Mietenwahnsinn in der ganzen Stadt: Berlins Wohnungsmarkt eskaliert. Die Auswüchse werden immer schlimmer. Auf den nächsten Seiten erzählen wir Geschichten von der Wohnungsnot. Und das HAU Hebbel am Ufer widmet der Notlage ein ganzes Festival: „Berlin bleibt!“ Es ist höchste Zeit für wirksame Maßnahmen gegen den Wahnsinn. Aber kann der Mietendeckel die Stadt noch retten?
Ihr Debütroman „Die Entmieteten“ war gerade fertig geworden, er beginnt mit einer Abrissbirne, die in eine Altbauwand kracht, der Block soll Luxuswohnungen weichen. Eine fiktive Geschichte in einer fiktiven Straße im realen Prenzlauer Berg. Im zweiten Kapitel hatte sie sich ausgemalt, wie zuvor „ein unscheinbarer Brief“ von einer Hausverwaltung „alles angekündigt“ hatte, 60-fach im Block verteilt, den Abriss, den Neubau, die Kündigung der Mietverträge. Die Verdrängung.
Aber dann, kurz vor Silvester letzten Jahres, bekam die Berliner Schriftstellerin Synke Köhler, Jahrgang 1970, selbst so einen Brief. Eine Modernisierungsankündigung. Mit einer Mietsteigerung um 950 Euro. Fast eine Verdreifachung. Es war, als hätte Köhler ihr eigener Roman eingeholt. Ein Dreivierteljahr, bevor der Anfang September erschien.
„Das war ein bisschen spooky“, sagt sie, „aber auf der anderen Seite wiederum nicht, weil die Verdrängung inzwischen so massiv ist, dass es jeden treffen kann. Angefangen hat es in den 90ern in Prenzlauer Berg. Inzwischen aber passiert es überall: in Wedding, in Moabit, in Kreuzberg.“
Die Wohnung, in der die gebürtige Dresdnerin seit 20 Jahren lebt, liegt in einem Eckhaus in Friedrichshain. Im letzten Sommer war der Block an eine Berliner Immobilienagentur verkauft worden. Wenige Tage, bevor eine neue Bundesgesetzgebung ab 1. Januar 2019 die Umlage von Modernisierungskosten einschränkte, kamen die bedrohlichen Briefe.
An einigen Balkonen hängen immer noch die besprühten Laken: „Verdrängung stoppen“, „250 % Mieterhöhung.“
Fortgesetzte Eskalation
Das ist Berlins Wohnungsmarkt: eine fortgesetzte Eskalation, eine Zumutung, ein großer Angstraum. Wo sich beispielsweise die Angebotsmieten bei Erst- und Neuvermietungen dem Bundesbauministerium zufolge binnen zehn Jahren auf durchschnittlich elf Euro pro Quadratmeter verdoppelt haben.
Und die totale Verrohung der Sitten greift gefühlt längst flächendeckend um sich.
Von Horrorgeschichten über die Exzesse hat mittlerweile jeder mindestens gehört. Oder sie selbst erlebt. Von Hausbesitzern, die vieles daransetzen, ihre Mieter*innen aus der Wohnung zu befördern, per Eigenbedarfsklagen, exzessiven Modernisierungen.
Ebenso schlimm, wenn man auf Quartiersuche ist. Hunderte Bewerbungen auf jede nur annähernd bezahlbare Wohnung. Und dann das große Ganze: Internationale Immobilienkonzerne, Grundstücksspekulanten, Renditejäger. Das Motto: schlimmer geht immer.
Und jetzt sollen es also die radikalen Konzepte richten. Der Mietendeckel des Senats von oben, der Anfang nächsten Jahres Neuvermietungs-Obergrenzen unter zehn Euro pro Quadratmeter (außer bei Neubauten) festschreiben soll. Und das Volksbegehren „Deutsche Wohnen und Co. enteignen“ von unten, das sich gegen private Konzerne mit mindestens 3.000 Wohnungen in Berlin richtet – und das in der letzten Woche gleich zwei Gutachten für zulässig erklärt haben. Bleibt nur die Frage, was das alles den Staat kostet. Ein-, vielleicht zweistellige Milliardenbeträge.Ist Berlins Wohnungsmarkt noch zu retten?
Höchste Zeit für wirksame Maßnahmen wäre es jedenfalls, egal, was man von den einzelnen Instrumenten hält. Jetzt eröffnet das HAU Hebbel am Ufer seine Theaterspielzeit 2019/20 mit dem Festival „Berlin bleibt!“: Vom 26. September bis zum 5. Oktober geht es um Mietsteigerung, Gentrifizierung, die Folgen sozialer Separierung, das Schwinden von Gestaltungsspielräumen – unter anderem mit Christiane Rösingers „Musical zur Wohnungsfrage“. Der Titel: „Stadt unter Einfluss“.
Eine der Künstler*innen, die am Festival teilnimmt, hat sieben Jahre lang juristisch gegen ihre Entmietung gekämpft, sich in diversen Mieterinitiativen engagiert. Ina Wudtke, Jahrgang 1968, in Frankfurt/Main aufgewachsen, hatte in den 90er-Jahren mit einen DAAD-Stipendium in New-York die Gentrifizierung im Stadtteil Alphabet City miterlebt. Und dann ab 2006 auch in Berlin.
„Mich beschäftigen vor allem die juristischen Instrumente der Verdrängung“, sagt sie. „Eigenbedarfsklagen, Modernisierungsvereinbarungen.“ Wie es ihr selbst geschah: „Gegen Modernisierungen kannst du nicht gewinnen, wenn du in Ost-Berlin eine Wohnung ohne Badezimmer und mit Ofenheizung hast.“
Ihr 47-Quadratmeter-Wohnung in Mitte wollte der Vermieter zu einer lukrativen Maisonette-Wohnung unter dem Dach umbauen. Und es wurde hässlich. Ein plötzlich undichtes Dach, wo bei einem starken Sommerregen „mehrere Kubikmeter Wasser in meine Wohnung und bis zu vier Stockwerke tiefer“ gelaufen seien. Oder eine Leiter, die durchs Fenster krachte. Dazu Prozesse, Prozesse.
Ihre vierte Klage gegen die Modernisierung verlor sie schließlich. Die Miete wäre um 400 Prozent gestiegen, sagt sie. Bevor sie auszog, filmte sie 24 Stunden lang ihren Fensterblick auf den Fernsehturm. Daraus wurde die Installation „Der 360.000-Euro-Blick“. Die zeigt sie beim HAU-Festival „Berlin bleibt!“
Ina Wudtke sieht im geplanten Mietendeckel und dem Enteignungsvolksbegehren „ein Signal, dass es ein Umdenken gibt, die Probleme politisch zu lösen.“ Und sie sagt: „Das ist eine Chance, die wir nicht verpassen dürfen.“
Ein Requiem für die Verdrängten
Auch Synke Köhler, die Schriftstellerin, ist zur Mietaktivistin geworden. „Es muss gesellschaftlich verpönt sein, ein schlechter Vermieter zu sein“, sagt sie. Auch sie begrüßt den Mietendeckel. Nur nicht die Regelung, wonach nun jemand eine Mietsenkung einfordern kann, wenn er nachweist, dass die Miete 30 Prozent seines Einkommens übersteigt. „Das ist wie bei Hartz IV“, sagt Köhler. „Warum müssen sich immer die Mieter nackig machen? Sollen sich mal die Vermieter nackig machen.“
In ihrem vielschichtig konstruierten Roman setzen sich die Mieter*innen, davon einige mit DDR-Vergangenheit, mit der misslichen Lage verschieden auseinander. Etwa der Rock-Anarchist Grozki, der heimkehrt in seine alte Wohnung. Er bringt die Rebellion zurück in den Spießerbezirk. Oder eine Frau, die seit 34 Jahren mit Mann in dem Haus wohnt und nun mit Psychoterror unter Druck gesetzt ist.
„Das Buch ist für mich auch eine Art Requiem auf die, die gehen mussten, obwohl die meisten nicht gehen wollten“, sagt Synke Köhler. „Die sich natürlich gewehrt haben. Aber es eben doch dann nicht geschafft haben.“
Einen ziemlich guten Nebeneffekt hat die Recherche für ihren Roman auf jeden Fall: Synke Köhler fühlt sich ziemlich gut gewappnet für den Kampf gegen ihre Verdrängung aus dem Kiez.
Und Aufgeben ist keine Option.
Die Entmieteten von Synke Köhler, Roman, Satyr Verlag, 250 S., 23 €
Der 360.000-Euro-Blick von Ina Wudtke, Installation beim HAU-Festival „Berlin bleibt“ (siehe Seite 26) im „Projektraum urbaner Aktion“, ehemalige Post-Filiale, Hallesches Ufer 60, Kreuzberg, Do 26.9.–Sa 5.10.