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Jahresrückblick

12 Unwörter, die wir 2020 gelernt haben: Von Lockdown bis Querdenker

Eigentlich ist die Wahl des Unworts etwas, das mehr oder minder eindeutig ausfällt. 2020 gab es aber gleich so viele Unwörter, dass schnell der Überblick verlorengeht. Wir lernten, dass Klopapier knappes Gut ist und Hotspots definitiv nicht Place to be. Neben der Umdeutung altbekannter Wörter schwirrten neue Begriffsmonster durch dieses längste aller Jahre. Eine Auswahl von 12 Unwörtern, die wir getrost so schnell vergessen wollen, wie sie aufkamen.


Lockerungsmaßnahmen, die

Unwörter 2020: Zugegeben, der Sommer war dann doch recht locker. Foto: Imago Images/Ralph Peters
Zugegeben, der Sommer war dann doch recht locker. Foto: Imago Images/Ralph Peters

Ist der R-Wert oben, gibt es sie nicht, ist er niedrig, darf das Volk in Möbelhäuser, Konsumtempel und Kneipen. Kultureinrichtungen auch irgendwann. So sehr sich die ganze Welt eigentlich nichts anderes wünscht, sind Lockerungsmaßnahmen synonym mit Wörtern wie „voreilig“, „verfrüht“, „blauäugig“ und dem Ego einzelner Ministerpräsidenten.

Unwörter wie „Lockerungsmaßnahmen“ stehen für Hickhack und undurchsichtiges Herumgewurschtel – bei dem zum Schluss niemand mehr so recht weiß, ob wir gerade immer noch nur zwei Personen, wieder zehn oder einen ganzen Saustall treffen dürfen.


Reproduktionsfaktor, der:

Das Credit-Scoring des Infektionsgeschehens, die Superzahl, die Nachkommastelle, an der alles hängt. Alles, was einen Wert höher als Null vornan hat, ist schlecht, hat böse Auswirkungen, könnte eine Welle auslösen, ist einen Schritt weg von sogenannter Normalität. Der Umstand dieses technokratischen Wortes ist recht simpel, sein Rattenschwanz hingegen einschüchternd. Beziehungsweise sollte es sein; die Realität ist, wie so oft, komplizierter.


Eigenverantwortung, die

Das ewige abwägen zwischen Vernunft und Erlaubnis. Foto: Imago Images/penofoto

Mündig sind wir, ist die Gesellschaft, ausgeprägt unsere Vernunft. Gemeinsam ziehen wir alle an einem Strang aus Solidarität, gemeinsam haben wir uns zum kollektiven Risikogebiet gemausert. Mit der Eigenverantwortung tanzen wir einander lustig auf der Nase rum, die anderen werden’s schon reißen, ich verhalte mich ansonsten ja regelkonform, aber kurz meinen Geburtstag mit den 30 engsten Freund*innen werd’ ich schon noch feiern können, wir sind ja alle sonst vernünftig und vorsichtig.

Ja, jede*r muss für sich das Maß aus Vernunft und Aufrechterhaltung wichtiger sozialer Kontakte finden, Psychohygiene ist etwas ungemein wichtiges. Das Wort Eigenverantwortung ist leider dennoch Chiffre für: Kollektivversagen.


Lockdown, der

Gastronomie und Kultur bleiben verschlossen, aber was sonst? Foto: Imago Images/IPON

„Lockdown light“. „Harter Lockdown“. Seufz. Nochmal: WIR 👏 HATTEN 👏 NIE 👏 EINEN 👏 LOCKDOWN 👏 IN 👏DEUTSCHLAND!!111

Lockdown kommt aus dem englischen und bedeutet Ausgangssperre. Es gibt diesen Internetwitz, man müsse vor irgendetwas einfach nur „deutsche“ als Adjektiv voranstellen, um seine schlechte Ausführung, seine Schmalspurhaftigkeit, seine Lächerlichkeit zu unterstreichen.

Nun denn: (Der) „Deutsche Lockdown“ ist, wenn sich reihenweise Menschen zur Shoppe in die Innenstadt drängen und abends zum Glühwein saufen verabreden. Schulen und Büros offen sind. Kultureinrichtungen nicht. Und irgendwo, verdrängt aus dem Gewissen, 500 Menschen (und mehr) täglich an einem Virus sterben.


Superspreader, der

Bedrohlichkeit der Masse: Vom Bummel bis zum illegalen Rave, alles verdächtig. "Superspreader" schafft es somit auf die Liste der Unwörter 2020. Foto: Imago Images/photonews.at
Bedrohlichkeit der Masse: Vom Bummel bis zum illegalen Rave, alles verdächtig. „Superspreader“ schafft es somit auf die Liste der Unwörter 2020. Foto: Imago Images/photonews.at

Alles, was mit spreaden zu tun hat, ist irgendwie unangenehm: Spagat kann schnell wehtun, aggressives Beinespreizen alias Manspreading ist vor allem im öffentlichen Raum übergriffiger Herrschaftsanspruch. Und Superspreading-Events klingen dazu verdächtig nach Superbowl – das eine potentiell tödlich für Risikogruppen, noch so ein Wort, das andere mindestens hundsmüde machend und bei gleichzeitigem Konsum zuckriger Koffeinbrause und tütenweise Frittiertem auch nicht sonderlich gesund.

Wir nehmen eine Grundskepsis vor großen Menschenmassen mit und rennen dennoch der vollgepackten Bahn hinterher.


Querdenker, die

Ist das noch lustig oder schon gefährlich? "Querdenker" ist jedenfalls eins der Unwörter, die wir nach 2020 wieder vergessen wollen. Foto: Imago/Jochen Eckel
Ist das noch lustig oder schon gefährlich? „Querdenker“ ist jedenfalls eins der Unwörter, die wir nach 2020 wieder vergessen wollen. Foto: Imago/Jochen Eckel

Unter dieser Selbstbezeichnung findet sich vieles, nur nicht unbedingt klare Gedanken. Was auch Sinn ergibt, steht etwas quer, blockiert es. In den Reihen dieser dubiosen Mischung sammeln sich dann allerhand Unwörter, Umenschen und Verlorene: Maskenmuffel, Impfgegner*innen, Esoteriker*innen, Reichsbüger*innen, Coronaleugner*innen, Rechtsextreme, Besorgte, findige Geschäftsleute, Antisemit*innen, Verzweifelte, Jana aus Kassel.

Nun ist’s mit Selbstbezeichnungen so eine Sache, sie orientieren sich meist mehr an dem, was man sein möchte, nicht an dem, was man letztlich ist. Eine Jana aus Kassel ist dann doch keine Sophie Scholl, ein elfjähriges Mädchen definitiv eher instrumentalisiertes Opfer geschichtsklitternder Eltern und nicht Anne Frank. Und die Masse der munter weiter gegen Auflagen Verstoßenden irgendwo zwischen Leerdenkern, Quarkdenkern, Covidioten und, vielleicht am treffendsten: Solidaritätsverweigerern.


Maskenpflicht, die

Plötzlich Alltag, plötzlich überall: die Maskenpflicht. Foto: Imago Images / Rupert Oberhäuser

Maskenpflicht, so etwas paradoxes. Früher waren Maskierte verdächtig oder gerade im ostasiatischen Raum unterwegs, wo sich durch wiederkehrende Epidemien und schlechte Luftqualität ein mehr oder minder freiwilliger Alltag mit Masken durchgesetzt hat. Hier hingegen wurden Demonstrationen mindestens aufgelöst oder gleich weggeknüppelt, wenn Menschen sich in den Reihen maskierten. 

Jetzt irritiert das Bild von Menschen, die ihr Gesicht nicht recht bedecken wollen, das demaskierte Antlitz wirkt auf einmal bedrohlich, selbst eine freie Nase anrüchig. Im Winter wärmt sie immerhin das Gesicht. Nicht, dass wir nicht lieber wieder ohne rumlaufen würden.


Intensivbettenkapazität, die

Überraschung: Intensivpatienten liegen nicht einfach nur faul da, sondern brauchen Betreuung. Foto: Imago Images/xcitepress

Wird gern von Menschen mit feistem Grinsen als Argument angebracht, warum etwas (noch) nicht geschlossen werden sollte. Wird von anderen Menschen mit ernster Miene erwähnt, wenn die Kapazitäten ausgeschöpft sind. Wird von Pflegepersonal mit geschlossenen Augen und Resignation als Teil der Erklärung erwähnt, dass eine Intensivstation nicht bis zum letzten Platz gefüllt sein muss, um ein Krankenhaus nachhaltig zu überlasten. 

Wird von viel zu vielen als Zahl gesehen. Und von viel zu wenigen als das, was es ist: Eine Masse an Menschen, die intensivste Betreuung brauchen, weil sie qualvoll mit dem Tod ringen. 


Triage, die

Unwörter und ihr ungeheuerlicher Hintergrund: Triage bedeutet im Zweifel auch: entscheiden, wer im LKW abtransportiert werden muss. Foto: Imago Images/Independent Photo Agency
Unwörter und ihr ungeheuerlicher Hintergrund: Triage bedeutet im Zweifel auch: entscheiden, wer im LKW abtransportiert werden muss. Foto: Imago Images/Independent Photo Agency

Google sagt: Ausschuss (Kaffeebohnen), Kaufmannssprache. Onlinelexika sagen: Priorisierung medizinischer Hilfeleistung. Letztlich macht’s die Mischung bei diesem wohlklingenden Fachterminus aus der Vorhölle.

Was diese eine gerade stattfindende Pandemie sagt: Dein infizierter Großvater wird innerlich ertrinken, weil Krankenhäuser überlastet, Intensivbettenkapazitäten ausgeschöpft und Beatmungsgeräte ohnehin nicht mehr frei sind. Weil eine 34-Jährige ohne Vorerkrankungen ihren schweren Verlauf prozentual eher überlebt. Weil Pflegepersonal nun in „lohnt noch“ und „lohnt nicht“ einteilen muss.


Präventionsparadox, das

Perlts problemos im ganzen Jahr oder war drinnen bleiben doch auch sinnvoll? Foto: Imago Images / Sabine Gudath

Irgendwann im Sommer verhallte dieses Wort zusammen mit Mahnungen über steigende Infektionszahlen im Herbst und Konzepten, die hätten entwickelt werden können. Ja, Lesende von Parkbänken zu verscheuchen und Menschen, die im Freien stehenbleiben, zum Weitergehen zu drängen, ist ebenso absurd wie unnötig.

Sich über Kontaktbeschränkungen, Schulschließungen, Runterfahren des öffentlichen Lebens zu beschweren aber auch – derzeit 590 Tote am Tag und nicht kleinzukriegende Neuinfektionen sind der ernüchternde Beweis dafür, dass die meisten Maßnahmen des Frühjahrs doch nicht so übertrieben waren. 

Ach ja, Unwörter und ihre Bedeutung: Präventionsparadox bedeutet per Definition, dass die Wirksamkeit von etwas durch seinen Erfolg angezweifelt wird. Unsere Gesellschaft ist ein Präventionsparadox.


Patriotische Pflicht, die

Unwörter unter sich: Black Friday, Einkaufen fürs Vaterland Foto: Imago Images/STPP

Naja, wir leben ja auch in Zeiten, in denen Unionspolitiker das „Soziale mit dem Nationalen versöhnen“ wollen. Wenn dann der Einkaufsbummel vom Bundeswirtschaftsminister zur „patriotischen Pflicht“ hochgejazzt wird, damit irgendwie „Die Wirtschaft“ angekurbelt werden kann, muss das auch niemanden wundern. Die Wirtschaft, das sind schließlich wir alle. Alle von den reichsten zehn Prozent, die zwei Drittel des Einkommens einstreichen. Das eignet sich nur leider nicht so recht als Slogan für ein bisschen Hurra-Patriotismus.


Systemrelevanz, die

Freut sich sicher nicht mehr über Applaus: Die Dame an der Supermarktkasse. Foto: Imago Images/Viennareport

Euphemistische Zuschreibung für Branchen, derer wir uns in der Regel zu schade sind, die extrem schlecht bezahlt werden, Lohnkürzungen bekommen, überarbeitet sind, abfällig behandelt werden, einem erhöhten Infektionsrisiko ausgesetzt sind, von marginalisierten Gruppen aufrecht gehalten werden. Wenn schon kein Bonus da ist, wird’s etwas solidarzynischer Applaus schon richten.


Mehr Jahresrückblick

Noch mehr Unwörter: 12 unverdächtige Begriffe, die uns nach 2020 zum Hals raushängen. Falls jemand noch einen Test zum Jahresabschluss braucht, gibt es hier eine Übersicht über Schnellteststätten in Berlin. Wer hingegen lieber das Jahr schnellstmöglich vergessen möchte, der kann sich Alkoholika zu Weihnachten wünschen, hier entsprechende Geschenktipps. Was hat die Bezirke bewegt? Und was sagt Spandau zum Corona-Jahr? So war 2020 in tipBerlin-Karten.

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