Überall sah unser Autor plötzlich Schilder, Angebote: zu verschenken. Auf der Straße. Und im Netz. Dann kamen ihm Fragen. Ein Selbsterfahrungsbericht vom Geben und Nehmen in der Konsumgesellschaft
Es begann mit einem Tisch am Straßenrand und einem Zettel mit der Aufschrift: „Zu verschenken“. Ich brauchte Möbel für eine neue Wohnung. Da kam mir das Fundstück gerade recht. Ich lud es auf den Dachgepäckträger meines alten Kombis und fuhr damit in mein neues Zuhause.
In den nächsten Tagen fand ich, ohne dass ich danach gesucht hätte, noch einen Korbsessel und einen Stuhl auf dem Gehweg. Überall entdeckte ich Gebrauchsgegenstände und Bücher, die in Pappkartons auf die Straße gestellt, also offenbar zu verschenken waren. Zuvor hatte ich nie einen Blick dafür gehabt.
Ein Freund gab mir den Tipp, zusätzlich bei Ebay-Kleinanzeigen in der Rubrik „zu verschenken“ nach Dingen Ausschau zu halten. So organisierte ich mir innerhalb weniger Wochen Bücher- und Küchenregale, einen Schreibtisch, ein Bett, ein Sofa und eine Kommode. Nie hätte ich es für möglich gehalten, eine Wohnung auf diese Weise und vor allem in so kurzer Zeit einzurichten.
Mir gefällt die Vorstellung, eines Tages, wenn ich hier wieder ausziehe, die Billy-Regale, die ich gerade mit meinen Büchern gefüllt habe, dann wieder zu verschenken. Eines der Bücher, das mir beim Einräumen in die Hände fiel, heißt „Die Politik der Gabe“ und stammt von dem Hamburger Soziologen Frank Adloff. Darin geht es um nicht mehr und nicht weniger als „ein anderes Zusammenleben“ – wie es im Untertitel heißt. Der Mensch, so Adloff, sei nicht nur ein „Homo oeconomicus“, also ein „egoistischer Nutzenmaximierer“, sondern ebenso ein „Homo donator“, ein gebendes, soziales Wesen.
Die Gabe sei der soziale Kitt schlechthin, führt Adloff kurze Zeit später in einem Vortrag in der Maecenata Stiftung aus. Sie schaffe soziale Bindungen. Nach der Veranstaltung erzähle ich dem Soziologen von den Einrichtungsgegenständen, die ich ohne Gegenleistung bekommen habe, und stelle ihm ein paar Fragen. „Wo steckt der soziale Kitt“, will ich von ihm wissen, „wenn ich einen Stuhl vom Straßenrand mitnehme oder eine bei Ebay inserierte Kommode abhole, mich bedanke und den Gebenden anschließend nie wieder sehe? Was für eine soziale Bindung ist dadurch entstanden?“
„Allein die Tatsache, dass Sie darüber nachdenken, beim Auszug Alltagsgegenstände weiterzuverschenken, zeigt, dass da etwas nachhallt“, sagt Adloff. „Da ist ein Bindungseffekt gegenüber der Gesellschaft festzustellen. Das wäre bei einem Tauschgeschäft beispielsweise nicht der Fall. Nach einem Tausch ist die Beziehung zwischen den Beteiligten vorbei. Man ist quitt miteinander und kann wieder seiner Wege gehen. Bei Gabebeziehungen ist man nie quitt miteinander.“
In der Tat habe ich bald Bedenken, eine Art schlechtes Gewissen. Gibt es nicht Menschen, die diese Dinge viel dringender benötigen als ich, frage ich mich. Kann man einfach so Sachen einsammeln und sich in die Wohnung stellen? Ich habe das Gefühl, nicht nur nehmen zu können, auch etwas geben zu müssen. Bei Ebay-Kleinanzeigen stoße ich auf eine Annonce. Jemand bittet um Pfandflaschen. Bei mir hat sich eine größere Menge Leergut angesammelt. Ich schreibe ihm, dass er sie abholen könne. Schon am Nachmittag kommt er vorbei.
Maik (Name geändert, Anmerkung d. Red.) ist ein durchtrainierter junger Mann, dem man nicht ansieht, dass er die paar Euro wirklich benötigt, die er beim Flaschensammeln erzielt. Ich biete ihm einen Kaffee an, und er erzählt mir, dass er nach längeren Krankenhausaufenthalten und einer Kündigung seines Bürojobs nun als Sport- und Fitnesskaufmann noch mal neu durchstarten will. Bis er einen Ausbildungsplatz gefunden hat, lebt er von Hartz und sammelt Leergut, um sich und seiner Freundin, mit der er gerade zusammengezogen ist, ein paar Extras zu finanzieren. 100 bis 150 Euro verdient er sich auf diese Weise monatlich dazu.
Wenn den beiden etwas in ihrer gemeinsamen Wohnung nicht mehr gefällt, verschenken sie es auf Ebay-Kleinanzeigen und suchen sich dort gegebenenfalls etwas Neues. „Letztens haben wir locker 50 Bücher verschenkt“, erzählt Maik. „Wir hatten ’ne Wohnwand, die wir nicht mehr haben wollten. Die haben wir verschenkt. Wir haben ’ne alte Couch verschenkt, weil wir uns ’ne neue – auch als Geschenk aus einem Internet-Inserat – geholt haben.“
Kleinwagen vom Flaschengeld
Während Maik die Pfandflaschen in seinen „Hackenporsche“ lädt, wie er seinen Einkaufs-trolley nennt, erzählt er von seinem Kleinwagen, den er ebenfalls über das Flaschengeld finanziert, dessen Benutzung sich aber erst bei einer noch größeren Leergutmenge lohnen würde. Auch Möbel transportieren er und seine Freundin effektiv und kostensparend. „Wir haben uns bei ’ner Transportfirma einen Transporter geliehen und uns eine Couch geholt. Währenddessen haben wir unsere Couch schon mal abgebaut und haben sie parallel als ,zu verschenken‘ im Internet inseriert. Kurz darauf hat sich dann jemand gemeldet. So sind wir unsere Couch losgeworden für umme und haben für umme ’ne neue Couch bekommen. Das ist ein Geben und Nehmen tatsächlich.“
Nachdem Maik mit seinem Hackenporsche von dannen gezogen ist, erschrecke ich über mich selbst, weil ich mir eingestehen muss, dass der fitte, lebenstüchtige junge Mann meinem Bild von einem Bedürftigen irgendwie nicht entsprochen hat.
Kaum habe ich ein paar leere Flaschen verschenkt, schon erhebe ich Anspruch auf Samaritertum! Ist es nicht gerade dieser Eigennutz beim Schenken, der das Geschenk diskreditiert, es zu einem Almosen werden lässt? Hatte ich dem Soziologen Frank Adloff nicht zugehört, als er sagte: „Es gibt klassische Formen des Gebens, beispielsweise die bürgerliche Philanthropie, die eigentlich Hierarchien stiftet und erhält. Die oberen Schichten lassen aus Wohltätigkeitsmotiven heraus den unteren Schichten etwas zukommen, die dann aber durch diese Gabe, die sie annehmen, in eine niedrigere Position gedrängt werden.“
Das Geben oder Schenken, so Adloff, geschehe selten nur aus Eigennutz oder aus purem Altruismus. Meist seien es Mischformen, die zu einem Geschenk, einer Gabe führten. Auch Spontaneität und Sympathie spielten beim Prozess des Schenkens eine wesentliche Rolle. „Wenn ich das Gefühl hätte, jemand gibt mir nur, weil er muss, oder nur aus Eigeninteresse heraus, dann würde ich diese Gabe vielleicht gar nicht annehmen wollen. Also zur Gabe gehört, dass da Momente von Freiheit, von Interesse und von Sympathie für andere drin liegen.“
Kurz darauf besuche ich ein befreundetes Künstlerpaar: Iris und Daniel. Die beiden wollen mir einen Mantel schenken. Einfach so. Iris schrieb in einer Mail, dass sie einen Mantel geschenkt bekommen habe, der Daniel nicht passt, mir aber passen könnte. Und nun stehe ich in ihrer Wohnung vor einem Spiegel und probiere ihn an.
„Passt“, meint Iris, Daniel nickt. Das finde ich auch und freue mich. Auch Iris und Daniel ist die Freude darüber anzusehen, dass ihr Geschenk oder ihre Gabe – wie Frank Adloff sagen würde – einen passenden Adressaten gefunden hat. Der Gedanke, dass etwas dorthin soll, wo es hingehört und nicht auf den Müll, sei bei ihr zu einer Art Lebensphilosophie geworden, sagt Iris. „Heute geh’ ich auch noch zu ’ner Schriftstellerin, die hat ’ne zwölfjährige Tochter. Da hab ich sofort drei Bücher. Und ein Kleid hab ich auch noch. Und wenn das passt, schenk ich ihr das. Man stiftet Beziehungen durch das Schenken.“
Auch Iris und Daniel haben viele Möbel und Stücke für ihre Wohnung gestiftet bekommen oder als zu verschenkende Objekte auf der Straße gefunden. Seit zirka zehn Jahren, sagt Daniel, habe eine Art Bewusstseinswandel stattgefunden. Was früher, auch wenn es noch brauchbar war, als Müll im Container gelandet ist, werde heute in Kisten mit der Aufschrift „zu verschenken“ auf die Straße gestellt. „Wenn erstmal das Logo Müll drauf ist, dann ist es für viele Tabu. Das ist mit diesen Kisten, die auf die Straße gestellt werden, was anderes. Die Sachen darin haben nicht den Müllstempel. Dadurch ist die Hemmschwelle gesunken.“
Auch durch das Internet sei es einfacher geworden, Dinge zu verschenken, meint Iris. Die Beziehungen seien unkomplizierter und direkter. „Wenn ich früher was verschenkt habe, dann war das so: Oh, wer kommt da? Man ließ sich am besten noch den ganzen Namen sagen und hat dann einen Termin ausgemacht, ganz detailliert. Und jetzt ist es so: Ach, ich wohn’ in der Nähe und komm gleich mal vorbei. Man hat nicht mehr solche Berührungsängste.“
Bei Spaziergängen bemerke ich, dass sich bestimmte Ecken bereits als Orte etabliert haben, an denen Dinge platziert werden, die zu verschenken sind.
Nichts, auch nicht der alte Schreibtischstuhl, den ich dort abgestellt habe, wartet lange auf einen Interessenten. In der Kollwitzstraße entdecke ich einen begehbaren Schrank, aus Paletten, Holzkisten und Brettern zusammen gezimmert. Darin stapeln sich Bücher, CDs, Kleidungsstücke und Geschirr. Einem Schild entnehme ich, dass es sich um eine Box handelt, in der Dinge verschenkt werden können.
Giveboxes – wie die Gaben-Container neudeutsch genannt werden – gibt es mittlerweile in ganz Deutschland, erfahre ich im Internet. Auch in Frankreich, Schweden, Kanada und in die USA hat sich die Idee einer von Anwohnern verwalteten Schenkstube verbreitet. „Das Konzept fördert Nachhaltigkeit, schont Ressourcen, stärkt die Nachbarschaft, hilft anderen Menschen, befreit von Krempel und schafft ein neues Bewusstsein jenseits von klassischem Konsum und Besitz“, heißt es auf der Facebook-Seite der Givebox-Community.
Schenken und die Konsumlogik
Der Soziologe Frank Adloff ist ebenfalls davon überzeugt, dass das Geben oder Schenken in unserem Zusammenleben künftig eine größere Rolle spielen sollte – als sozialer Kitt eben, der das Gemeinwohl stärkt: „Ich würde nicht dafür plädieren, das Geld abzuschaffen oder so etwas. Ich glaube aber, dass man Prinzipien von Selbstorganisation, Genossenschaften, Gabebeziehungen und Tausch intelligent miteinander verknüpfen kann.“
Anzunehmen, dass das Schenken tatsächlich die Konsumlogik der Marktgesellschaft außer Kraft setzen könnte, wäre sicherlich naiv. Allerdings spüre ich noch immer diesen Bindungseffekt, den Nachhall, von dem Frank Adloff gesprochen hat, das Gefühl, bei Gelegenheit etwas geben zu wollen, ohne es zu müssen. Wenn ich Dinge loswerden möchte, versehe ich diese Gegenstände in meinen Inseraten automatisch mit dem Etikett „zu verschenken“. Früher hätte ich mich gefragt, was der jeweilige Gegenstand noch Wert sein könnte und einen Preis als Verhandlungsbasis festgelegt. Ein Bewusstseinswandel? Zumindest ein Anfang, meint Frank Adloff: „Wenn andere Perspektiven mitgedacht werden und nicht nur der Eigennutz das Denken bestimmt – die Frage: kann ich damit jetzt noch 20 Euro verdienen? – dann ist das ein positives Anzeichen.“