Berlin am Wasser

Mit dem Kajak von Tempelhof nach Moabit

Übers Wasser: Immer schön an der Oberfläche bleiben: Auf Berlins Seen und Flüssen kann man viel erleben – dazu muss man nicht einmal reinspringen. Denn die Stadt sieht vom Kanu, Boot oder Floß aus betrachtet noch mal ganz anders aus. Unser Autor Andreas Burkhardt ist mit dem Kajak von Tempelhof nach Moabit gefahren – eine außergewöhnliche Sightseeingtour

Foto: Andreas Burkhardt

Etwas weiter weg vom Üblichen wird ­alles fremd. Der fremde Blick auf das Gewohnte beginnt einige Etagen tiefer, leicht unterhalb der Stadt, am Tempelhofer Hafen, an einem frühen Morgen. Vereinzelt werden Lichter angeknipst, Cafés startklar gemacht, erste Schlagzeilen sondiert. Mein Kajak liegt zum Einsitzen bereit. Was nicht unbeobachtet bleibt auf den umliegenden Motorbooten. Eine Frau mit Morgenmantel und zerzausten Haaren schiebt ihr Gesicht durch eine Kajütentür: „Morjen, Junge! Was haste vor, gehst du auf Tour?“ – „Morjen!“, erwidere ich, „ja, einmal mitten durch Berlin.“

Los geht’s nach Backbord in den Teltowkanal. Im Schatten des klotzigen Ullsteinhauses, einst das höchste Hochhaus Deutschlands, wird Fahrt aufgenommen Richtung Britz. Die ersten Kilometer gehören nicht zum Schönsten, was Berlin zu bieten hat. Und doch sind sie interessant. Vorbei an Industriedenkmälern wie dem kolossalen, den Kanal überspannenden Portalkran, der einst zum Entladen von Kohleschiffen genutzt wurde.
Schließlich passiert das Boot das Gelände des ersten West-Berliner Spaß­bades Blub, dessen Niedergang 2002 ein Ratten-Alarm einleitete. Was irgendwie passt, gilt doch der Teltowkanal als dreckigstes Gewässer Berlins. Einige Unerschrockene hält das dennoch nicht vom Angeln ab. „Hey, Angler“, rufe ich, „was angelst du denn hier in der trüben Brühe? Trübe Fische?“ – „Und wenn schon“, schnoddert der Angler zurück, „Dreck reinigt bekanntlich den Magen.“

Nach knapp neun Kilometern geht es links in die Spree. Das DDR-Funkhaus zieht vorbei. Das alte Kraftwerk Rummelsburg. Das ehemalige Ausflugsrestaurant „Eier­häuschen“, das schon Theodor Fontane lobte, aber auch als „sonderbar benamst“ empfand.

Was ist das? Drei Männer. Mitten im Wasser. Die Molecule Men! Eine 30 Meter hohe Drei-Personen-Skulptur aus gelochtem Aluminium, die an die Nahtstelle der drei damaligen Bezirke Kreuzberg, Friedrichshain und Treptow erinnern soll. Wobei der Standort genau genommen nicht korrekt gewählt wurde. Denn ein Kreuzberg gab es zu DDR-Zeiten immer nur an, aber niemals in der Spree. Genau das wurde in den 70er-Jahren mehreren Kindern aus Kreuzberg, die erst an der Spree spielten, dann hineinfielen, zum Verhängnis. Opfer eines eisernen Vorhangs aus Wasser! Den Ertrinkenden durfte von Westseite aus unter Androhung des Schusswaffengebrauchs nicht geholfen werden, und von den Grenzern auf Ostseite wurde zur Rettung der im Wasser ums Überleben kämpfenden Kinder nichts bis zu wenig unternommen.

Ich wende an der Oberbaumbrücke mit der U-Bahn-Linie 1. Ab hier ist für Sportboote das Befahren der Spree verboten. Die Alternative für die Weiterfahrt durch die Mitte Berlins bietet der Landwehrkanal mit dem Paul-Lincke-Ufer. Das hat Charme. Für den Charme hat Peter Joseph Lenné gesorgt. Preußens oberster Gartenkünstler ließ am Kottbusser Ufer, wie das Paul-Lincke-Ufer zuvor hieß, baumbestandene Uferpromenaden zur Naherholung anlegen. Ob diese allerdings mit Einweihung des Landwehrkanals im Jahr 1850 ausschließlich als Wohlfühlmeile genutzt wurden, darf bezweifelt werden. Wahrscheinlicher ist, dass ein übler Fäulnisgeruch über den Straßen lag, denn die Abwässer der Häuser flossen mangels Kanalisation ungeklärt in den Kanal. Heute riecht es hier nach anderem. Nach den Garküchen des Neuköllner Wochenmarktes. Und nach Marihuana.

Die szenige Ankerklause wird passiert und die Fraenkelufer-Synagoge. Dann taucht die Admiralbrücke auf. Die schmiede­eiserne Bogenbrücke aus dem Jahr 1882 gehört zum Schönsten, was Berlin an Brücken zu bieten hat. „Nach dem Krieg“, erzählte mein Vater gerne, „sprangen Kinder von der Admiralbrücke ins Wasser. Für ein paar Groschen ergötzten sie das Publikum.“ Nicht ohne Gefahr. Mit dem Paddel kann man mühelos den Kanalgrund berühren. Zwischen dem „Alten Zollhaus“ und der Spree in Moabit bevölkern Unmengen an Ruderbooten die Gewässer. Mittendrin ein letzter Ort des Erinnerns: die Lichtensteinbrücke in Hörweite der Zoo-Fasanerie. Sie erzählt die Geschichte Rosa Luxemburgs (1871–1919). Verhört, misshandelt, mit dem Gewehrkolben ins Gesicht geschlagen, dann mit auf der Schläfe aufgesetzter Pistole erschossen, mit Stacheldraht umwickelt und hier in den Landwehrkanal geworfen.

Der, der das Todeskommando anordnete, Hauptmann Waldemar Pabst, rühmte sich noch 50 Jahre später mit der Tat: „Diese deutschen Idioten sollten Noske und mir auf den Knien danken, uns Denkmäler setzen und nach uns Straßen und Plätze benannt haben!“ Die „deutschen Idioten“ aber waren schlauer, als Pabst sich erhoffte. Sie setzten nicht den Tätern, sie setzten dem Opfer ein Denkmal. 

Einstieg Tempelhofer Hafen dann Teltowkanal Richtung Südosten bis zur Spree. Auf der Spree nach Westen bis zum Beginn des Landwehrkanals – und den bis zum Ende abfahren

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