• Konzerte & Party
  • Die Ärzte im Interview: „Unsere Fachrichtung ist Optimismus“

Berlin Tour MMXXII

Die Ärzte im Interview: „Unsere Fachrichtung ist Optimismus“

Ihr Lied „Deine Schuld“ wird bei Fridays For Future von jungen Klima-Aktivist:innen gespielt, und „Schrei nach Liebe“ läuft auf Anti-Nazi-Demos. Nach fast vier Jahrzehnten brauchen wir Die Ärzte mehr denn je. Und sie kommen ja auch. 2022 spielen sie eine „Welttournee“, die quer durch die Stadt Berlin geht: die Berlin Tour MMXXII mit 13 Konzerten, vom kleinen Club bis zum Flugfeld Tempelhof. Und weil wir es schon jetzt kaum noch erwarten können, haben wir die beste Band der Welt zum Gespräch eingeladen.

Gigantisches Konzert: Die Ärzte auf der Waldbühne, 2012. Foto: Roland Owsnitzki
Gigantisches Konzert: Die Ärzte auf der Waldbühne, 2012. Foto: Roland Owsnitzki

2022 gehen die Ärzte auf einmalige Berlin Tour MMXXII

tipBerlin Ärzte sind ja momentan sehr gefragt, allerdings eher Virologen. Welche Fachrichtung habt ihr eigentlich?

Bela B Eieiei, das ist ja lange her, dass wir solche Fragen gestellt bekamen.

Farin Urlaub Raffiniert. Mit einem Kalauer einsteigen, um das Interview möglichst kurz zu halten. Na, dann: Einen schönen Tag noch!

Bela B Unsere Fachrichtung ist Optimismus.

Farin Urlaub Ah, uh.

Bela B Und wir haben selbst jede Menge davon, weil wir nicht nur davon ausgehen, dass wir Ende des Jahres unsere ausverkaufte, aus 2020 verschobene Tour werden spielen können, sondern auch noch nächstes Jahr, also 2022, auf eine einmalige Berlin Tour MMXXII gehen werden.

Farin Urlaub Ja, eine Welttour durch die Stadt Berlin.

tipBerlin Nur angemessen für die Beste Band der Welt …

Bela B … aus Berlin.

Farin Urlaub Und mehr Optimismus und Ausgelassenheit kann man gar nicht versprühen.

tipBerlin Ihr werdet auf dieser BERLIN TOUR MMXXII im Mai 2022, bevor ihr die Wuhlheide und die Zitadelle Spandau beglückt, neun Termine in Berliner Hallen spielen, von kleinsten Clubs wie dem Schokoladen über mittlere wie das SO36 oder den Heimathafen bis zur großen Columbiahalle. Ist das ein Zugeständnis an Rod, der im Herbst gesagt hat, er kann die Stadion-Konzerte nicht mehr ertragen?

Rod González Hab ich das wirklich gesagt?

(großes Gelächter)

Rod González Tatsache ist: Wir sind keine Band, die allzu geil aufs Proben ist. Also treten wir gern lieber gleich live auf, um uns für eine Tour warmzuspielen.

Bela B Genau, wir haben ja schon öfter Club-Tourneen gespielt, zuletzt aber eher unter falschem Namen. Bei einer dieser Tourneen hatte Rod dann die Idee: Warum müssen wir dazu denn quer durchs ganze Land fahren, so eine Club-Tour können wir über zwei Wochen doch auch viel bequemer in einer Stadt machen. Also haben wir bei verschiedenen Bands angefragt, ob wir nicht bei ihnen umsonst als Vorband auftreten können, wenn sie in Berlin spielen.

Rod González Ich fand das charmant: Schnell aufbauen, Zack, eine halbe Stunde unangekündigt spielen, schnell abbauen. Und am nächsten Abend bei einer anderen Band im Vorprogramm. Das hat aber nicht hingehauen.

Bela B Das ist daran gescheitert, dass uns niemand als Vorband haben wollte – außer Bonaparte, bei denen das dann ja auch geklappt hat.

Rod González Die anderen haben alle kalte Füße bekommen bei der Vorstellung, Die Ärzte spielen als ihre Vorgruppe. Aber die Idee, eine Berlin-Tour zu machen, hatten wir seitdem immer im Hinterkopf. Und 2022 ist es eben endlich soweit.

Farin Urlaub Diese Tour hat ja auch den großen Vorteil, dass man zwar unterwegs ist, aber auch nicht so weit weg von zuhause. Außerdem wollten wir auch etwas an die Berliner Clubs zurückgeben, die ja gerade massiv gebeutelt sind.

„Theoretisch kannst du uns auf jeden Acker stellen“

tipBerlin Aber generell sind Stadionkonzerte nicht so euer Ding?

Rod González Wir spielen überall. Theoretisch kannst du uns irgendwo auf jeden Acker stellen.

Bela B Bei so einer Stadion-Tour hat man lange Pausen, weil vor und nach jedem Konzert erstmal drei Tage aufgebaut werden muss. Das ist nicht die Art Konzertreise, die wir uns vorstellen. Erst recht nicht in unserem dritten Frühling, mit dem wir die vierten Zähne finanzieren. Wir wollten nicht bloß zehn Stadionkonzerte spielen und dann wieder nach Hause fahren, sondern lieber länger unterwegs sein.

Farin Urlaub Generell wollen wir lieber mehr Konzerte spielen als weniger.

tipBerlin Das ist jetzt aber doch überraschend, dass ihr so gern miteinander unterwegs seid. Als im vergangenen Jahr euer neuestes Album „Hell“ erschien, hieß es, dass es in der sieben Jahre währenden Bandpause ziemliche Kommunikationsschwierigkeiten gegeben habe. Ist jetzt plötzlich wieder die große Liebe ausgebrochen?

Bela B Das ist ganz einfach: Jeder von uns hat einen Waffenschein gemacht.

Farin Urlaub (lacht sich krank)

Bela B Der Witz funktioniert doch immer wieder, auch nach 40 Jahren.

Bela B von die Ärzte auf der Kindl-Bühne Wuhlheide am 18.6.2004. Foto: Roland Owsnitzki
Bela B von die Ärzte auf der Kindl-Bühne Wuhlheide am 18.6.2004. Foto: Roland Owsnitzki

tipBerlin Angeblich habt ihr Euch wieder versöhnt bei einem Essen, zu dem Bela eingeladen hat. Was hat er denn gekocht?

Farin Urlaub Zum Glück hat er nicht gekocht, sonst hätten wir uns auf jeden Fall aufgelöst.

(hysterisches Gelächter)

Farin Urlaub Nein, das ist gelogen, Bela kann im Vergleich zu mir sogar ganz gut kochen.

Bela B Wir kriegen alle eine Tomatensauce hin – mit der Hilfe von Ketchup. Gerade so.

Rod González Echt, wir waren essen? Ich kann mich nicht erinnern.

tipBerlin Dann war dieser Annäherungsprozess zwar traumatisch, aber schlussendlich
erfolgreich?

Farin Urlaub Ich kann sagen, dass die Aufnahmen zum Album richtig viel Spaß gemacht haben. Und dass dann die Tour abgesagt wurde, das hat uns absurderweise eher noch mehr zusammen geschweißt. Denn statt einfach zu sagen „ok, tschüß, wir sehen uns in einem Jahr wieder“, sind wir in engem Kontakt geblieben. Wir haben uns zwar, den Umständen geschuldet, nicht regelmäßig gesehen, aber uns doch regelmäßig gesprochen. Es war eine neue, schöne Nähe entstanden.

Bela B Also Nähe: ja. Aber schön?

Farin Urlaub Schön is wat anderes.

Bela B Schön liegt im Auge des Betrachters.

Die Ärzte bei einem Konzert in der Wuhlheide, 2008. Foto: Roland Owsnitzki

tipBerlin In dem Zusammenhang hatte Farin auch gesagt: „Ich hatte mit dem Öffentlich-Musikmachen abgeschlossen.“

Farin Urlaub Ja, das war auch so. Das war so ernst, dass ich mich vom Großteil meiner Gitarren getrennt habe. Behalten hatte ich nur zwei, drei, die ich einfach zu gern habe.

Bela B Die fehlen noch in meiner Sammlung. Die anderen habe ich alle schon.

Rod González Dass Farin seine Gitarren alle verschenkt hat, das hat mir deutlich gemacht, dass er wirklich nicht mehr Musik machen wollte. Das war ein abgeschlossenes Kapitel in seinem Leben. Jetzt hatte er endlich Zeit, um noch mehr zu reisen. Da war ich doch schon sehr verblüfft. Farin, der ständig sprudelt und eben mal ein paar Songs aus dem Ärmel schüttelt, will gar keine Musik mehr machen?

Farin Urlaub Ich wollte eigentlich total in der Versenkung verschwinden und nur noch mein Privatleben feiern. Und das war auch total okay so. Aber dann hat die Pocke sich gemeldet …

Bela B Das bin ich.

Farin Urlaub Jetzt bin ich natürlich froh, dass es so ist, sonst wäre ich nicht dabei.

„Der erste, der sein Handy gehoben und das gefilmt hätte, hätte eins in die Fresse bekommen“

tipBerlin Habt ihr jemals überlegt, wie Metallica einst in einem Film die Bandtherapie dokumentieren zu lassen?

Bela B Es gab ja keine Therapie. Und der erste, der sein Handy gehoben und das gefilmt hätte, hätte eins in die Fresse bekommen. Nein, das fällt bei uns unter Privatleben und das halten wir unter Verschluss. Die Freundschaft zwischen Farin und mir, die ist ja schon für uns beide schwer zu verstehen – da muss man nicht noch andere daran teilhaben lassen.

tipBerlin Aber wenn ihr ehrlich seid: Eigentlich hattet ihr euch aufgelöst? Eigentlich gab es Die Ärzte nicht mehr?

Bela B Jein. Es wurde so nicht ausgesprochen.

Rod González Es war ja auch nicht die erste Pause. Das kam schon früher vor, dass wir uns nicht mehr sehen konnten. Wenn man auf Tour aufeinander hockt, ist das halt irgendwann wie bei einem alten Ehepaar, da gehen einem dann auch die Marotten des anderen auf den Sack. Das ist ja auch völlig menschlich, ganz normal. Wir hatten auch schon mal eine längere Pause gemacht. Damals haben schon viele gesagt: „Ihr spinnt doch, ihr könnt doch nicht so lange weg sein, die Leute vergessen euch.“ Aber das war Quatsch: Wir kamen zurück und es war sogar noch besser als zuvor. Deshalb war immer offizielle Politik seit der ersten Auflösung: Keine offizielle Auflösung verkünden, sonst ist es peinlich, wenn man es sich dann doch anders überlegt.

Bela B Es gibt unter Farin und mir als dienstälteste Bandmitglieder auch eine Abmachung: Wenn es denn vorbei ist, dann merken wir das schon. Aber es stimmt: Wir haben uns zwar über mehrere Jahre lang vor „Hell“ gelegentlich noch gesehen, wenn wir Sachen wie die Werkschau absprechen mussten, aber eigentlich war die Luft raus. Ab und an gab es aber dann doch immer mal wieder Äußerungen, dass es vielleicht noch nicht vorbei ist.

Rod González Ich hatte zwar nie Angst davor, dass sich die Band auflöst, weil ich der Meinung bin, dass selbst wenn es morgen vorbei sein sollte, wir so ein großes Opus hinterlassen, dass man sich gemütlich zurücklehnen kann. Wir hatten schon vor „Hell“ genug getan, um stolz zu sein. Aber zwischenzeitlich hatte ich schon das Gefühl: Ja, das könnte jetzt auch das Ende der Band sein.

tipBerlin Wodurch hat sich das geändert?

Bela B 2016 bin ich mit der Gypsy-Swing-Band Danube’s Banks bei „Jamel rockt den Förster“ aufgetreten. In diesem Nazi-Dorf bot sich natürlich an, „Schrei nach Liebe“ zu spielen.

tipBerlin Euren alten Anti-Nazi-Klassiker.

Bela B Genau, aber ohne Farin und Rod konnte ich mir das nicht vorstellen. Also habe ich den beiden Nachrichten geschickt: Rod hat sofort zugesagt. Farin hat sich noch ein wenig geziert und geschrieben, er käme, wenn Rod auch kommt.

Rod González Und dann wurde das ein richtig schöner Abend. Ein milder, warmer Sommertag. Schon die Fahrt dahin war lustig: Farin und ich sind zusammen mit dem Auto hin gefahren, die Instrumente im Kofferraum, und haben die ganze Fahrt über die Beatles gefachsimpelt – und auf der Rückfahrt ging es weiter. Wir hatten lange nicht mehr so viel gequatscht – vor allem mal über etwas anderes als nur über Die Ärzte.

Bela B Nicht zuletzt hat die Euphorie dieser 1.000 Leute, die uns da gesehen haben, weil sie zufällig zur richtigen Zeit am richtigen Ort waren, noch einmal etwas mit uns als Band gemacht. Danach war es einfacher, den Kontakt untereinander zu halten

Farin Urlaub Deutlich einfacher.

tipBerlin Habt ihr bei diesem mittlerweile legendären Kurzauftritt gemerkt, dass ihr eine gesellschaftliche Bedeutung, ja vielleicht sogar eine Aufgabe habt, die ihr selber nicht mehr erwartet hattet?

Bela B Ja, stimmt schon, das war in Jamel sehr offensichtlich zu spüren. Aber dass dieser Song „Schrei nach Liebe“ eine Bedeutung hat, das war uns schon lange vorher klar. Der wird immer wieder für Flash-Mobs gegen Nazis verwendet, kam als Aktion gegen die AfD wieder in die Charts und ist gar nicht wegzudenken von Demos – genauso wie „Deine Schuld“, der auch immer bei Fridays For Future gespielt wird. „Schrei nach Liebe“ ist Antifa-Folklore geworden.

Farin Urlaub Das ist der Song, der größer ist als wir selber.

tipBerlin Hat dieses Revival von „Schrei nach Liebe“ auch dazu geführt, dass „Hell“ so politisch geworden ist für eure Verhältnisse?

Farin Urlaub Wir gehen ja nie mit einem Konzept an ein Album. Einzige Ausnahme: „Le Frisur“. Auch diesmal haben wir die Demos erst einmal getrennt aufgenommen. Und als wir dann zusammenkamen und uns die Songs vorgespielt haben, die wir geschrieben hatten, waren wir selber überrascht, wie viele Lieder zusammenkamen, die eine, sagen wir mal, gesellschaftliche Relevanz hatten. Wir haben dann sogar noch ein paar von denen rausgeworfen. Aber es war wohl einfach so, dass es ein paar Themen gab, die uns als Privatpersonen so angekotzt haben, dass wir dazu Lieder gemacht haben.

Während Die Ärzte Pause gemacht haben, hat die Welt sich nicht verändert

Rod González Dass es so viele politische Lieder auf „Hell“ gibt, das liegt, glaube ich, auch einfach daran, wie die Welt ist: Da hat sich, während Die Ärzte Pause gemacht haben, ja nichts verändert. Es ist eher noch schlimmer geworden. Diese Themen wie AfD, Querdenker oder die Identitären, die lagen einfach in der Luft, und die gehen an uns natürlich nicht vorbei. Aber ein Kalkül, dass wir als politische Band wahrgenommen werden wollten, das gab es überhaupt nicht.

Farin Urlaub Denke ich auch. Dass auf „Hell“ so viele eher politische Songs waren, liegt vielleicht auch daran, dass das Album nach acht Jahren Abwesenheit fast so etwas wie ein Befreiungsschlag war – und deshalb alles drauf ist, was uns wichtig war nach dieser langen Zeit.

Bela B Zugegeben, es geht um mehr als nur um Boy-meets-Girl-Lovesongs, aber ich finde „Hell“ gar kein so ultra-politisches Album. Ich glaube, das liegt einfach daran, dass wir alle älter werden und uns anders mit der Welt auseinandersetzen, als wir es früher getan hätten. Aber das tun wir ja jetzt auch schon eine ganze Weile. Unsere Aufgabe bleibt es aber vor allem, den Menschen Optimismus und gute Gefühle mit auf den Weg zu geben – und deshalb nehmen wir uns in Acht davor, den moralischen Zeigefinger auszupacken. Der „Polyester“-Song von Rod ist ja auch kein platter Anti-Plastik-Song …

Farin Urlaub Er nähert sich dem Thema eher philosophisch.

Rod González Ich hatte über das Thema Mikroplastik gelesen und war erschüttert, dass selbst im Honig Mikroplastik gefunden wurde. Das hat gewisse Horrorfantasien in meinem Kopf freigesetzt – und hat mich an einen japanischen Film aus den 80er-Jahren erinnert, in dem sich ein Mensch langsam in eine Metallmaschine verwandelt. Ich finde, Mikroplastik ist ein Thema, das jeden von uns umtreiben sollte.

tipBerlin Kann man mit Popmusik tatsächlich etwas politisch bewegen?

Farin Urlaub In dem Sinne, dass ich ein Lied mache, weil ich will, das sich etwas konkret ändert, und dann zu glauben, das wird auch geändert – so einfach ist es natürlich nicht. Wenn ich ein Lied gegen Atomkraft mache, dann schaffe ich damit nicht sofort die Atomkraft ab – so eins zu eins funktioniert das nicht. Aber was man nicht unterschätzen darf: Musik ist eine soziale Währung. Musik kann dazu führen, dass eine Gruppe oder eine Subkultur eine gemeinsame Identifikation findet, und dadurch auch eine gemeinsame Stärke und auch eine politische Kraft entwickelt.

Klar, wenn alle nur zuhause sitzen und für sich allein Musik hören, wird da politisch nicht viel bewegt. Aber wenn du zu einem Konzert von uns gehst und beobachtest, wie die Leute mit der Inbrunst von Kirchenliedern Songs von uns mitsingen, die zum Teil ja auch eindeutige politische Botschaften haben, dann würde mich das wundern, wenn das nicht im Endeffekt auch etwas bewegen würde.

Bela B Das hast du sehr schön gesagt in einem nicht enden wollenden Vortrag.

Farin Urlaub Aber jetzt bist du auch wieder dran.

Bela B Na dann: Musik ist eine Währung, und wir sind die musikalische Notenbank.

(Gelächter)

Rod González Ich glaube auch nicht, dass irgendjemand wegen eines Songs auf die Straße geht oder dass ein Lied einen Systemwandel auslösen kann. Aber es kann zu einem Diskurs beitragen. Und es kann Menschen in ihrer Einstellung stärken.

Bela B Wenn man ein Lied wie „Deine Schuld“ mitsingt und mitgröhlt, das merke ich ja selber, gibt einem das eine gewisse, aber halt auch eher unbestimmte Kraft. In diesem Fall sogar so unbestimmt, dass „Deine Schuld“ eine Zeitlang ja auch auf Nazi-Demos lief. Das ist zum Glück vorbei. Aber „Schrei nach Liebe“ haben wir damals auch geschrieben, weil wir uns gegen Rechts positionieren wollten. Und weil wir nicht als lustige, ulkige Typen mit schneller Gitarrenmusik vereinnahmt werden wollten von rechts – denn bis dahin sind ja durchaus auch Skins zu unseren Konzerten gekommen. Und als ich letztens bei einer FFF-Demo mitgelaufen bin, lief „Deine Schuld“ ungefähr alle Viertelstunde – und das hat mich schon sehr stolz gemacht.

tipBerlin Man kann also schon sagen: Die Ärzte sind auch nach bald vier Jahrzehnten noch relevant?

Rod González Relevanz ist ein großes Wort, aber natürlich: Wenn Die Ärzte was machen, dann hören sich das die Leute auch an. Wie viele Bands gibt es, die niemand hört? Und wenn man sich mal umguckt: Es gibt so viele Musiker und Texter, ja sogar HipHopper, die das machen wegen der Ärzte. Die kleinen Fans von damals haben jetzt ihre eigenen Bands und Projekte, und feiern uns alte Herren ab, wenn wir mal wieder was zustande bringen. Ja, wir haben eine Relevanz.

tipBerlin Relevant ist auch eure letzte Single „Achtung: Bielefeld“, die die Stimmung in der Corona-Krise beschreibt …

Bela B Der Song ist eine allgemeingültige Betrachtung zum Thema Langeweile – und nicht unbedingt auf Corona gemünzt. Natürlich atmet das ganze Album „Hell“ diese Zeit, weil es während dieser Zeit entstanden ist…

Farin Urlaub Aber die Texte setzen sich nicht explizit damit auseinander.

„Es ist schon schwer geworden, sich zu langweilen“

Bela B Ich wollte mich einfach mal mit dem Thema Müßiggang auseinandersetzen, mit diesem Drang, sich ständig optimieren und immer auf dem Laufenden sein zu müssen. Das war vor Corona so und wird sich nach Corona wohl auch nicht verändert haben– oder vielleicht ja doch. Vielleicht merken Leute jetzt auch, dass man sich auch mal allein beschäftigen kann. Oder sich gar nicht beschäftigen muss und einfach mal sein kann. Das war die Idee des Songs. Und seien wir ehrlich: Es ist schon schwer geworden, sich zu langweilen. Geh mal in ein Wartezimmer, da sitzen alle mit von ihrem Handy erleuchteten Gesichtern.

Farin Urlaub Sollte mir das zu denken geben, dass dir zu dem Thema in deinem Alter als erstes ein Wartezimmer einfällt?

Bela B Ja, ich denke eben etwas voraus. Aber in dem Song geht es mir darum, Nichtstun nicht als verlorene Zeit zu empfinden, sondern als Beschäftigung mit sich selbst. Sich mal auf die kleinen Dinge konzentrieren. Wann hat man zum letzten Mal bewusst eine Tasse Tee getrunken? Wann hat man sich das ein bisschen bessere Geschirr, das man extra dafür gekauft hat, wirklich angesehen – und das alles genossen?

Farin Urlaub Es gibt diesen Werbespruch, den ich nie verstanden habe: Jeder Moment braucht jemanden, der ihn festhält. Das ist eine Idee, die meinem Leben diametral entgegen steht. Man muss doch keinen Moment festhalten. Ein Moment wird doch erst dadurch zum Moment, dass er vorbei ist. Und das ist dann schön so.

Gut, dass das doch jemand festgehalten hat: Die Ärzte 2002 auf dem Mariannenplatz in Kreuzberg. Foto: Imago/Brigani-Art
Gut, dass das doch jemand festgehalten hat: Die Ärzte 2002 auf dem Mariannenplatz in Kreuzberg. Foto: Imago/Brigani-Art

tipBerlin Aber es ist schon so: Während Corona reden alle über ihre Langeweile. Langweilt ihr euch auch?

Farin Urlaub Ich muss für mich sagen: Ich kenne Langeweile nicht. Ich spiele zwei, drei Stunden am Tag für mich alleine auf einer akustischen Gitarre vor mich hin. Einfach was mir einfällt, komplett unproduktiv. Aber ich brauche das als Ausgleich.

Rod González Ich langweile mich auch nicht, aber es kommt schon der Moment, in dem sich die Sinnfrage stellt. Du hast ein Album gemacht, bist ganz heiß darauf, diese Lieder auch live zu spielen, es brennt ja auch in einem, und dann darf man das nicht. Da fragt man sich schon mal: Warum macht man den Scheiß eigentlich? Das macht schon was mit einem. Aber das ist Jammern auf hohem Niveau, uns geht es ja noch gut. Aber kleinere Bands, die keine Rücklagen bilden konnten, bei denen geht es jetzt um die Existenz. Die brauchen sich die Sinnfrage nicht zu stellen, die fragen sich: Wo krieg ich das Geld für die Miete her?

tipBerlin Kennt ihr Leute aus eurer Branche, die wegen Corona aufgeben mussten?

Rod González Klar, ich kenne genug, die darüber nachdenken müssen, ob sie demnächst auf dem Bau arbeiten oder Pakete ausfahren. Und das ist gar nicht so öffentlich, wie es sein sollte. Die Soloselbstständigen aus der Veranstaltungsbranche, wo wir ja auch viele Freunde haben, die sind wenigstens relativ laut. Aber der Künstler und der Musiker, der sowieso immer schon ein Einzelkämpfer war, der ist gar nicht sichtbar, darüber wird nicht berichtet. Da gibt es keine Lobbygruppe, keinen Verband, der diese Leute auffängt. Das sind Schicksale, die keiner mitkriegt. In meinem Bekanntenkreis gibt es Leute, die auf Pfleger umlernen. Es ist eine ganz schwere Zeit. Und das Allerschlimmste ist, dass es so unverschuldet ist.

tipBerlin Eine Zeit lang sah es so aus, als würden alle mit Konzert-Streams der Krise zu trotzen versuchen – nur ihr habt nicht mitgemacht.

„Ihr armen Schweine fickt euch damit selber ins Knie“

Rod González Als es los ging, hab ich mir ein paar dieser Streams angeguckt. Mein Gott, war das langweilig. Ich hab mir Wacken angesehen. Todlangweilig. Diese Verzweiflung, aus der heraus unbedingt Content generiert werden musste, um irgendwie stattzufinden, weil man Angst hatte, in Vergessenheit zu geraten – das kann ich sogar verstehen. Was ich nicht verstanden habe: dass die das alles umsonst gemacht haben. Die Musik, die heutzutage ja eh schon so wenig Wert hat, wurde noch einmal wertloser gemacht. Ich hab eher gedacht: Ihr armen Schweine fickt euch damit selber ins Knie.

tipBerlin Ihr steht der Digitalisierung schon lange kritisch gegenüber. CDs waren lange nicht euer Ding, auch das Streamen von Musik lehnt ihr ab …

„Musik ist jederzeit verfügbar und damit so wertlos wie Verkehrslärm“

Bela B Das hat sich aber auch etwas relativiert. Seit dem vorletzten Jahr gibt es außer den B-Seiten, Live-Aufnahmen und besonderen Songs alle Alben der Ärzte auch zu streamen.

Farin Urlaub Aber wir finden immer noch, dass Streaming dafür sorgt, dass Musik zu wertloser Hintergrundbeschallung degradiert wird. Musik ist überall und jederzeit verfügbar und damit ebenso wertlos wie Verkehrslärm. Das ist doch scheiße.

Bela B Der positive Aspekt des Streamings ist, und so nutze ich es auch: Du hörst Musik von einer Band, weil du sie hören willst – und findest fast alles, das du suchst. Aber das ist ja nicht das Normale. Gang und gäbe ist stattdessen, dass die Leute eine Playlist anmachen und ein Algorithmus bestimmt deinen Musikgeschmack. Das ist beliebig, das ist furchtbar. Ich höre Nirvana und anschließend schlägt mir mein Algorithmus Nickelback vor – Dankeschön!

Rod González Deswegen bin ich immer noch radikaler Hardware-Hörer. Ich habe letztes Jahr mal einen Test-Account eröffnet – und war entsetzt. Erstens habe ich ganz viel nicht gefunden, was ich hören wollte. Und vor allem vermisst habe ich Informationen zur Musik. Da steht ja nicht mal mehr die Komponistenangabe. Das interessiert mich doch als Fan! Früher hat man Sachen entdeckt, wenn man Plattencover studiert hat. In welchem Studio wurde das aufgenommen, wer hat es produziert, wer hat mitgespielt. Klar, das ist Nerdwissen, aber so entdeckt man andere Musik, und das wird aussterben. 

tipBerlin Verändert sich denn auch die Musik selbst durch Streaming und soziale Medien?

„Die Leute haben noch 15 Sekunden, um Interesse zu wecken“

Bela B Ich will ja auch gar nicht der grummelige Onkel sein, der alles schlechtredet. Aber an TikTok, das jetzt von allen, auch alteingesessenen Medien, hochgejubelt wird aus Angst, einen Trend zu verpassen, sieht man doch exemplarisch: Die Leute haben noch 15 Sekunden, um Interesse zu wecken.

Farin Urlaub In unserer Jugend gab es Bands, die hatten Songs, bei denen allein das Intro drei, vier Minuten lang war. Dann wurde mal gesungen und noch mal zwei Minuten später kam vielleicht ein Refrain. Heute muss der Refrain nach spätestens 40 Sekunden durch sein, sonst hört niemand mehr den Song.

Bela B Das ging ja schon in den 90er-Jahren mit MTV los. Um da gesendet zu werden, musste gleich am Anfang was passieren, aber bloß kein diffiziler musikalischer Aufbau, sonst wurde weggezappt – das war die Angst. Sowas wie Queen wäre heute nicht mehr möglich. Andererseits: Gerade dann, wenn es am schlimmsten und bedrohlichsten zu sein scheint, passieren wieder gute Sachen in der Musik. Farin und ich finden gerade K-Pop interessant, weil innerhalb der Songs wahnsinnig viel passiert. Da werden alle möglichen Stile verwurstet, also insofern ist das auch ein Ausdruck dieser ständigen Verfügbarkeit durch Streaming, aber ich finde es trotzdem sehr spannend. Also: Ich bin weiter guter Hoffnung, dass aus allem Negativen in der Musik auch etwas Positives erwächst.

tipBerlin Sehr viel passiert musikalisch mitunter auch in euren Songs …

Bela B Ja, ausgerechnet wir, die wir als Rumpelrocker verschrien sind, waren die einzigen, die zum Tode von Frank Zappa einen Tribute-Song gemacht haben.

Farin Urlaub Als einzige weltweit.

Schnieke im Anzug: Die Ärzte bei einem Waldbühnen-Konzert 2019. Foto: Imago/Future Image
Schnieke im Anzug: Die Ärzte bei einem Waldbühnen-Konzert 2019. Foto: Imago/Future Image

tipBerlin Ihr zitiert gerne musikalische Stile, manchmal mehrere in einem Song. Macht ihr eigentlich Listen: Diesen Stil haben wir noch nicht adaptiert, der wär mal dran?

Farin Urlaub Nein, das ist komplett organisch, das passiert einfach. Wir haben nie einen Plan, den wir abhaken wollen.

Bela B Aber es gibt schon die Tendenz in der Band, die anderen mit einer Idee oder einer Stilrichtung, die wir noch nie adaptiert haben, aus dem Konzept zu bringen oder doch wenigstens in Erstaunen zu versetzen – das ist bei Farin allerdings einfacher als bei Rod.

Rod González Aber ob das ein Ska ist oder ein Funk oder Rock’n’Roll, ob es nach Disco klingt oder eine Gothic-Nummer wird, das entscheidet schon vor allem der jeweilige Komponist des Stücks. Jeder kommt mit seinem Demo an, dann lachen wir alle erstmal herzhaft – und sagen, ob wir uns die Umsetzung so vorstellen können. Da gibt es keine strategischen Überlegungen: Jetzt brauchen wir aber noch einen Rockabilly.

Farin Urlaub Das hat auch viel damit zu tun, dass wir selber immer noch Fans sind. Und dass wir als Fans nicht statisch sind, sondern immer noch neue Musik entdecken oder alte Musik wiederentdecken – das fließt dann über Umwege auch in unsere Musik ein. Wir werden offener, je länger es uns gibt. Mittlerweile trauen wir uns Experimente – mal eher subtile, öfter eher unsubtile –, die nicht viel mehr zu tun haben mit dem Sound, mit dem wir mal angefangen haben – und das macht total Spaß.

tipBerlin Warum klingt es schlussendlich trotzdem immer nach Die Ärzte?

„Wir spielen dann eben stattdessen Berliner Ärztesteady“

Rod González Das liegt an unseren musikalischen Limitierungen. Wir können einfach nicht alles spielen. Wenn wir versuchen, einen jamaikanischen Rocksteady hinzukriegen, dann wird uns das nicht gelingen. Aber es wird dafür nach Die Ärzte klingen. Sonst wären wir ja eine Top-40-Band, die alles covern kann.

Bela B Es ist und kann ja auch nicht unser Ansatz sein, so authentisch wie das Original zu klingen, wie soll das auch gehen? Nah dran reicht uns. Weil wir wirklich alle Einflüsse in unserer Musik zulassen, entsteht etwas Neues, unser eigener Stil. Wir spielen dann eben stattdessen Berliner Ärztesteady. Auch gut.

tipBerlin Wieviel Prozent dieser musikalischen Witze und Anspielungen kriegt der Durchschnittshörer mit?

„Wir haben Narrenfreiheit“

Farin Urlaub Keine Ahnung, aber es ist auch völlig unerheblich. Nicht, weil uns die Hörer egal sind, aber das machen wir vor allem für uns selbst. Weil sonst jedes Album ja klingen würde wie das zuvor. Aber ich gebe zu, ich freue mich, wenn ich einmal im Jahr mein Fanpost-Mailfach aufmache und dort eine Nachricht finde, in der jemand schreibt: „Denkt nicht, dass ich nicht bemerkt hätte, dass ihr in dem Song diese eine Band zitiert habt.“ Aber der Hauptgrund ist, dass wir drei unseren Spaß haben.

Bela B Ja, genau. Allermeistens kriegt es eh keiner mit, aber das ist uns auch egal. Hauptsache, wir wissen, dass im Abspann von „Männer sind Schweine“, unserer erfolgreichsten Single aller Zeiten, „Bullenschweine“ von Slime zitiert wird – und da während der sechs Wochen, in denen der Song auf Platz Eins der deutschen Charts stand, eine Coverversion von „Bullenschweine“ von Fischmob auf dem Index landete, ist das offensichtlich allen Radiomenschen und Sittenwächtern durchgerutscht ist – und das hat uns schon diebisch gefreut. Aber bei den Ärzten drückt man inzwischen anscheinend beide Augen zu. Wir haben Narrenfreiheit.

tipBerlin Habt ihr die?

Farin Urlaub Ich hab schon das Gefühl. Vielleicht lässt man uns nicht alles durchgehen, aber es wird schon eher gesagt: Naja, sind halt Die Ärzte.

Bela B Wir haben mal vor Ewigkeiten ein Sample von Klaus Kinski verwendet, ohne um Erlaubnis zu fragen. Dann hab ich mal einen der Rechteinhaber getroffen, der gesagt hat: Nicht, dass ihr denkt, dass wir das nicht gemerkt hätten, aber uns war klar, dass wir vollkommen uncool dastehen in ganz Deutschland, wenn wir wegen so etwas Die Ärzte verklagen. Das geht aber auch immer auf und ab: Mal wird man gelobt, dann kommen wieder die Verrisse. Und eigentlich wird seit dem Beginn der Band zu jedem Album von uns geschrieben: Jetzt sind sie aber endgültig am Ende.

tipBerlin Ich habe ja eher den Eindruck, ihr steht mittlerweile über jeder Kritik. Die Ärzte können einem vielleicht egal sein, aber schlecht finden geht kaum noch.

„Süß, Die Ärzte wollen wieder provozieren, Alta! Niedlich!“

Farin Urlaub Man darf uns schon noch schlecht finden. Und es gibt ja auch Kritik an uns, die vollkommen gerechtfertigt ist. Wär auch schlimm, wenn es anders wäre. Die Band, die allen gefällt – sowas ist doch fürchterlich.

Bela B Es gibt schon noch Menschen, die uns scheiße finden. Aber die fallen auf, weil es nur noch wenige sind.

(Gelächter)

Bela B Aber dieses allgemeine Wohlwollen ist schon auch ein Problem für uns. Denn Provokation war schon auch immer ein wichtiger Teil unseres Schaffens und unserer Kunst.

Farin Urlaub Auch unseres Selbstverständnisses.

Bela B Wir finden schon schade, wenn wir liebevoll ein böses Detail einbauen und die Leute sich nur noch in die Seiten hauen und sagen: Ach guck mal, süß, Die Ärzte wollen wieder provozieren, Alta! Niedlich!


Mehr zu Die Ärzte

Habt ihr es geschafft, ein Ticket zu kriegen? 2022 touren die Ärzte durch Berlin – alle Infos. Wir blicken zurück: Das ist die Geschichte von Die Ärzte und Berlin. In dieser Liste haben sie natürlich einen Ehrenplatz: Die 12 wichtigsten Bands aus Berlin. Achso, wenn ihr es nicht mitbekommen habt: Satte Riffs und starke Texte auf dem Die Ärzte-Album „Hell“ – die Plattenkritik. Immer auf dem Laufenden bleiben: Alle unsere Texte über Musik.

Tip Berlin - Support your local Stadtmagazin