Anders als im Frühjahr dürfen Gottesdienste in der Pandemie trotz der angespannten Lage beim Infektionsgeschehen stattfinden. Ist das der richtige Weg? Unsere Redakteurinnen Claudia Wahjudi und Julia Lorenz haben da ganz unterschiedliche Ansichten.
Wer Demokratie will, muss die „ungestörte Religionsausübung“ sichern, meint Redakteurin Claudia Wahjudi
Pro: Das Grundgesetz sichert die Religionsausübung
Sie haben dazu gelernt: Über die neuen Kontaktbeschränkungen haben Politiker*innen anders entschieden als im Frühjahr. Unter Wahrung von Sicherheitskonzepten bleiben Schulen und Kitas zunächst offen, sind Demonstrationen und Gottesdienste möglich. Der Mensch lebt nicht vom Bruttoinlandsprodukt allein.
Doch die neuen Beschränkungen verschärfen alte Ungleichheiten. Auch deshalb sprechen sich kritische Stimmen gegen offene Kirchen aus. Teils zu Recht: Im Sommer hatten unter anderem Freikirchen Infektionen zu verantworten. Teils zu Unrecht, weil in dieser Gegenrede Kritik an Kirchen allgemein mitschwingt. Sie bieten Anlass genug dafür. Doch das ist ein anderes Thema, und bei Gottesdiensten geht es nicht um Kirchen allein.
Das Grundgesetz sichert nicht nur die Glaubensfreiheit, sondern auch die „ungestörte Religionsausübung“. Dazu zählt die Teilnahme am Gemeindeleben. Religion ist Miteinander. So finden sich christliche Nächstenliebe, muslimische Barmherzigkeit und jüdische Wohltätigkeit in konfessioneller Kranken- und Altenpflege wieder, in Kitas, Demenz-WGs, Geflüchtetenhilfe, Seelsorge. Ohne sie wäre der Sozialstaat noch weiter erodiert. Doch auch dieses Netz hat in der Pandemie Löcher bekommen. Knotenpunkt bleibt ein kalt gelüftetes Haus für die eingeschränkte Religionsausübung ohne Gesang und großes Fastenbrechen, für einen Rest Musik und alte Kultur. Mit den Gotteshäusern bleibt ein Teil gesellschaftlichen Lebens begrenzt offen, und zwar einer, der das Potenzial hat, Politik und Staaten zu gefährden. Dass sie dieses Potenzial aushält, zeugt von der Stärke der Demokratie.
Auch ihretwegen kommen Menschen hierher. Sie haben Tempel, Kirchen, Synagogen und Moscheen zu transnationalen Orten gemacht, zu Anlaufstellen unter anderem für Zugezogene, die hierzulande Glaubensfreiheit suchen. Wer solch eine offene Gesellschaft will, sorgt auch in einer Krise dafür, dass ihre Grundrechte so weit wie nur irgend möglich gelten.
Redakteurin Julia Lorenz wünscht sich gerade so ernsthaft wie nie, sie könnte ein wenig Zuversicht im Glauben finden.
Contra: Kunst und Kultur sichern gesellschaftliche Freiheit
Man könnte es sich ja furchtbar leicht machen – und den Spieß einfach umdrehen. Als im Frühjahr die Gotteshäuser schlossen, sahen Kritiker*innen der Maßnahme die Religionsfreiheit in Gefahr. Nun wurden die Museen dichtgemacht, die ja – anders als Kirchen, anders als Bars – bislang nicht als Superspreader-Hotspots aufgefallen sind. Was ist nun mit der Kunstfreiheit? Die ist immerhin auch ein Grundrecht, genau wie die Religionsfreiheit.
Die Frage klingt sicherlich missgünstig. Ich neide aber keiner gläubigen Person den Trost, die Kraft und Inspiration, die sie aus einem Gottesdienst zieht. Im Gegenteil. Die Entscheidung des Staats halte ich trotzdem für falsch – und vielsagend. Nicht nur, dass Theater und Ausstellungen anregende, Sinn oder Gemeinschaft stiftende Unterhaltung für alle (und nicht nur für Gläubige!) bieten können; nicht nur, dass gerade kleine Kulturinstitutionen als Wirtschaftsunternehmen darauf angewiesen sind, nicht ins Hintertreffen zu geraten.
Dass das Grundrecht auf Religionsfreiheit gerade schwerer wiegt als das auf Kunstfreiheit, nährt bei mir die Sorge, die Pandemie könne die Gesellschaft wieder traditioneller ticken lassen. Im Dienste des Infektionsschutzes müssen gerade Entwicklungen rückgängig gemacht werden, die vor allem das linke Milieu als Errungenschaft sieht: Care-Arbeit findet verstärkt zuhause statt – und bleibt oft an Frauen kleben. Mühsam enthierarchisierte Beziehungen werden durch Kontaktbeschränkungen wieder eingehegt. Für alle, die unter Freiheit etwas anderes verstehen als die Mehrheitsgesellschaft, bleibt wenig Raum. Und jetzt können wir nicht mal mehr zusammen Kunst gucken, sondern nur noch beten.
Klar, das klingt polemisch. Natürlich schwirren durch viele Gotteshäuser progressivste Ideen. Natürlich eröffnet nicht jeder Kinoabend verblüffende Perspektiven. Aber jetzt, wo eine ganze Gesellschaft sich einschränken muss, gerade die Religionsfreiheit zu priorisieren, ist ein irritierendes Signal.
Trotz Lockdown – komplett auf Kultur verzichten müssen wir nicht. Unsere Streaming-Tipps bringen euch durch den November. Und weil sie als Geschäfte gelten, haben auch die Galerien der Stadt geöffnet. Und falls ihr mal eine Party mit euch selbst schmeißen wollt, dann lasst euch von unserem Corona-Club-Guide für die eigenen vier Wände inspirieren.