Immer wieder fordern Kampagnen in Berlin Menschen dazu auf, sich regelmäßig auf sexuell übertragbare Infektionen (STI) testen zu lassen. Doch das ist gar nicht so einfach. Vor allem Frauen stellen sich dabei zahlreiche Hindernisse in den Weg – von hohen Kosten über falsch abgerechnete Leistungen bis hin zu verurteilendem Verhalten in den Arztpraxen.
STI in Berlin: „Juckt’s im Schritt?“ Dein Problem!
Marie* war froh, überhaupt eine Gynäkologin gefunden zu haben. Mit schweren Blutungen war sie vor einigen Jahren nach ihrem Umzug nach Berlin an einem kalten Novembertag durch die Stadt gelaufen und wurde an vier Praxen abgewiesen. Aufnahmestopp für Patient:innen, alles überfüllt. Deswegen kam es für die 41-jährige Psychotherapeutin nicht in Frage, die Praxis zu wechseln, als ihre Frauenärztin ihr eine saftige Rechnung über etwa 100 Euro zusenden ließ – nicht für die Behandlung der Blutungen, sondern für eine Dienstleistung, die eigentlich hätte kostenfrei sein können. Die Dienstleistung: Marie hatte sich auf alle Geschlechtskrankheiten von Gonorrhö bis HIV testen lassen. „Ich habe versucht, das Richtige zu machen und wurde dann dafür bestraft“, sagt sie.
Sich regelmäßig auf sexuell übertragbare Krankheiten testen zu lassen, gehört für alle, die nicht monogam aktiv sind, zu einem verantwortungsvollen Sexleben. Darauf weist auch immer wieder die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung hin, in Berlin zuletzt mit einer großen Plakatkampagne. In den U-Bahn-Stationen hingen noch bis vor kurzem große Plakate mit Slogans wie: „Juckt’s im Schritt? Lass dich testen.“
Das ist aber gar nicht so einfach – auch nicht in Berlin mit seinen vielen sex-positiven Partys und einer vermeintlich offenen Stadtgesellschaft. Laut einer nicht-repräsentativen Umfrage der Safer-Nightlife-Kooperation Sonar sind knapp 40 Prozent der Cis Frauen unzufrieden mit den Möglichkeiten, sich in Berlin testen zu lassen. Eine Gesamtlage, die sich zudem vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Erfahrung einer mehrjährigen Corona-Pandemie zeigt. Covid-19 hat eigentlich das Bewusstsein für ansteckende Krankheiten geschärft. Für Geschlechtskrankheiten scheint bei politischen Entscheidungsträgern dieser Lerneffekt nicht zu gelten.
Kostenfreie STI-Tests gibt es nur mit Anlass
Kostenfreie Tests auf STI (Sexually Transmitted Infections) bekommt eine Frau in Deutschland in gynäkologischen, dermatologischen und Hausarztpraxen nur, wenn sie Symptome hat oder eine Indikation besteht, also sie ungeschützten Geschlechtsverkehr mit einer positiv getesteten Person hatte. Dabei ist es gerade ratsam für Menschen, die viel Sex mit unterschiedlichen Menschen haben, sich auch ohne Symptome oder Indikation regelmäßig, also ungefähr alle drei bis sechs Monate, durchchecken zu lassen – egal ob man Sex mit oder ohne Kondom hatte. Denn STI wie Gonorrhö oder Chlamydien können – wenn auch mit geringerem Risiko – ebenso mit Kondom übertragen werden.
Marie hatte zu der Zeit, als die Rechnung ihrer Gynäkologin in ihrem Briefkasten lag, Sex mit wechselnden Partner:innen bei Fetischpartys gehabt. Sie wusste, in welchen Fällen es kostenfreie Tests gibt und entschied sich, ihre Gynäkologin anzulügen.
Sie sagte, sie hätte ungeschützten Sex gehabt und sei symptomatisch – beides stimmte nicht. „Da wird’s einem echt nicht leicht gemacht“, sagt sie. „Wer lügt schon gerne.“ Die 100-Euro-Rechnung bekam sie trotzdem – und zahlte, weil sie die Vorstellung, darüber zu diskutieren, unangenehm fand. Und weil sie Angst hatte, ihre neue Gynäkologin „zu vergrätzen“. Jetzt, da sie endlich eine gefunden hatte.
STI-Tests in Berlin: Für schwule und bisexuelle Männer ist die Lage besser
Für schwule und bisexuelle Männer sowie trans- und inter Personen ist die Lage besser. Es gibt zum Beispiel den „Checkpoint BLN“, wo sich die oben Genannten je nach finanzieller Situation entweder kostenfrei oder für wenig Geld auf alle STI testen lassen können.
Dort war Joyce. Joyce ist nicht-binär, identifiziert ihre geschlechtliche Identität als fließend. „Das war schon ungewohnt: Ich hatte da auf einmal ein Privileg, weil ich non-binary bin“, sagt Joyce. „Und ich fand es schon krass, wie gut und ausführlich ich da beraten wurde. Ich bin da gar nicht mehr rausgekommen.“ Bevor sie vom Checkpoint erfuhr, hatte sich Joyce bei ihrer Gynäkologin testen lassen, ohne Beratung, dafür aber für 90 Euro. „Ich hab das dann einfach gezahlt, sozusagen als Investition in meine Gesundheit. Aber wie machen das Leute mit weniger Geld?“
Vielleicht so wie Paul*. Paul, heterosexuell, 40 Jahre alt, hat ein Angebot speziell für schwule und bisexuelle Männer genutzt und sich dort kostenfrei auf alle STIs testen lassen. Über seine Sexualität lügen musste er nicht, weil er gar nicht erst danach gefragt wurde. „Ich mache das regelmäßig in jeder Beziehung, bevor wir die Gummis weglassen. Kein Bock, jemandem was anzuhängen“, sagt er.
Fünf Zentren für sexuelle Gesundheit in Berlin
In Berlin gibt es außerdem die Möglichkeit, sich in einem der fünf Zentren für sexuelle Gesundheit testen zu lassen. Dort ist es andersherum, als in den Praxen niedergelassener Ärzt:innen: Man kann sich anlasslos testen lassen, muss also keine Symptome oder Sex mit einer infizierten Person gehabt haben. Im Gegenteil: Bei wem das der Fall ist, soll zu den Niedergelassenen gehen. Zuvorderst sind die Zentren nämlich für Menschen da, die besonders gefährdet sind: Sexarbeiter:innen, Drogenabhängige und nicht Krankenversicherte.
Viele ihrer Patient:innen hätten lange nicht gewusst, dass es die Zentren gibt, berichtet Tessa Winkel, Gynäkologin im Zentrum für sexuelle Gesundheit Charlottenburg-Wilmersdorf. Winkel sieht die Aufklärung darüber, wann welche Tests angemessen sind, als zentral an. „Das hat auch etwas mit Empowerment zu tun“, sagt sie.
Nicht alle bräuchten regelmäßig alle Tests. Wer aber häufig wechselnde Sexpartner:innen habe, womöglich ungeschützt, für den sei das sinnvoll. Diese Menschen teste sie auch großzügig, sagt sie. Außerdem stellt sich die Frage, was wäre, wenn sich wirklich alle mit wechselnden Partner:innen aktiven Berliner:innen dort testen lassen würden. Würden die Zentren dann völlig überlastet sein? Wäre es nicht besser, wenn reguläre Praxen das übernehmen würden?
Ob die Zentren dann überfordert wären und ob es eine Versorgungslücke gibt, darauf will Tessa Winkel keine klare Antwort geben. Derzeit könnten die Zentren die Anzahl der Patient:innen bewältigen, sagt sie. Doch Andrea Piest, Fachreferentin für Gesundheit bei Notdienst Berlin e.V. und Mitarbeiterin bei Sonar, berichtet, dass Stellen wie „Checkpoint BLN“ von Cis-Frauen überrannt würden.
Häufig fühlen sich Frauen von Praxispersonal stigmatisiert
Neben den Kosten, die für STI-Tests bei niedergelassenen Ärzt:innen entstehen, könnte die Verletzung der Intimsphäre ein Grund dafür sein. „Da hören ja oft von mehreren Arzthelfer:innen bis zu anderen Patient:innen mehrere Leute mit. Da stelle ich mich ja nicht hin und spreche über stigmatisierte Krankheiten. Niemand sagt gerne vor anderen Leuten: ‚Ich habe grünen Ausflussʻ“, sagt Piest.
Häufig fühlten sich Frauen auch, oft von den Ärzt:innen, aber besonders häufig vom Praxispersonal, stigmatisiert, erzählt Piest. Das komme durch heteronormative Nachfragen nach einem Partner, den es nicht zwingend geben muss, oder durch missbilligende Kommentare, wenn klar wird, dass die Frau wechselnde Sexualpartner:innen habe. Tessa Winkel, Gynäkologin im Zentrum für sexuelle Gesundheit Charlottenburg-Wilmersdorf, hört von ihren Patient:innen ähnliche Berichte.
Marie macht sich folgende Gedanken: „Ich bekomme bei meiner Gynäkologin – mit Glück – nur Tests, wenn ich mich als symptomatisch vorstelle und lüge. Aber ich kann da doch nicht alle drei Monate mit vermeintlichen Symptomen ankommen und dann irgendwann zur Schwangerschaftsberatung dorthin gehen“, sagt sie. „Was soll die Ärztin da von mir denken?“ Ihre Ärztin habe eh schon nicht so viel mit Menschen zu tun, die wie sie ein freizügiges Sexualleben führten und zum Beispiel auf sexpositive Partys gingen – das merke sie auch an den Gesprächen mit ihr.
Mehr Kassensitze für Gynäkolog:innen nötig
Cis-Frauen haben es faktisch am schwersten, an Tests zu kommen: Für sie gibt es keine speziellen Anlaufstellen wie für homosexuelle Männer und solche, die sich als schwul ausgeben. Gleichzeitig seien sie zumindest im Vergleich zu Cis-Hetero-Männern etwas besser informiert, sagen sowohl Andrea Piest als auch Tessa Winkel. Mehr Aufklärung für alle brauche es trotzdem dringend, sagen beide.
Andrea Piest sieht die Wurzel der Probleme einerseits in dem Umstand, dass es zu wenig Gynäkolog:innen mit Kassensitz gibt – und sie aufgrund der überfüllten Praxen keine Zeit haben, ihre Patient:innen angemessen zu beraten. Andererseits müsse sich in der Ausbildung und im Denken der Ärzt:innen grundsätzlich etwas ändern. „Da verändert sich gerade ein ganzes gesellschaftliches Narrativ. Aber es ist in breiten Teilen der Gynäkologie noch nicht angekommen, dass eben nicht nur Familienplanung und Krebsvorsorge zu ihren zentralen Verantwortungsbereichen gehören“, sagt Piest.
Tessa Winkel testet Patientinnen, die Symptome, aber keine Gynäkologin und keinen Gynäkologen haben, bewusst nicht. Stattdessen verweist sie sie an die kassenärztliche Vereinigung Berlin. „Damit politischer Druck entsteht und dort klar wird, wie dringend wir mehr Kassensitze für Gynäkolog:innen brauchen.“
tipBerlin hat bei der kassenärztlichen Vereinigung Berlin und beim Berufsverband der Frauenärzte nachgefragt, ob sie die aktuelle Teststrategie für sinnvoll halten, ob die Überlastung der Praxen für die derzeitige Situation eine Rolle spiele und ob niedergelassene Ärzt:innen nicht die Möglichkeit hätten, denjenigen, die sich testen lassen wollen, entgegen zu kommen. Beide Institutionen erklärten sich für diese Fragen nicht zuständig. Der Berufsverband der Frauenärzte betont einzig, dass Tests auf Chlamydien für Frauen bis zu ihrem 25. Lebensjahr kostenfrei sind. Und dass eine begleitende Beratung zu STI-Tests immer ratsam sei.
Inzwischen hat Marie nicht mehr so viele wechselnde Partner:innen. Zwischendurch hatte sie auch von den Zentren für sexuelle Gesundheit erfahren. Davor aber war ihre Lösung, sich seltener testen zu lassen. „Aber das kann eigentlich nicht sein“, sagt sie. „In dieser Stadt wird so viel Geld rund um Sex und kinky Lifestyle gemacht. Und auf der anderen Seite fehlt die Infrastruktur, um so einen Lebensstil sicher zu fahren. Da bist du dann auf dich allein gestellt.“
*Name geändert
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