Urban Exploring oder auch Urbexen – das Erkunden von Lost Places – hat seit der Pandemie einen wahren Boom erlebt. Es gibt jedoch einige Fehler, die so manch Anfänger gerne begeht. Unsere Autorin Olivia Logan erklärt euch, welche ungeschriebenen Regeln es beim Erkunden von verlassenen Orten gibt.
Urban Exploring in Berlin: Der Trend erschwert das Hobby
„Ein Freund erzählte mir, dass es sechs Stunden von Berlin entfernt ein verlassenes Krankenhaus voller Röntgen- und CT-Geräte gibt. Meine Freundin fuhr mich hin, und als wir ankamen, sahen wir, dass das einzige offene Fenster im dritten Stock war“, sagt sich Chrissi. „Wir gingen zum Baumarkt, um eine riesige Leiter zu kaufen, checkten in unser Hotel ein, um uns einen Plan auszudenken, und um fünf Uhr morgens gingen wir zurück, um uns hineinzuschleichen. Meine Freundin hielt Wache, und ich ging allein im Dunkeln durch das Krankenhaus.“
Was sich für manche wie ein Albtraum anhört, ist für Chrissi der Traum vom Wochenendausflug. Die 33-jährige Berlinerin, die eine Ausbildung in einem Krankenhaus absolviert und nebenbei als Barista arbeitet, macht seit zwölf Jahren Urban Exploring. Verlassene Krankenhäuser sind ihre Nische.
Und warum? „Die meisten Menschen sehen diese Orte im Laufe ihres Lebens nie“, lacht Chrissi. „Mein Hauptziel ist es immer, den Operationssaal oder das Leichenschauhaus zu finden.“ In Berlin sind früher einige über den Zaun der verlassenen DDR-Kirmes im Spreepark geklettert. Vielleicht haben einige sogar „Lost Places Berlin“ gegoogelt, sich auf den Weg zu den Ruinen der ehemaligen irakischen Botschaft gemacht, ein paar verschimmelte Stühle in einem Trümmerhaufen gesehen und sich zum Stadtforscher erklärt.
Aber seit der Pandemie hat das lockdown-freundliche Hobby einen neuen Boom von Amateurfotografen erlebt, die sich auf die Suche nach unentdeckten, unberührten Spots machen und sie rücksichtslos für Insta-Fotos benutzen. Und die Berliner Urbexer der alten Schule sind davon nicht begeistert.
Zugegebenermaßen war es auch der Spreepark, der Chrissis Besessenheit auslöste: „Ich habe mich zweimal reingeschlichen, ein paar Fotos gemacht und der Sicherheitsdienst hat uns rausgeschmissen, das war schon aufregend.“ Chrissi kommt ursprünglich aus dem Spreewald in Brandenburg, ist klein und wortkarg, eine unauffällige Regelbrecherin eben. „Irgendwann wurde ich organisierter, recherchierte und plante europaweite Touren“, erklärt sie.
Heutzutage verbringt Chrissi Monate damit, Google Maps zu durchforsten. „Ich suche mir ein kleines Gebiet aus und fahre mit Street View hindurch, um von oben zu sehen, was überwuchert aussieht oder wo ein Dach eingestürzt ist.“ Ihre persönliche Urbex-Karte ist inzwischen ein Meer aus Hunderten von roten Stecknadeln von Portugal bis Belgien – Orte, die bereits erkundet oder für einen späteren Zeitpunkt gespeichert wurden.
Für Chrissis Urbex-Freundin Cat begann die Besessenheit schon als Kind im ländlichen Bayern. „Auf dem Weg zur Schule kam ich immer an einem gruseligen, leeren Haus vorbei. Da bin ich immer mit meinen Freunden reingegangen“, erinnert sie sich. Doch eine richtige Urbex-Szene gab es Anfang der 2000er Jahre noch nicht. „Wenn wir unser Hobby erklärten“, sagt Katharina, „sagten wir einfach, dass wir verfallende Gebäude erforschen.“
Urban Exploring: Haltet die Räume sauber!
In der Urbex-Community interessiert sich jeder für etwas anderes. Für die einen sind es alte, verrottende Klaviere, für die anderen unheimliche DDR-Hotels oder grüne, moosbewachsene Kirchen. Nach 13 Jahren Urbexing weiß Katharina, dass ihre Nische die Villen des 18. und 19. Jahrhunderts sind.
„Wenn ich ein Haus voller Sachen finde, schlägt mein Urbex-Herz höher“, sagt die 37-Jährige. „Oft steckt eine sehr traurige Geschichte dahinter, dass ein älterer Mensch in ein Pflegeheim gezogen ist und die Kinder nicht mehr zurückgekommen sind, weil sie nicht mehr in Deutschland leben.“
Bei ihren Ausflügen hält sich Katharina immer an den respektvollen und notwendigen Urbex-Code: „Nichts als Fotos machen, nichts als Fußspuren hinterlassen“. Doch seit die Community auf Instagram gewachsen ist, halten sich immer weniger Abenteurer an die Regeln. Sind die Fotos erst einmal online, ist es oft nur eine Frage von Tagen, bis die Orte vandalisiert oder geplündert werden.
„Ich besuchte die italienische Villa eines Nazi-Widerstandsmitglieds. Dort standen überall Behälter mit Tuberkulosemedikamenten, Kinderzeichnungen, eine Schreibmaschine und Tagebücher. Ein Jahr später ging ich zurück, nachdem ein berühmter YouTuber dort gewesen war, und alles war verwüstet. Ich besuche diese Orte nicht mehr, weil es so traurig ist, sie zu sehen, und es nicht unendlich viele dieser alten Villen gibt.“
Cat, die Stunden damit verbringt, Insolvenzseiten und Wikipedia-Listen ehemaliger Ballsäle in Deutschland zu durchforsten, hat auch das Gefühl, dass ihr die neuen, unberührten Orte ausgehen, und ärgert sich über den Zeitdruck, ihre Lieblingsorte zu besuchen, bevor sie vandalisiert werden: „Mein Ding sind Ballsäle und riesige Fabriken, vor allem Kontrollräume. Oh Gott, ich liebe sie“, lacht sie. „Ich mag den Brutalismus, und diese Industrieräume haben viel Beton, riesige Hallen und Stahlträger. Ich finde es so schade, wenn diese alte Architektur verschwindet, weil der Stil so schön ist.“
Cat, Chrissi und Katharina sind ein eingeschworenes Team, das sich zwar gegenseitig die Locations mitteilt, aber nur wenig anderen Menschen. Enge Freunde, die keine Urbexer sind, werden nicht in ihre Entdeckungen eingeweiht. Sie ist zu skeptisch gegenüber den meisten Menschen.
Das macht die Sache für den 29-jährigen Fotografen, der gerne Aktmodelle an verlassenen Orten fotografiert, manchmal kompliziert. „Eine verlassene Turnhalle, in der ich fotografieren wollte, war bereits teilweise vandalisiert. Ich musste mich beeilen und habe ein zufälliges Model gefragt. Ich sagte: ‚Ich weiß, dass wir uns fremd sind, aber es gibt einige Anforderungen, die wir besprechen müssen‘. Schließlich willigte das Model ein, ich nahm 30 Minuten vor unserer Ankunft ihr Handy ab, und wenn wir an Schildern vorbeikamen, schloss sie die Augen oder trug eine Augenbinde.“
Betreten auf eigene Gefahr
Urbex ist kein Hobby für schwache Nerven, und mit dem Nervenkitzel kommen die Gefahren – ein weiterer Grund, sich nur mit vertrauten Freunden auf diese Erkundungstouren zu begeben. „Wissen sie, was wir tun, wenn die Polizei kommt? Laufen wir weg? Bleiben? Verstecken? Was, wenn jemand verletzt wird?“, sagt Cat. Sie und Chrissi, die eine begeisterte Kletterin ist, haben sich auf ihren Zusammenhalt verlassen, um sich aus brenzligen Situationen zu retten. „Ich habe Höhenangst, und oft muss man mit seinem acht Kilogramm schweren Rucksack sechs Meter hochklettern. Ich habe das ein bisschen überwunden, und das verdanke ich Chrissi, die einfach sagt: ‚Vertrau mir, es wird nicht schwierig sein, wir schaffen das.'“
Für Katharina, die immer noch jeden Herbst mit ihren Eltern Urbexen geht, ist es ihre fast 60-jährige Mutter, die ihr Mut macht. „Sie ist wirklich knallhart. Wenn wir den Einstieg nicht finden und ich schon aufgeben will, sagt sie immer: ‚Komm schon! Wir schaffen das schon. Wir versuchen es von der anderen Seite!'“
Unfälle passieren: 2016 stürzte ein amerikanischer Wahlberliner schwer durch das Dach des verlassenen Kinderkrankenhauses in Weißensee, 2021 starb ein 43-jähriger Solo-Urbexer in einem verlassenen Industriegebiet in Nordrhein-Westfalen. Auch wenn solche Vorfälle in der Community selten sind, besteht immer ein Verletzungsrisiko.
„Ein Freund ist in einem stillgelegten Kraftwerk in einen Brunnen gefallen“, erzählt Chrissi. „Seitdem habe ich immer ein fünf Meter langes Seil dabei.“ Ihre Eltern haben ihr in den vergangenen Jahren zu Weihnachten extra ausziehbare Leitern und leuchtende Stirnlampen geschenkt.
Eine weitere Urbex-Regel lautet: „Gehe nie allein“, aber Katharina gibt zu, dass sie diese Regel nicht immer befolgt, da ihre rebellischen Eltern älter werden. „Urbex ist meine geistige Reinigung“, sagt die PR-Managerin. „Vor vier Jahren hatte ich einen Burnout und habe mich von meinem Mann getrennt. Ich fuhr allein nach Italien und urbexte einen Monat lang jeden Tag. Es war intensiv, aber es ist das Beste, um aus den eigenen Gedanken herauszukommen.“
„Allein“ ist nicht ganz richtig: Katharina nimmt ihren Hund Mio auf jede Urbex-Reise mit. „Er ist meine emotionale Stütze“, erklärt sie. „Als ich zum ersten Mal allein nach Italien fuhr, besuchte ich eine verlassene psychiatrische Klinik. Wir gingen hinein und es war stockdunkel. Es gab Zellen, in denen kranke Menschen eingesperrt waren, und schreckliche Zeichnungen, die an die Wände geritzt waren. Ich hatte solche Angst, aber wir liefen gemeinsam durch diesen Ort.“
In endlosen Instagram-Posts von angenehm symmetrischen Bildern von staubigen Ballsälen und antiken Betten mit durchhängenden Matratzen ist Mio zu Katharinas künstlerischem Markenzeichen geworden. Aber jetzt, wo Urbex populärer geworden ist, fühlt sich Katharina ein wenig dafür verantwortlich, einen vielleicht unklugen Instagram-Trend von Urbex-Hunden ausgelöst zu haben: „Mio ist ein sehr vorsichtiger Hund, wir vertrauen uns gegenseitig und er geht auch gerne Urbexen. Jedes Mal, wenn ich meine Urbex-Tasche packe, freut er sich.“
Es ist eine Zwickmühle für sie: „Ich möchte Fotos von ihm veröffentlichen, aber ich möchte die Leute nicht ermutigen, ihren Hund mitzunehmen. Es ist gefährlich, sie können stürzen, es gibt Häuser mit Asbest oder Taubendreck, den man einatmen kann. Ich habe auch Schuhe für ihn, falls er auf etwas stehen muss.“
Die Gefahr, von der Polizei erwischt zu werden, macht einen großen Teil des Nervenkitzels beim Urbexen aus – ein weiterer Grund, warum Katharina meint, dass vierbeinige Begleiter besser zu Hause bleiben sollten. „Wenn ich mit Mio verhaftet werden würde, wüsste ich nicht, was mit ihm passieren würde – also muss ich besonders vorsichtig sein.
Dieses Risiko ist mit der zunehmenden Popularität von Urbex nur gewachsen. Während die meisten Entdecker in Europa mit einer Geldstrafe von ein paar hundert Euro davonkommen, geht Frankreich, ein Land, das in der Community als besonders urbex-feindlich bekannt ist, mit einem neuen Gesetz, das sich direkt gegen Urbexer richtet, gegen unerlaubtes Betreten vor.
Chrissi hatte schon einige Auseinandersetzungen. Einmal wurde sie mitten in einem dunklen Wald von einem Mob wütender Nachbarn angesprochen und von der Gendarmerie verhaftet. Die warnte sie davor, in Frankreich noch einmal zu urbexen – die Draufgängerin war am selben Abend wieder auf Erkundungstour.
In Deutschland scheint der Urbex-Boom jedoch nicht zu einer Verschärfung der Sicherheitsmaßnahmen geführt zu haben. „Ich glaube, in Berlin hätten normale Leute kein Interesse daran, zufällige Urbexer zu überwachen, aber in einem kleinen französischen Dorf, wo jeder aus dem Fenster schaut, wenn er eine Autotür schließen hört, ist das anders“, sagt Chrissi.
Postet eure Spots nicht!
Urbex und Instagram sind ein ungestümes Gespann. „Ich bin hin- und hergerissen“, sagt Cat. „Wenn man einen schönen Ort gefunden hat und die Fotos gut sind, möchte man den Leuten zeigen, was man gemacht hat. Andererseits ist das immer mit dem Gedanken verbunden: ‚Wenn ich dieses Bild hochlade, was wird dann mit diesem Ort passieren?'“ Wenn ein Ort bekannt wird, strömen viele Newbie-Urbexer dorthin und posten wahllos Bilder, darunter Straßenschilder oder Außenaufnahmen, die den Ort leicht erkennen lassen.
Um dieses Problem zu lösen, haben Cat, Chrissi, Katharina und Patrick beschlossen, nur noch Fotos hochzuladen, die mindestens ein Jahr alt sind, um die Orte vor Vandalen zu schützen. Aber seit Urbex im Mainstream angekommen ist, gibt es ohnehin ganz andere Probleme. „Es gibt diese neuen Firmen, hauptsächlich aus Holland, die Koordinaten verkaufen. Aber die verkaufen totale Scheiße!“ Katharina lacht. „Ich habe mir aus Neugier eine gekauft – man zahlt zwei Euro und bekommt die Koordinaten eines Ortes, der bereits zerstört ist. Ich war so sauer! Ich habe denen eine E-Mail geschrieben, aber ich habe nie eine Antwort bekommen.“
Patrick, der Administrator der Lost Places Berlin-Brandenburg Urbex Facebook-Gruppe, hat auch seine Sorgen. „Die Gruppe ist enorm gewachsen“, sagt er. „Vor fünf Jahren war das noch anders, aber jetzt tauschen die Leute viele Informationen über Orte aus. Es besteht auch die Gefahr von Einbrechern, die Orte ausplündern und die Sachen dann online verkaufen wollen“. Im Moment, sagt Chrissi, ist die Gentrifizierung das größte Schreckgespenst, das Berlins geliebte, geheime Orte bedroht. „In Buch gab es große Krankenhäuser, die jetzt zu Wohnungen umgebaut werden. Das Gleiche gilt für das verlassene Olympische Dorf.“
Chrissis altes Revier, der Spreepark, wird inzwischen in einen öffentlichen Park umgewandelt, jeder Möchtegern-Urbexer kann fünf Euro für eine offizielle Führung bezahlen. Nachts ist nichts zu machen, das Gelände wird überwacht.
Wie ihre Eltern will auch Katharina bis ins hohe Alter urbexen, „aber meine Euphorie und Leidenschaft hat in den letzten Jahren einen Dämpfer bekommen“, gibt sie zu. In einem letzten Versuch, ihre Leidenschaft vor dem Aussterben zu bewahren, haben die vier Old-Schooler alle die gleiche Botschaft: „Habt Geduld! Gebt eure Plätze nicht auf!“ Und wenn Neulinge seid, sollten eine bezahlte Tour durch das alte Krankenhaus in Beelitz oder die ehemalige Tuberkuloseklinik in Oranienburg mache, bevor sie versehentlich verhaftet werden oder sich die Arme brechen, wenn sie von einem Dach fallen.
Berlin ist ein wahrer Hotspot für Lost Places – leerstehende Häuser gibt es hier wie Stand am Meer. Ihr wollt selbst auf Entdeckungstour gehen? Diese Lost Places in Berlin erzählen Stadtgeschichte. Wem das zu mysteriös ist, kann sich auch ungewöhnliche Gebäude in Berlin ansehen. Was es noch für andere außergewöhnliche Bauten gibt erfahrt ihr in der Architektur-Rubrik.