Aus „Babylon Berlin“ auf die Bühne: Mit seinem Moka Efti Orchestra tritt Nikko Weidemann nicht nur aus dem Schatten, sondern arbeitet auch die eigene Familiengeschichte auf
Mal angenommen, dies wäre das Drehbuch zu einer Serie, dann würde die Eröffnungssequenz ungefähr so aussehen: XJAZZ-Festival im Mai 2018. Das Lido in Kreuzberg. Auf der Bühne: das Moka Efti Orchestra, ein 14-köpfiges Ensemble gut angezogener Jazzmusiker aus Berlin, die Swing, Uptempo und Charleston im Stil der 20er-Jahre spielen – Songs aus der millionenschweren deutschen Serie „Babylon Berlin“. Am Mikrofon: eine Sängerin im schwarzen Anzug mit Fliege und Zylinder. Sie raunt mit zigarettentiefer Stimme und russischem Akzent: „Zu Asche, zu Staub, dem Licht geraubt.“ Und es scheint für einen Moment, als wäre wieder 1929 und als tanzte das Publikum wirklich auf einem heißen Vulkan. Am Klavier: ein Mann mit weißem Haar und Augenklappe. Ein Pirat? Aber nein, es ist der Komponist Nikko Weidemann. Als er zu Ende gespielt hat, erhebt er sich von seinem Hocker und bittet Regisseur Tom Tykwer auf die Bühne. Und tatsächlich: Tykwer kommt und nimmt Weidemann in den Arm. Die Menge jubelt. Es ist die Geburtsstunde des Moka Efti Orchestras, das an diesem Abend zum ersten Mal aus der Serienwelt in die Kreuzberger Wirklichkeit hinaustritt und vor realem Publikum spielt. Schnitt.
Sprung in die Jetzt-Zeit. Februar 2019. Nikko Weidemann sitzt vor einem Café nahe der U-Bahn-Station Stadtmitte. Warum dort? Weil das historische Moka Efti, dieser legendäre Vergnügungspalast des Kaufmanns Giovanni Eftimiades, in dem sich die Weimarer Gesellschaft zum Tanzen, Trinken, Essen, Pläneschmieden und ja, auch zum Ficken traf, ganz in der Nähe war. Die größte Attraktion soll eine Rolltreppe gewesen sein, ein Symbol für soziale Mobilität – verrückt. Ecke Friedrichstraße, Leipziger Straße. Aber wo genau? Nikko Weidemann, der an diesem Tag leider keine Augenklappe trägt, hat sich zwar tief in die Geschichte dieser Zeit hineingegraben, aber das weiß auch er nicht. Eine schnelle Google-Recherche hilft auch nicht weiter. Aber stattdessen findet er ein Bild seiner Uroma, der Verlegerwitwe Alma, die sich nach dem Krieg in derlei Etablissements vergnügt haben soll.
Es folgt: die ausführliche und verzweigte Geschichte seiner Familie, die ein ganzes Buch füllen würde und hier nur insofern wichtig ist, als sie sich Ende der 20er-Jahre gleichsam verdichtet. „Alle meine vier Großeltern waren 1929 in Berlin“, erzählt Weidemann. Und als Tom Tykwer ihn darum bat, Musik für „Babylon Berlin“ zu schreiben, da öffnete sich ihm die Tür in eine andere Welt. Er betrieb nicht nur Familienforschung, er las auch Bücher und sah sich alte Filme an wie „Burglar“ von 1930, in dem Sidney Bechet mit seiner Jazz-Band im Haus Vaterland spielt, noch so ein hedonistischer Tempel am Potsdamer Platz.
Das alles sog er auf. Nicht um die 20er-Jahre und ihre Musik akribisch zu reproduzieren, Tom Tykwer versprach sich etwas viel Anspruchsvolleres von ihm: eine Brücke zu schlagen in die Gegenwart, Stücke zu komponieren, die den Geist der Weimarer Zeit atmen und doch nicht nach gestern klingen. Seine Arbeitsanweisung: „‚Relax‘ von Frankie Goes To Hollywood – wie hätte das 1929 geklungen?“ So fing es in ihm zu ticken an, wie Nikko Weidemann sagt. Als er auf dem Rad die Havel entlangfuhr, fiel ihm ein Gassenhauer ein, den sein Vater immer sang: „Da kam aus Treuenbrietzen ein junger Mann daher.“ Unter anderem davon ist die heitere „Wannsee Weise“ inspiriert. Der Babylon-Berlin-Schlüsselsong aber entstand in einer warmen Nacht im Mai. Schnitt.
Zu Asche, zu Staub
Nikko Weidemann und sein musikalischer Kompagnon Mario Kamien haben den ganzen Tag an einer Idee gearbeitet und gerade zu Abend gegessen, als Nikko eine Eingebung kommt und er zu Mario sagt: „Pass mal auf, das war alles Scheiße, was wir heute gemacht haben. Komm, wir gehen noch mal hoch!“ Dann passiert etwas, was sich für Weidemann wie ein „elektrischer Moment“ anfühlt. Er bittet Mario, einen treibenden Snare-Loop auf 131 Beats per Minute zu bauen. „Ich wollte etwas, das Tom richtig aus den Schuhen hebt.“ Dann spielt er den Song am Klavier in einem Take durch – bis auf den Chorus, den er erst ein paar Wochen später komponiert und bei dem er an Zarah Leander und Ennio Morricone denken muss – „diese mondänen Melodiebögen“. Und schließlich findet Mario die magischen Worte: „Zu Asche, zu Staub, dem Licht geraubt, doch noch nicht jetzt. Wunder warten bis zuletzt.“ In der Serie singt sie die russische Gräfin Swetlana Sorokina natürlich auf der Bühne des Moka Efti – mit Fliege, Zylinder und zigarettentiefer Stimme.
In drei Szenen der Serie sitzt Weidemann selbst am Klavier. Es sind besondere Momente im Rampenlicht für einen Musiker, der sich schon daran gewöhnt hatte, der ewige Geheimtipp zu bleiben. „Ich hatte mich schon auf dieses Unterm-Radar-Fliegen eingerichtet“, sagt der 57-Jährige, der immerhin schon mit den Einstürzenden Neubauten, Nena und Rio Reiser zusammengearbeitet hat. Das Moka Efti Orchestra kommt ihm vor wie ein großes Schiff, das er mit Mario Kamien und dem Saxofonisten Sebastian Borkowski auf den freien Ozean hinausmanövriert hat. Und Babylon Berlin war für ihn wie eine Welle, die ihn zum richtigen Zeitpunkt erwischt und bis zum Grimme-Preis getragen hat. Plötzlich rennen ihm die Leute die Bude ein, die beiden Konzerte im Festsaal Kreuzberg sind ausverkauft. Woher diese Sehnsucht nach den 20ern? Wähnen wir uns heute wieder an einem Abgrund – wie 1929? Wollen alle nochmal tanzen gehen, weil sie wissen, dass die Welt bald vor die Hunde geht? Schon möglich, aber: Noch nicht jetzt. Wunder warten bis zuletzt.
Festsaal Kreuzberg Am Flutgraben 2, Treptow, Di 19.3. + Mi 20.3., 20 Uhr, ausverkauft