„Das Private ist politisch“, das war in den 70er Jahren die Losung Parka-tragender Spontis in Frankfurt/Main und West-Berlin, die sich von gesellschaftlichen Zwängen befreien wollten. Der Glaubenssatz öffnete ihnen die Augen: dafür, wie Machtverhältnisse in den Alltag sickern. Wer macht den Abwasch? Muss der Wollpulli fabrikfrisch sein – oder reicht ein Textil vom Trödelmarkt? Ist das eigene Nest ein Haus, eine WG, ein Mehrgenerationenprojekt?
Der Lebensstil warf existenzielle Fragen auf, auch unter Feministinnen, Umweltbewegten, Konsumkritikern. Den geistigen Humus lieferten Adorno und andere Impulsgeber der Frankfurter Schule, später Foucault und Gender-Wissenschaftler*innen.
Heute ist der kritische Geist der alternativen Szene ins Bewusstsein der Vielen gerückt – jedenfalls in den Großstädten. Deren Role Models zeigen Haltung vor großem Publikum: Greta Thunberg zum Beispiel, die mit einem Segelschiff zum Weltklimagipfel reist und nach ihrer Überfahrt die UN-Delegierten zusammenfaltet. Oder, in Deutschland, das Zentrum für politische Schönheit, dessen Aktivisten ein Holocaust-Mahnmal im Nachbargarten von Björn Höcke platzieren oder die Identitäten von Rechtsextremen lüften, die in thüringischen Wohnsiedlungen leben, im Schatten von Buchsbäumen und Deutschland-Flaggen. Soziale Medien sind die Multiplikatoren einer idealistischen Weltanschauung. Vorbilder dort sind Zerowaste-Blogger, Netzfeminist*innen und adoleszente Youtuber.
Die Probleme, die wir bewältigen müssen, sind tatsächlich gewaltig. In den Machtzentren entern Rassist*innen Parlamentsbänke, manchmal sogar Regierungssitze, in Washington amtiert ein Präsident, der alle Menschen verwünscht, deren Hautfarbe nicht mit den Sklavenhaltern des vormodernen Amerikas identisch ist. In der deutschen Hauptstadt hetzt die AfD. Die faschistischen Projekte, ob dies oder jenseits des Atlantiks, sind das Aufbäumen des bröckelnden Patriarchats.
Damit nicht genug: Im Mittelmeer sind in diesem Jahr bereits mehr als 1.000 Flüchtlinge ertrunken. Einzelne Rettungsmanöver wie die heroische Aktion Carola Racketes, der Kapitänin der „Sea Watch III“, die den Hafen Lampedusas ansteuerte, sind Konsequenzen einer europäischen Politik, die Lösungen in der Migrationskrise verweigert.
Zudem sind die Prognosen des Club of Romes, der die Erderwärmung weissagte, inzwischen ökologische Wirklichkeit. In Berlin sind die Sommer subtropisch, und jenseits des Horizonts, im beschaulichen Brandenburg, wüten Waldbrände wie sonst im Süden Griechenlands.
Die Weltlage erfordert eine Zäsur, auch im vermeintlichen Kleinklein des Individuums, das „#unteilbar“ twittert und Spalier steht auf Fridays-for-Future-Demos.
Aber wie viel Haltung und Moral können wir überhaupt in unser Leben integrieren? Wie viel Über-Ich verträgt der Mensch, ohne sich selbst zu verlieren?
Das Wort, das diese Zerrissenheit symbolisiert, hat in Rekordzeit den Alltag erobert. FDP-Jungpolitiker und alte Herren der CDU gebrauchen es nur mit verzogenen Mienen – als hätten sie versehentlich Sojamilch in ihren Kaffee gekippt. Für alle anderen, die den Klimawandel ernst nehmen, ist der Begriff dagegen hilfreich. Weil er moralische Stütze im Kampf um Deutungshoheit ist. Etwa beim Streitgespräch mit dem inneren Lustmenschen, der abends auf der Couch souffliert, man solle einen Lastminute-Flug mit Easyjet nach Paris buchen.
„Flugscham“ lautet das Wort. Wer es auf sich wirken lässt, wird vielleicht doch lieber das Wochenende im Spreewald verbringen. Am 14. März 2018 hat ein Journalist des „Svenska Daegblat“, einer Tageszeitung aus Stockholm, diesen Begriff erstmals in die Öffentlichkeit getragen. Im Idiom der schwedischen Sprache: „Flygskam“.
Eine Sprachfigur, die sich vervielfältigen lässt wie Pop Art. Konsumscham, Lifestyle-Scham, Existenzscham. Wer nicht verzichtet, ist schuldig.
Für die Umwelt ist die neue Empfindsamkeit eine gute Sache. Fast so CO2-reduzierend wie es eine globale Kohlendioxid-Steuer wäre.
Da ist zum Beispiel Gina aus Neukölln, 28, Studentin für Soziale Arbeit, politisierte Vertreterin der Millenial-Generation. Sie fährt mit dem Zug in den Griechenland-Urlaub, und wenn sie doch in klimaschädliche Flieger steigt, wie letztens zwischen Berlin und Istanbul, spendet sie im Gegenzug später Geld, für ein Projekt in Ruanda etwa, das Haushalte mit energie-effizienten Öfen versorgt. Damit hilft sie, das Ökosystem einer vernachlässigten Erdregion zu stabilisieren.
Auch sonst ist Gina verantwortungsbewusst: Eine Vegetarierin, die Tomaten und Möhren in natura kauft, ohne Plastikhülle drumherum. Eine Kreislaufwirtschafterin, die Second-Hand-Klamotten trägt. Eine Feministin, die Margarete Stokowski liest.
Und doch war sie manchmal niedergeschlagen: „Da hat sich eine Schwere und Ernsthaftigkeit über mein Leben gelegt, die mir nicht gut getan hat“, sagt sie. Ihre Gefühle macht sie an einer Szene fest. Sie erscheint banal – aber setzt man voraus, dass der Teufel im Detail liegt, ist sie bedeutsam.
Da war also dieser Abend im Juli, in einem Biergarten. Sie jobbt regelmäßig am Tresen dieses Lokals in Tiergarten; nach der letzten Runde trank sie mit anderen Kellnern noch ein paar Absacker. „Voll behindert“, schimpfte ein Kollege plötzlich. Er hatte ein Glas fallen gelassen, so etwas in der Art, genau kann sich Gina nicht mehr erinnern.
Ein Spruch – hinter den Falltüren der Semantik aber auch: eine Stigmatisierung von Menschen, die im Rollstuhl sitzen oder mit geistigen Handicaps leben. Gina verwickelte den Kollegen in eine Grundsatzdiskussion. Danach habe sie sich schlecht gefühlt, wie eine Oberlehrerin. Auch, weil der Kollege eigentlich ein netter Kerl ist. Kein Bully, kein Chauvi, kein Fascho.
„Eine Sprache, die Diskriminierungsstrukturen reproduziert“, umschreibt sie den Fluch im Rückblick zutreffend. Trotzdem sagt sie heute: „Ich will nicht mehr jedes Wort auf die Goldwaage legen.“ Überhaupt sei der Disput im Biergarten ein Augenöffner gewesen, um heute weniger streng zu sein, mit sich, mit anderen.
Was ist passiert?
Gina hat einen wesentlichen Lernprozess durchgemacht.
Eine Erklärung gibt die Psychoanalytikerin Ilka Quindeau, die Präsidentin des International Psychoanalytic University (IPU). Eine Koryphäe, die mit dem Innenleben von Menschen bewandert ist.
Sie würde sagen, dass Gina gereift ist. Quindeau spricht in diesem Zusammenhang von einem „postkonventionellen Moralverständnis“. Demnach organisieren allgemeine Prinzipien menschliches Handeln – diese Regeln werden aber immer wieder vor dem Hintergrund der jeweiligen Situation neu bewertet. Durch diese Brille gibt es keinen starren Gegensatz von „Richtig“ oder „Falsch“. Die Antwort auf wichtige Fragen ist: Kommt auf den Kontext an.
Die zentrale Frage auf der Terrasse des Biergartens wäre also gewesen: Wer hat was in welchem Zusammenhang gesagt? Hielt gerade ein Politiker des AfD-„Flügels“ eine Rede auf dem Kyffhäusertreffen? War der Ausrutscher in Wirklichkeit ein kalkulierter Tabubruch? Oder eine Punchline aus dem neuen Kollegah-Album? Dreifaches Nein. Der Frontalunterricht vermittelte aber diesen Eindruck: dass ihr Kollege ein übler Geselle ist.
Was der Vorfall aber vor allem demonstriert: dass sensible Sprache den Wortschatz des Jedermann-Berliners noch nicht restlos erfasst hat. Nicht mehr, nicht weniger. Vielleicht hätte Gina eine kurze, ironische Replik platzieren können. Oder irgendeinen anderen Konter fahren, der vor allem eines nicht zum Ausdruck bringt: dass das sprachliche Malheur die gesamte Person ins Zwielicht rückt. Gina hätte dabei keineswegs ihren Standpunkt revidieren müssen, dass „voll behindert“ ein Wort ist, das verletzen könnte.
Diese Reaktion wäre Ergebnis eines „postkonventionellen Moralverständnisses“ gewesen. Die entwicklungspsychologische Vorstufe des „postkonventionellen Moralverständnisses“ ist laut Quindeau das „konventionelle Moralverständnis“. Die Theorie dazu hat der US-Psychologe Lawrence Kohlberg vor mehreren Jahrzehnten entwickelt: Er wollte ein erwachsenes Weltbild von einer eher unreifen Sicht auf die Dinge unterscheiden. Greta Thunberg, die Stimme der Fridays-For Future-Demos, läuft mit ihrer Rethorik Gefahr, dem letzteren Modell verhaftet zu sein: einer Aufteilung der Wirklichkeit in Gut und Böse. „Schwarz-Weiß-Denken schafft Klarheit in einer unübersichtlichen Welt”, erklärt Quindeau.
Der Blick der 18-jährigen Aktivistin auf die klimapolitische Wirklichkeit, deren Personal und Plot: Umweltengel oder Reiter der Apokalypse, Unschuld oder historisches Versagen, ein neuer Morgen oder Katastrophe. Ein Entweder-Oder, das sehschwach gegenüber Grauzonen macht. „Ein manichäisches Weltbild“, sagt Quindeau. „Solches Denken kann am Ende zum Autoritarismus führen.“
Ein Szenario, das natürlich nur ein Denkspiel in der Theorie ist. In der Praxis ist das Schauermärchen von der „Öko-Diktatur“, die Klimakämpfer angeblich errichten wollen, der rhetorische Abwehrreflex von Nach-mir-die-Sintflut-Fatalisten, die auch noch im Jahr 2019 ihren BMW X7 auf der Autobahn ausfahren, unter dräuenden Schleiern, die ein Kohle-Meiler im Hinterland ausgespien hat.
Greta Thunbergs Ingrimm – und die Warnungen anderer Klimakämpfer – sind in der Aufmerksamkeitsökonomie auch nützlich: als Protestkonzert, dessen Furor mobilisiert. Falls die Lautstärke zum Instrument wird, um die Breaking News über Treibhauseffekt und Smog-Alarm, Artensterben und Polkappenschmelzen in die Institutionen der Demokratie zu tragen: Es wäre der beste Lobbyismus, der Mutter Erde je zuteil geworden ist.
Einer, der das Spannungsfeld zwischen innerer Haltung und Realpolitik immer wieder untersucht, ist der HU-Professor Herfried Münkler. Der Ein-Mann-Thinktank, ein Experte in politischer Philosophie, attestiert Umweltbewegten und anderen Verfechtern eines ethisch korrekten Daseins, dass sie mittels ihres moralischen Anspruchs eine „Diskurshegemonie“ erreichen wollen. Er kritisiert, dass die Protagonisten dieser Bewegung dabei auch ins Leben von Individuen eingreifen wollen. „Ermahnungen und das Erzeugen von Schamgefühlen werden als Schmiermittel eingesetzt.“
Dabei seien moralische Fragen Privatsache, sagt Münkler. „Beides gehört ausschließlich in Nahbeziehungen.“ Also in die Wohn-, Ess- und Schlafzimmer der Menschen, in die Eltern-Kind-Beziehung und in die Pärchendiplomatie.
Münklers Position bildet den Gegenpol zum kategorischen Imperativ der ökologisch und sozial Engagierten. Ob das Private politisch ist, soll jeder selbst entscheiden, findet er. Falls also Max Mustermann zum Schluss kommt, dass ihn der Klimawandel nichts angeht, er also täglich Fleisch aus Massentierhaltung isst und am Wochenende in den Kurzstreckenflieger nach Köln/Bonn steigt, ist das seine eigene Angelegenheit. Genauso darf er auf der Familienfeier sonntagnachmittags gemeine Flüche ausstoßen. So lange er nicht gegen das Strafgesetzbuch verstößt. Er muss auch keine Selbstsanktionen auf sich nehmen, etwa Schuldgefühle und Scham.
Münkler ist überzeugt: „Gesellschaften werden durch Recht geregelt, nicht durch Moral.“ Damit meint er mit Blick auf das politische System, das hierzulande etabliert ist: durch Paragrafen und Vorschriften, die in einem demokratischen Prozess ausgehandelt werden, zwischen politischen Institutionen, Gerichten und der Öffentlichkeit. Dabei kommen immer wieder Interessen ins Spiel. „Interessengeleitetes Verhalten macht Gesellschaften aus, nicht Tugendgeleitetes“, sagt Münkler.
In diesem Sinne wären diejenigen, die Moral zum Kodex erklären, auch nur zielorientiert agierende Figuren auf dem Spielbrett der politischen Ranküne: Sie vertreten ihre Interessen. Ob Greta Thunberg, Flüchtlingshelfer oder identitätspolitische Meinungsmacher, die unsere Sprache erneuern wollen.
Die Frage ist bloß, ob vor allem die Politik zurzeit gerüstet ist, um die Mega-Aufgaben des 21. Jahrhunderts zu meistern. Bernd Ulrich, der Leitartikler der „Zeit“, zweifelt daran. Er schreibt in einem Essay, erschienen im vergangenen September: „In den letzten Jahren ist die Kluft zwischen der Größe der realen Probleme – bei Digitalisierung, Migration, Klima und in vielen anderen Bereichen – und der Größe der Politik von Union und SPD immer tiefer geworden.“ Ein Befund, der vor allem die Narkolepsie der Bundesregierung diagnostiziert. „In die Lücke strömen Moraldebatten“, konstatiert er.
Der Graben klafft auch in anderen Beziehungen, zwischen den UN und den Bewohnern Ozeaniens, deren Inseln vom ansteigenden Meerwasser bedroht werden, zwischen der EU und kleinen Bauern in der französischen Provinz, die mit Brüssel vor allem die Förderung von Globalisierung, Freihandel und industrialisierter Landwirtschaft verbinden.
Das rot-rot-grün regierte Berlin ist immerhin ein Exerzierfeld, auf dem die Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit kleiner wird. Wo zum Beispiel Bürgerbegehren dem Senat einheizen, in der Umwelt-, in der Mietenpolitik. Die verfolgten Ziele in der Hauptstadt: Radler statt Benzinschlucker, bezahlbare Wohnungen statt Investoren-Monopoly. Berlin ist außerdem jene Stadt, in der die Senatsverwaltung für Arbeit, Integration und Frauen an der Kreuzberger Oranienstraße im Jahr 2015 verwegen genug war, Deutschlands erste Transgender-Toilette installieren zu lassen. Noch so ein Beispiel für Horizonte, die sich öffnen.
Gina, die Idealistin aus Neukölln, will auch künftig ihren Prinzipen treu bleiben – so weit möglich. Sie preist ein, dass Schwächen ein Teil der menschlichen Essenz sind. In ihrem linksliberalen Way of Life will sie weniger verurteilen, keine Gouvernante sein, die schlechten Benimm-Noten gibt, anderen und sich selbst. Auch nicht, wenn Feierabend-Hedonismus sie in Zwiespälte verwickelt. Und sie Kokain schnupft, ein Rauschmittel aus lateinamerikanischen Agrargebieten, dessen Import brutale Drogenkrieger ermöglicht haben. Obwohl sie sonst eine Vorzeige-Verbraucherin ist, die mit Gemüse im Korb den Supermarkt verlässt. „Ich kann nicht perfekt sein“, sagt sie. Das widersprüchliche Verhalten schmälert weder den guten Willen noch ihren CO2-Fußabdruck. „Ambiguitätstoleranz“ nennen Psychologen diesen Spagat.
Ilka Quindeau, die Seelenkundlerin, sieht darin einen Weg zur Selbsterkenntnis: „Wer Differenz und Andersartigkeit hinnimmt, akzeptiert die eigene Begrenztheit.“