus dem Fonds „Sondervermögen Infrastruktur Wachsende Stadt und Errichtung eines Nachhaltigkeitsfonds“.

Aus diesem Fonds sollen auch die Radschnellverbindungen bezahlt werden, von denen das Mobilitätsgesetz mindestens 100 Kilometer vorsieht. Nach Angaben der Senatsverwaltung sind diese Strecken mindestens drei Meter je Fahrtrichtung breit, nachts beleuchtet und gewähren an Kreuzungen Vorfahrt.

Drei Schnellwege würden bereits geplant, sieben weitere gingen nun in die Planung, sagte Senatorin Günther im Februar. Für die Route entlang des Teltowkanal beispielsweise, die auf etwa zehn Kilometern ausgebaut werden soll, werde Mitte des Jahres die Machbarkeitsuntersuchung abgeschlossen. Dann würden sich weitere 30 Monate Planung und Bürgerbeteiligung anschließen. Mit einem Baubeginn sei 2022 zu rechnen.
„Alternativen zum Autoverkehr zu entwickeln und so attraktiv zu machen, dass immer mehr Leute umsteigen, ist keine Sache von Monaten, sondern von Zeiträumen zwischen fünf und zehn Jahren“, sagt Jan Thomsen von der Senatsverwaltung.

Critical Mass in Berlin, Foto: Kristoffe Swetje / BUNDjugend FahrradBande

Für Radfahrende, die täglich im Berliner Verkehr unterwegs sind, können sich die Planungs- und Bauphasen hingegen wie eine Geduldsprobe anfühlen. Zum Beispiel dann, wenn sie auf einem Radweg fahren, auf dem alle paar Meter Menschen ihre Autos abgestellt haben. Auf der Badstraße im Wedding zum Beispiel passiert das jeden Tag, auf der Prinzenallee auch. Ebenso auf der Torstraße in Mitte und der Großbeerenstraße und der Urbanstraße in Kreuzberg. Die Liste ist lang.

Auch eine Slalomfahrt für Radfahrer: Die Kreuzbergstraße, morgens um 10 Uhr. Wieder stehen Autos auf dem Radweg. Die Fahrradfahrer müssen abbremsen und sich in den fließenden Verkehr einordnen. Dann, ein paar Meter weiter, das gleiche von vorn. „Radfahren in Berlin ist wie ein Hindernisparcours, weil kaum ein Radstreifen frei von Falschparkern ist. Für den Autofahrer ist das ,nur mal kurz Brötchen holen‘, für den Radfahrer bedeutet es jedes Mal ein Ausweichen in den Autoverkehr, der mit 50 km/h und mehr vorbeirauscht“, sagt Nicolas Linck vom ADFC Berlin.

Die Rad-Initiativen betonen die Dringlichkeit mit Verweis auf die Unfallzahlen. Mit der „Vision Zero“ hatte sich Senatorin Günther im Mobilitätsgesetz dafür ausgesprochen, die Zahl der tödlich verunglückten Radfahrenden auf Null senken zu wollen. Die Verkehrsunfallstatistik der Berliner Polizei zählt für vergangenes Jahr 4.886 leichtverletzte, 743 schwerverletzte und elf getötete Radfahrerinnen und Radfahrer. Alle Verletzungsgrade zusammengenommen stieg die Anzahl zwischen 2017 und 2018 von 4.986 auf 5.640 Fälle, ein Anstieg um 13 Prozent.

Fahrradfahren kann tödlich sein

Ein klassisches Szenario, prädestiniert für Unfälle: Ein Radfahrer nähert sich einer Kreuzung, an der die Ampel gerade auf grün springt. Er will geradeaus fahren, auf der anderen Seite ist ein Hügel, den er erklimmen muss. Er könnte jetzt noch einmal ein bisschen Schwung holen. Aber er bremst. Denn die Rechtsabbieger neben ihm haben auch grün. Wie oft ist es schon vorgekommen, dass LKW- und Autofahrer Radfahrer beim Rechtsabbiegen übersehen haben? Allein 1.694 Mal im Jahr 2018 in Berlin, 1.553 Mal gab es dabei verletzte Fahrradfahrer. Der Radfahrer steht jetzt fast an der Kreuzung. Eigentlich hätte er Vorfahrt. Aber neben ihm schnauft ein LKW und schiebt sich um die Kurve, 40 Tonnen schwer, seine Reifen so hoch wie der Sattel des Fahrrads. Hätte der Fahrer den Radler bemerkt, wenn er auf seiner Vorfahrt bestanden hätte? Lieber nicht ausprobieren.

Der Radverkehr hat in den letzten Jahren zugenommen, eine Steigerung der Unfallzahlen ist nicht unabhängig davon. Die Zählstellen haben 9 Prozent mehr Radfahrende gemessen. Der Anstieg in der Verkehrsunfallstatistik ist jedoch größer als der Anstieg des Radverkehrs.

Das könnte die Schlussfolgerung zulassen: Trotz der Bemühungen des Senates wird es für Radelnde gefährlicher, je mehr von ihnen unterwegs sind. Von einer Vision Zero rückt die Stadt damit zwangsläufig weiter ab.
Für dieses Jahr kündigte die Senatsverwaltung weitere geschützte Radwege in der Karl-Marx-Allee und der Frankfurter Allee an, außerdem mehrere Tausend Fahrrad-Abstellbügel. Die Initiativen wollen jedoch mehr, sie fordern stärker eingebunden zu werden, wollen direkt am Radverkehrsplan mitarbeiten.

Möglichkeit zum Dialog wird es weiterhin im FahrRat geben, ein Gremium mit Abgesandten aus Verkehr, Wirtschaft, Politik und Wissenschaft. Changing Cities wird dort mit zwei Plätzen vertreten sein. Die Zusammensetzung muss jedoch noch vom Abgeordnetenhaus beschlossen werden. So geht es voran, Meter für Meter. Doch manchmal kommen auch ganz unerwartete Gegner dazwischen. In Lankwitz wird gerade ein Radweg von seiner geplanten Route verdrängt, weil dort geschützte Wildbienen wohnen.

Vom 27. und 28. April veranstaltet Velokonzept das VeloBerlin-Fahrradfestival mit Rennen, Shows, Ausfahrten und Expertengesprächen auf dem Tempelhofer Feld.

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