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Interview

Anja Caspary: Jetzt muss ich lernen, einsam zu sein

Im Herbst 2015 wurde bei Anja Caspary Brustkrebs diagnostiziert, im Frühjahr 2016 bei ihrem Mann Hagen Liebing Gehirntumore. Jetzt hat die Radioeins-Musikchefin über dieses Schicksalsjahr ein bewegendes Buch geschrieben, „In meinem Herzen steckt ein Speer“.

Als tipBerlin-Redakteur Erik Heier Anja Caspary zum Gespräch traf, erinnerte er sich auch daran, wie Hagen und Anja mit ihm und dem tipBerlin-Kollegen Lutz Göllner im Juni 2016 in ihrem Garten über Musik und das Leben redeten – fast genau drei Monate, bevor der frühere „Ärzte“-Bassist Liebing am 25. September 2016 in Berlin seinem Krebsleiden erlag.

Ein Gespräch mit Anja Caspary über totale Nahdistanz beim Schreiben, das Böse in den Brüsten, die Frage, warum Gott so eine Scheiße zulässt – und eine große Liebe bis zum Tod und darüber hinaus.

Radioeins-Musikchefin Anja Caspary. Foto: Annette Apel
Radioeins-Musikchefin Anja Caspary. Foto: Annette Apel

tipBerlin Anja, normalerweise siezen wir beim tip-Interview, aber hier wäre das ja Quatsch…

Anja Caspary Es ist ja der tip! Das ist wie Familie. Ein Interview mit dir ist deshalb viel schwieriger als mit allen anderen. Weil ich weiß, dass ihr jeden Tag zusammengearbeitet habt. Ihr alle kanntet Hagen so gut wie ich – auf eine andere Art, aber über Jahrzehnte.

tipBerlin Ende August 2015 wurde bei dir Brustkrebs diagnostiziert, ein halbes Jahr später bei Hagen mehrere Gehirntumore. Jetzt hast du darüber ein Buch geschrieben. Ich fand es unglaublich schmerzlich zu lesen. Wie war es erst, es zu schreiben?

Anja Caspary Ich wurde vom Verlag quasi überredet. In Nachhinein bin ich dankbar dafür. Das war schon ein Kraftakt und eine Therapie. Und es hat mir geholfen, das alles zu verarbeiten.

tipBerlin Das Buch hast du aus totaler Nahdistanz geschrieben, es ist offen und intim und ungeschützt. Du schreibst über Liebe, Sex, Brüste, Sperma, Samenleiter. Darüber, wie ihr Hagens Sterilisation, für die er sich in jungen Jahren entschieden hatte, operativ rückgängig machen ließt.

Anja Caspary Und über Schamlippen…

tipBerlin Auch das. Hast du den Text zwischendurch einmal jemandem gezeigt?

Anja Caspary Ich hab’s niemandem gezeigt, niemandem vorgelesen. Meine Lektorin war die erste, die es gelesen hat. Sie fand’s gut.

Anja Caspary: Manchmal dachte ich, wir hatten so viel Glück, dass wir dafür dann bestraft wurden

tipBerlin 25 Jahre waren Hagen und du ein Paar. Ich weiß nicht, ob so etwas wie eine perfekte Beziehung gibt. Aber ihr wart verdammt nah dran, oder?

Anja Caspary Ich glaube auch. Deswegen dachte ich manchmal, wir hatten so viel Glück, dass wir dafür dann irgendwie bestraft wurden. Das ist natürlich ein abergläubischer Scheiß. Aber manchmal denkt man das ja.

tipBerlin Wie habt ihr euch kennengelernt?

Anja Caspary Ich war am 12. November 1991 im Hard Rock Café in der Meinekestraße, das wurde an dem Tag eröffnet. Es war total voll. Ich hatte eine wahnsinnig hässliche pinke Strickjacke an und trug ein Aufnahmegerät, weil ich für Radio4you von der Eröffnung berichtet habe. Mein Blick blieb am Profil eines wahnsinnig gutaussehenden Mannes hängen. Schwarze Haare, schwarze Augenbrauen, schwarze Leder­jacke. Und er hatte ein bisschen kaputte, angefressene Zähne, was ich schon immer sexy fand. Ich habe Leute gefragt: Wer ist der Typ da? Die meinten: Der ist von den „Ärzten“.

tipBerlin „The Incredible Hagen“ hatte bis zu ihrer temporären Auflösung 1988 bei den Ärzten, der besten Band der Welt, Bass gespielt.

Anja Caspary Bei den „Ärzten“ hatte ich nur Erinnerungen an einen Blonden und einen Hakennasigen. Wie immer war mir der Bassist der Band nicht präsent!

tipBerlin Das Schicksal aller Bassisten.

Anja Caspary Der Fotograf des „Tagesspiegel“ hat uns vorgestellt. Dann haben wir uns angeguckt. Na ja, und wahrscheinlich ist in dem Moment irgendwie eine tektonische Platte verschoben worden…

Junges Paar: Anja Caspary und Hagen Liebing: Eine tektonische Platte muss sich verschoben haben. Foto: Kai-Uwe Heinrich
Junges Paar: Anja Caspary und Hagen Liebing: Eine tektonische Platte muss sich verschoben haben. Foto: Kai-Uwe Heinrich

tipBerlin Du hast im Buch alle Kapitel mit Songtiteln überschrieben. Das Kapitel eures Kennenlernens heißt: „The Storm“ von der Band Fat Mattress. Das musste ich erst googeln.

Anja Caspary Ich kannte den damals auch nicht. Der Song war auf seiner ersten Kassette, die er für mich aufgenommen hat. Er hat mir jedes Mal, wenn wir uns gesehen haben, eine Kassette aufgenommen – und ich ihm. Das haben wir quasi unser ganzes Leben lang gemacht: uns gegenseitig Lieder vorgespielt.

Warum sollte mich das treffen?

tipBerlin Fast forward, zum letzten Augusttag 2015. Am Vormittag solltest du deinen Vertrag als neue Radioeins-Musikchefin unterschreiben. Am Morgen hattest du einen Mammografie-Termin für eine Brust­untersuchung.

Anja Caspary Als die Ärztin beim Ultraschall gesagt hat, sie sieht da was, sagte ich, das ist bestimmt ein Knoten von einer Brustentzündung, die ich damals beim Stillen hatte. Ich war der absolut festen Überzeugung, dass es ein Fehlbefund sein musste. Warum sollte mich das treffen?

tipBerlin „Brustkrebs war etwas, das andere hatten“, schreibst du.

Anja Caspary Ja! Andere, die vielleicht familiäre Belastungen haben, die nicht so gesund leben wie ich.

tipBerlin Einen Tag später hast du deinen Einstand als Musikchefin gefeiert. Warum wolltest du den Kollegen erst nichts von der Diagnose sagen?

Anja Caspary Zu früh. Ich musste mich damit ja selber erst mal auseinandersetzen. Mit dem Gefühl, dass ich gar nichts davon merke, mich total fit fühle. Aber plötzlich wächst in mir ein bösartiges Zeug, das mich womöglich tötet. Krebs war ja für so jemand Ahnungslosen wie mich gleichbedeutend mit: todkrank sein, dahinsiechen und bald nicht mehr existieren. Das kann man ja nicht gleich jedem erzählen.

tipBerlin Bei einer Vollversammlung hast du es nach der Operation offengelegt. Dass du Brustkrebs hattest.

Anja Caspary Die waren schon sehr still, als ich das gesagt habe. Aber viele Kolleginnen haben mir hinterher erzählt, dass sie sofort einen Termin bei einer Frauenärztin gemacht haben.

Typische Schulmediziner empfehlen dir nicht, die Brüste amputieren zu lassen

tipBerlin Du hattest Tumore in beiden Brüsten.

Anja Caspary Ja, zum Glück bin ich zu dem Screening gegangen, zu dem jede Frau mit 50 eingeladen wird. So wurde der Krebs früh entdeckt, tasten konnte man ihn nicht. Typische Schulmediziner empfehlen dir nicht, die Brüste amputieren zu lassen. Nur die Knoten herausnehmen, dann bestrahlen. Sollten schon die Lymphknoten befallen sein, der Krebs also gestreut haben, dann auch Chemo­therapie. Die Ärzte raten dir von allein gar nicht, dass man eine Mastektomie machen könnte, die ein viel günstigeres Ergebnis hat. Dann kann kein Rückfall in den Brustdrüsen passieren. Da sind ja keine mehr.

tipBerlin Du hast dich damit durchgesetzt.

Anja Caspary Ich dachte: Hauptsache, ich bin gesund, das Böse ist weg und ich kann mir die Bestrahlung ersparen, die ja auch Lungengewebe oder Herzgewebe zerstören kann.

tipBerlin Seit wann trinkst du keinen Alkohol mehr?

Anja Caspary Damit hatte ich schon ein Jahr vorher angefangen. Von ganz alleine. Im Nachhinein dachte ich, vielleicht war das wie eine Reaktion meines Körpers, der es schon wusste und der gesünder sein wollte, so ’ne Art somatischer Intelligenz.

tipBerlin Wann hast deine ganze Ernährung auf „radikal gesund“ umgestellt?

Anja Caspary In der Nacht vor der Brust-OP im Krankenhaus hat mir meine Bettnachbarin das Buch „Krebszellen mögen keine Himbeeren“ rübergereicht. Das habe ich gelesen und dachte: Ach, du Scheiße! Ich will mich jetzt nur noch gesund ernähren. Ich will gar keine Gifte mehr zu mir nehmen. Vielleicht kommt ja Krebs daher, dass wir so vergiftet sind innerlich, von Abgasen, Schwermetallen, Pestiziden, Amalgam-Füllungen, dem ganzen Mist. Ich habe dann auch sofort das Krankenhausessen verweigert.

tipBerlin Hagen war ja eher der, du nanntest es: „Pizza-Currywurst-Berliner“. Hast du versucht, ihn von deiner Diät zu überzeugen?

Anja Caspary Nein. Unsere Beziehung hat immer so funktioniert, dass jeder den anderen so sein lässt, wie er ist. Wenn ich abends Vollkornreis mit Gemüse gekocht habe, musste er sich seine Currywurst ohne Darm aber schon selber machen.

tipBerlin Ihr seid Ostern 2015 nach Tirol gefahren. Wann hast du gemerkt: Mit Hagen stimmt etwas nicht?

Wie kann ein Gott so viel Scheiße zulassen?

Anja Caspary Dass er anders war, ist mir schon vorher aufgefallen. So wenig Kommunikation, besonders unter Leuten. Im Urlaub war er auch so schlapp, wollte nicht mit mir wandern, wirkte alt. Dann hing plötzlich sein Mundwinkel runter. Seine Hand war ohne Kraft. Wir dachten, er hätte einen Schlaganfall. Dann hat sich herausgestellt, da war was in seinem Gehirn. Aber keine Blutung. Die Diagnose war dann: Glioblastom.

tipBerlin Er hatte vier bis fünf Gehirntumore. „Wie kann ein Gott so viel Scheiße zulassen?“, schreibst du.

Anja Caspary Die Häufung mit meiner Krankheit und seiner ist ja schon unverschämt viel. Eine Sache von beiden hätte ja genügt. Oder gar keine, noch besser…

tipBerlin Du musstest von Jetzt auf Gleich umswitchen. Deine eigene Operation lag gerade ein paar Monate zurück.

Anja Caspary Im Familiengefüge war ich ja noch die Patientin. Mein Körper war schockiert, dass er keine Brüste mehr hatte. Und plötzlich war das alles anders, weil klar war, dass Hagen bald sterben würde. Dann war mein Brustkrebs kein Thema mehr, außer für mich. Ich habe ja diese Bücher alle gelesen, wo drinsteht, dass man sich vom Stress befreien soll, damit kein Rückfall kommt. Dass psychisch alles bestens sein soll. Bei mir war überhaupt nichts bestens! Auch nach Hagens Tod nicht. Wo ich jeden Tag geheult habe, jede Nacht. Ich dachte, ich muss bestimmt nur noch drei Tage warten, dann habe ich wieder Brustkrebs.

Man will eigentlich nur die Decke über den Kopf ziehen und weinen

tipBerlin Du musstest nach außen funktionieren. War das auch ein Abschotten deines inneren Ichs?

Anja Caspary Ich fühlte mich wie ein Roboter, wie ein Automat. Arbeiten zu gehen war ja schön. Das war die einzige Sache, die übrig geblieben war vom alten Alltag. Der mir so gut gefallen hat, der alte Alltag. Mit ihm und allem. Aber die ganzen Sachen, die man jetzt machen musste: Einkaufen, Kochen, Putzen, Rechnungen, Garten, Dinge reparieren, die kaputt sind, Sterbeurkunden an Ämter schicken, Konten ummelden. Irgendwann habe ich gar nicht mehr nachgedacht, einfach eines nach dem anderen abgearbeitet. Obwohl man eigentlich sich hinlegen, die Decke über den Kopf ziehen und nur weinen will.

tipBerlin Hagen ist am 25. September 2016 in einem Hospiz gestorben. Ich habe ihn eine Woche vor seinem Tod noch besuchen können. Und ihn dafür bewundert, wie er sein Schicksal angenommen hat. Du hast ihn im Buch deinen „Zen-Meister“ genannt.

Anja Caspary Wahnsinn, oder? Der Mann, der gar nicht esoterisch veranlagt war. Der nie an Yoga interessiert gewesen wäre, sich aber freute, dass ich sowas gemacht habe. Dass ausgerechnet er so stark war, uns so geschützt hat durch seine Beherrschtheit! Dieses tibetische Buch vom Leben und Sterben, das hat er durchgezogen, ohne es jemals gelesen zu haben! Deswegen haben wir vielleicht auch so gut zusammengepasst. Er war Zen von Anfang an und ich habe mir das drauf­geschafft. Ich weiß nicht, wo er das herhatte. Der war vielleicht im früheren Leben ein Yogi oder so… Wie hast du ihn denn damals im Hospiz erlebt?

tipBerlin Aufgeräumt, erstaunlich klar. Und immer noch witzig. Er erzählte zum Beispiel, wie er ein Buch von Michel Houellebecq angefangen hatte und dachte, er schafft es sowieso nicht mehr. Dann war er damit durch. Und lebte immer noch. Also nahm er sich das nächste Houellebecq-Buch vor.

Anja Caspary Ich hatte nie das Gefühl, dass er wütend ist, dass das Schicksal so schlecht mit ihm, mit uns umgeht. Das Wissen, dass er seine Kinder nicht aufwachsen sehen wird, dass er nie Enkel erleben wird, das muss schmerzhaft gewesen sein für ihn. Ich weiß, dass er nur einmal geweint hat, mit unserer Tochter auf dem Sofa, das hat sie mir später erzählt. Er war so gefasst, dass wir alle aufgefordert waren, auch nicht zu verzweifeln, es ähnlich gefasst aufzunehmen wie er.

Cover Anja Caspary, "In meinem Herzen steckt ein Speer.
Cover „In meinem Herzen steckt ein Speer“ von Anja Caspary. Foto: Ullstein

tipBerlin Bei der Trauerfeier hast du deine Rede nicht vorbereitet, sondern frei heraus gesprochen. Es war ein bisschen, wie jetzt das Buch ist, intim und offen und ungeschützt.

Anja Caspary Meine Absicht war, mein Babe noch einmal zu beschreiben und ihn dann auf die Reise zu schicken. Ich kann mich an viele, die da waren, nicht mehr erinnern. Aber an euch, seine tip-Kollegen, sehr gut! Über euch schwebte sowas wie eine graue Schraffur. Die habe ich richtig gesehen. Weil eure Trauer neben unserer familiären Trauer wahrscheinlich die größte war. Und das hat man gespürt.

Unsere Kinder hat es in der Phase der Abnabelung erwischt

tipBerlin Gibt es jetzt, vier Jahre nach Hagens Tod, fünf Jahre nach deiner Krebs-Operation, irgendeine Art von Normalität?

Anja Caspary Es ist nicht mehr so, dass wir jeden Tag spüren, da fehlt einer. Jetzt sind wir halt zu dritt. Unsere beiden Kinder hat es erwischt in der Phase der Ab­nabelung von den Eltern. Als sie rauswollten ins Leben. Da musste ich mich auch ganz doll zusammenreißen, dass ich ihnen das ermögliche. Meine Normalität ist eher die, dass ich jetzt lernen muss, nachdem ich ein halbes Leben lang nie alleine war, einsam zu sein. Ich finde, dass ich das ganz gut meistere. Ich kann überall alleine hingehen. Auch wenn ich weiß, da ist niemand, den ich kenne. Vielleicht lerne ich ja jemanden kennen.

tipBerlin Hast du beim Schreiben des Buchs über Leser*innen nachgedacht?

Anja Caspary Das Buch ist absichtslos entstanden. Aber während ich daran geschrieben habe, speziell am Brustkrebs-Part, habe ich gemerkt, dass ich meinen Schwestern helfen will, anderen Frauen also, zu sich zu stehen, anzunehmen, wie sie sind. Und ich will, dass sie wissen, dass andere Frauen auch Haare an den Brustwarzen haben, komische Schamlippen, vielleicht keine perfekten Brüste, oder in meinem Falle jetzt gar keine mehr, sondern nur noch hässliche, entstellende Narben. Dass meine Schwestern wissen: Sie sind nicht allein und sollten sich nicht unter Druck setzen lassen.


  • „In meinem Herzen steckt ein Speer. Das Jahr, das alles veränderte“ von Anja Caspary, Ullstein Paperback, 288. Seiten, 16,99 €

2016 starb unser tip-Kollege Hagen Liebing:

Zwei bewegene Nachruf, die nach dem Tod von Hagen Liebing am 25. September 2016 im tipBerlin erschienen: Sein Freund und Mentor Wolfgang Doebeling erinnerte sich an die letzten Stunden und die alten Zeiten mit Hagen Liebing. Und auch dessen damaliger Zitty-Kollege Lutz Göllner, heute ebenfalls bei tipBerlin, fand bewegende Worte in seinem Nachruf auf Hagen Liebing.

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