Der Cher-Effekt: sie hat den offensiven Einsatz der Tonhöhen-korrektursoftware Autotune als Stilmittel cool gemacht. Außerdem ist sie eine Pionierin des Anti-Trump-Tweets und zudem eine Heroine der LGBTIQ-Bewegung. Wir haben die lebende Legende in Los Angeles, West-Hollywood getroffen. Champagner gab’s nicht, aber prickelnd war es allemal
Eine Szenerie wie aus einem Werbefilm für Los Angeles: Die Sonne scheint, am Pool des Sunset Marquis Hotels tummeln sich sonnengebräunte Menschen, die aussehen wie gecastet: durchtrainierte Körper, kein Gramm Fett, faltenfrei-makellose Gesichter. Nichts, so scheint es, kann ihre gute Laune trüben. Willkommen in West-Hollywood! Hier begegnen einem vor allem diejenigen, die auf eine ganz große Karriere im Film- oder Musikgeschäft hoffen.
Für Cher ist dieser Traum längst Wirklichkeit geworden. Ob Oscar, Emmy oder Grammy, sie hat alle möglichen Auszeichnungen bekommen und gilt als Diva. Diesem Image wird sie bei unserem Treffen in einem der Bungalows abseits des Trubels allerdings überhaupt nicht gerecht. Wir sitzen nur zu zweit in einer Suite – ohne die für einen Star ihrer Liga typische Armada von Agenten und PR-Beratern. Die 73-Jährige, die als Cherilyn Sarkisian in Kalifornien geboren wurde, gibt sich herrlich unprätentiös. Ein glamouröses Outfit? Fehlanzeige. Ein schlichtes Sweatshirt trägt sie zur dunklen Hose, ihr Gesicht ist nur dezent geschminkt. Statt wie erwartet Champagner ordert sie Cola mit Eis.
Cher wirkt geerdet, glaubwürdig und, ja, bescheiden. Sie lacht. „Ich stolziere nicht selbstverliebt durch die Gegend“, sagt sie. „Nach dem Motto: Macht alle Platz, hier kommt die großartige Cher.“ Mit ihr kann man über alles reden – außer über Politik. Fragen nach Donald Trump seien tabu, hat das Management im Vorfeld festgelegt. Merkwürdig eigentlich. Schließlich machte die Sängerin und Schauspielerin in der Vergangenheit bei Twitter keinen Hehl aus ihrer Abneigung gegen den amerikanischen Präsidenten. Sie beschimpfte ihn gar als „ignoranten Dummkopf mit Eidechsengehirn.“
Darling der Queer-Community
Das Thema Eidechsengehirn darf beim Treffen in L.A. also nicht vertieft werden, dafür spricht Cher umso lieber über ihre enge Verbindung zur LGBTIQ-Community. Ihre Fans aus dieser Szene fühlten sich nicht allein wegen ihrer ausgefallen Kostüme zu ihr hingezogen, glaubt sie: „Ich wirke irgendwie seltsam. Gerade das macht mich für diejenigen attraktiv, die nicht wie der Durchschnitt sind.“ Mit dem Anderssein hatte Cher eigentlich nie Probleme, im Gegenteil. Durch ihre Mutter, die Schauspielerin Georgia Holt, lernte sie recht früh einen Haufen verrückter Leute kennen. Ein Erlebnis ist ihr besonders im Gedächtnis geblieben. Als sie mit zwölf nach der Schule nach Hause kam, saßen ihre Mum und deren beste Freundin mit zwei Männern auf dem Sofa, die unheimlich enthusiastisch waren. „In jedem Satz, den sie sagten“, erinnert sich Cher, „steckte so viel Energie. Ich merkte: Sie waren wesentlich lustiger als die Männer, die uns sonst besuchten.“ Das beeindruckte sie nachhaltig – obwohl sie in diesem Augenblick noch nicht wusste, dass die Gäste schwul waren.
Mutter eines trans* Mannes
Dank solcher Erfahrungen empfand Cher nicht-heterosexuelle Beziehungen stets als etwas vollkommen Normales. Dennoch wurde ihre Toleranz auf eine Probe gestellt, als sich ihre Tochter Chastity einer Geschlechtsangleichung unterziehen wollte. Aus Chastity, der Tochter, wurde Chaz, der Sohn, ein trans* Mann. „Das war für mich anfangs ein harter Schlag“, gibt Cher unumwunden zu. „Ich hatte furchtbare Angst davor, meine Tochter zu verlieren.“
Kraft gab ihr in dieser Situation ihre eigene Mutter, der sie die Neuigkeit nur notgedrungen mitteilte: „Ich dachte, Mum würde sich schrecklich über Chastitys Plan aufregen. Doch sie blieb erstaunlich gelassen und rief einfach: ,Das finde ich gut!‘“ Ihre entspannte Haltung ließ Cher endlich wieder zur Ruhe kommen. Inzwischen weiß sie: Ihr Kind hat die richtige Entscheidung getroffen: „Wenn ich sehe, wie sehr Chaz heute mit sich im Reinen ist, macht mich das glücklich.“ Hat sich ihr Verhältnis trotzdem verändert? Nicht wirklich: „Wir unterhalten uns über die gleichen Dinge wie früher. Obwohl Chaz nun als Mann lebt, hat sich die Persönlichkeit ja nicht um 180 Grad gedreht.“
Nicht bloß diese Geschichte beweist, dass Cher so leicht nichts umhaut. Sie ist wie ein Stehaufmännchen. Nach der Scheidung von Sonny Bono, mit dem sie sich in den 1960er Jahren als Pop-Duo Sonny & Cher etabliert hatte, fing sie quasi noch einmal bei Null an: „Mein Exmann hatte alles kontrolliert: mein Leben, meine Karriere. Ich musste erst lernen, auf eigenen Beinen zu stehen.“ Verblüffend rasant machte sich Cher nicht bloß in Hollywood einen Namen, sondern auch als Solosängerin. Mit ihrem Nummer-1-Album „Believe“ legte sie 1998 einen Meilenstein in der Musikgeschichte hin, weil sie zu den Ersten gehörte, die im Studio offensiv mit Autotune arbeiteten. Heute, da fast alle von HipHop bis zu Indie-Avantgardisten wie Bon Iver mit Autotune arbeiten, spricht man gemeinhin vom „Cher-Effekt“.
Nichts deutete damals darauf hin, dass sich Cher in näherer Zukunft zur Ruhe setzen könnte. Also erwischte die Nachricht, die Künstlerin würde 2002 tatsächlich auf Abschiedstournee gehen, die meisten Fans eiskalt. Cher zuckt mit den Schultern: „Offen gestanden rechnete ich mir mit 56 keine Chancen mehr aus, mich weiterhin gegen jüngere Kolleginnen wie Pink oder Jennifer Lopez behaupten zu können. Meine Zeit schien abgelaufen zu sein.“ Ein Trugschluss. Cher nahm weiterhin Platten auf, sie drehte Filme.
Zuletzt sah man sie in „Mamma Mia! Here we go again“ 2018 im Kino. Während der Dreharbeiten sang sie am Set „Fernando“ und „Super Trooper“. Das war die Initialzündung für ihr Album „Dancing Queen“, mit dem sie Abba-Titel auf den Dancefloor holte. Aus alter Verbundenheit? Keineswegs: Als die Schweden ganz oben in den Charts standen, kannte Cher nach eigenem Bekunden lediglich „Mamma Mia“, „Dancing Queen“ und „Waterloo“: „Erst als ich den Film ,Muriels Hochzeit‘ sah, begriff ich, was für Perlen die Abba-Lieder waren.“
Schuhe kaufen, Klappe halten? Nee!
Zumindest einen dieser Klassiker wird Cher wohl bei ihrem Auftritt in Berlin im Gepäck haben: „Waterloo“. Das sei eine ihrer Lieblingsnummern, bekennt sie: „So kraftvoll, so euphorisch. Eben der perfekte Live-Song.“ Was Cher an diesem Abend ansonsten singen wird, entscheidet sie selbst. Sie lässt sich von anderen keine Vorschriften mehr machen. Einfach weil die Wunden aus ihrer Sony-&-Cher-Zeit bis heute tief sitzen: „Ich lernte als junge Frau, dass Erfolg nicht automatisch Respekt garantiert. Nicht selten kriegte ich zu hören: ,Mach deinen Job. Danach kannst du dir ein paar schöne Schuhe kaufen.‘“
Wegen solch einer Despektierlichkeit setzte Cher alles daran, sich zu emanzipieren. Sie kämpft leidenschaftlich für Gleichberechtigung und hat keine Scheu, ihren Finger in offene Wunden zu legen. „Sogar im 21. Jahrhundert herrscht in unserer Gesellschaft ein Ungleichgewicht“, ereifert sie sich. „Wie kann es sein, dass Männer in vielen Berufen immer noch mehr als Frauen verdienen? Das ist so unfair!“ Cher ist eben strong enough, gegenüber Männern nicht klein beizugeben – und damit eine Inspiration auch für die Zukunft.
Mercedes-Benz-Arena Mercedes-Platz 1, Friedrichshain, Do, 26.9., 20 Uhr, VVK 81 – 166 €