Der Anti-Klangkitsch-Krieger: Die Neoklassik versinkt gerade in plätschernder Belanglosigkeit. Martin Kohlstedt ist der Mann, der sie retten muss. Nun lässt er einen 70-köpfigen Chor improvisieren – ein Ereignis
Die Neoklassik hat ein großes Problem: Streamingplattformen fahren mit öde funktionaler Einschlafmusik den Neoklassik-Karren in den Dreck. Easy-Piano-Chill-out et cetera. Einige dieser vermeintlichen Chill-Komponist*innen tauchen nur bei einem einzigen Streamingdienst auf, weshalb schon spekuliert wird, ob die eh schon niedrigen Tantiemen umgangen werden und Leute unter Exklusiv-Low-Budget-Vertrag und Pseudonym zu Billigkonditionen Klangstangenware produzieren – oder ob es sich am Ende gar nicht mehr um menschliche Komponist*innen handelt, sondern um seelenlose Software-Algorithmen, die Soft-Piano-Sounds kreieren, softer als jedes Supersoft-Toilettenpapier. Aber der Rubel rollt, und sogar Hauschka und Chilly Gonzales, einst Rebello-Pioniere des Genres, haben zuletzt zahme Alben vorgelegt, die unauffällig plätschern wie dekorative Springbrunnen.
Martin Kohlstedt heißt der Mann, der den Ruf der Neoklassik retten kann. Dabei ist der 31-Jährige einer, der vermutlich besagte selbstkomponierende Software schreiben könnte – denn er ist gelernter Programmierer. Aber Kohlstedt lässt seine Synthesizer lieber mal brutal schreien. „In dem Moment, wo du harte Kontraste reinbringst“, sagt er, „viel Aufmerksamkeit erzwingst, kriegst du Stress mit den Streamingplattformen.“
Für ihn ein Zeichen, dass er auf dem richtigen Pfad ist. Er hat Roboter gebaut, mit Pflanzen auf dem Kopf, die nach Licht suchen. Noch heute reißt er die Augen und den Mund kindlich weit auf, wenn er davon erzählt.
Science-Fiction-Hörspiele produziert hat er, vielleicht kommt daher auch die ein oder andere abgedrehte Idee.
Sein neuester Coup: Auf seinem neuen Album „Ströme“ improvisiert ein 70-köpfiger Chor zum kohlstedtschen Klangspiel. Unter Leitung eines Dirigenten, der spontan die immer wieder neuen Einfälle Kohlstedts choral umspielt. Aber ohne fertigkomponierte Partituren. Denn Kohlstedt improvisiert auf seinen vage vorbereiteten Themen jedes Mal anders, auch in anderer Tonart – der Chor darf also nicht wie ein schwerer träger Tanker reagieren, sondern wie eine Formation schneidiger Wasserflugzeuge. Da kann’s auch mal crashen. Der Album ist zwar kein kakophonisches Tohuwabohu, wohl aber ist es mit seinen vielstimmigen Unter-„Strömen“ viel zu unruhig wirbelnd, um als Einschlafkuscheldecke funktionalisiert zu werden.
Wie lief für einen spontan agierenden Eigenbrötler wie Kohlstedt die Arbeit mit dem Gewandhauschor, 70 Stimmen, die eine gewisse Struktur brauchen zum Singen? „Da gab es viele Experimente, auch mit Handzeichen“, erinnert sich Kohlstedt. „Gregor Meyer, der Gewandhaus-Chorleiter, ist da unheimlich progressiv herangegangen – hat mein nicht gerade klassisches Vokabular auf alle anderen konvertiert. Er hat Zahlen reingeworfen, Chor-Akkorde im Moment gebaut, Tonarten aus dem Nichts bestimmt.“ Kohlstedt sieht darin auch ein Revival alter Freiheiten, die die klassische Musik im Lauf der Zeit verlernt hat. „So legt sich die Essenz von Musik wieder frei. Ein Chor, der in jedem Moment auf die Hände des Chorleiters gucken und sich gegenseitig zuhören muss. Man versucht, das bequeme Terrain zu verlassen und tappt durch gruselige Sümpfe, aber die sind meditativ. Ja, wo führt das jetzt hin? Man guckt sich dann an wie Hunde, und irgendjemand entscheidet: Okay, ich geh jetzt rüber. So schiebt man sich intuitiv – und das ist das Zauberwort – Unterbewusstes zu. Hinterher fühlst du dich so, als hättest du vier Wochen lang Sport und Kur zugleich gemacht. Das fordert brutal, aber macht einen auch sauber.“
Man sollte ja meinen, dass dem Chor nach ersten Experimenten dann nach einigen Konzerten die Spontaneität abgeht. Kohlstedt gibt Kontra: „Nee, es ist eher andersrum: Durch dieses steigende Vertrauen wagt man noch mehr. Man weiß, so weit haben wir es noch nie getrieben, also machen wir es jetzt! Ich spiele Sirenen, Gregor schiebt noch einen dissonanten Ton mit dazu, dann gerät da eine Spannung rein. Es wird immer mehr zum Spielplatz.“
Zu Beginn hatte Kohlstedt trotzdem Panik: „Ich dachte, der Chor ist ja so renommiert, und die hassen das bestimmt, wenn ich sie kindliche Strukturen singen lasse. Und die dachten vielleicht: Jetzt kommt hier wieder eine neue Jungfratze, die glaubt, Gott zu sein. Aber man muss wissen: Ich spiele dieses eine Stück seit meinem zwölften Lebensjahr. Ich habe es auf Hochzeiten gespielt und auch zu Zeiten, als ich Menschen verlor. Und meist für mich allein.“ Das Thema daraus hat er auf der ersten Probe angestimmt. „Und auf einmal setzt ein Chor von 70 Leuten drauf ein. Zu dieser introvertierten, hauchdünnen Sache kommt auf einmal eine Klangarmee dazu. Ich habe losgeweint. Das war so ein befreiender Moment.“ Alle Vorurteile, die der Chor von Kohlstedt und Kohlstedt vom Chor hatten, lösten sich in diesem Moment auf. „Es brauchte niemand mehr so zu tun als ob.“ Und nicht mehr so zu tun als ob – das ist wohl die beste Weise, Krieg zu führen gegen seelenlosen Klangkitsch. Kohlstedt ist der König dieser Klangarmee.
Physisch versinken im Klavier
Doch das war nicht immer so. Wenn Martin Kohlstedt von seiner Kindheit erzählt, klingt es, als spräche er von einem dritten, einem anderen: „Man ist auf dem Thüringer Land aufgewachsen“, sagt er, „mit all den Regeln und Schulhöfen. Man war da ein Pausenclown, der die eigene Harmoniesucht schön versteckt hat hinter dummen Sprüchen und viel Sport. Doch dann fängst du an, in einem Raum ehrlich zu sein.“ Für ihn war dieser Raum das Klavier auf seinem Zimmer. „Gitarre ist so nach vorn raus, für andere gedacht. Klavier ist das einzige Instrument, in dem man physisch versinken kann“, sagt er. „Du nimmst diese vordere Wand raus, lehnst dich weit rein, zu den Saiten. Das hab ich gebraucht. An jedem verdammten Tag.“
Auf Kohlstedts ersten beiden Platten gab es folgerichtig nur Klavier, keine Elektronik. Dann lag mal zufällig ein Synthesizer auf dem Klavier, aus einer HipHop-Band, in der er spielte. Er hatte sich in dutzenden Bands ausprobiert. „Ich habe gesucht wie ein Irrer, aber ich hätte nach innen gehen sollen. Dann habe ich angefangen – parallel zum Piano – auf dem Synthesizer zu tippen“, erzählt Kohlstedt. „Der Synthesizer fing an, mit dem Klavier zu diskutieren. Und auch ich in mir selbst. Manchmal willst du was davon kaputtmachen oder auch aufblühen lassen. Am Anfang war vieles schroff und brutal. Mit Worten bin ich immer viel zu kontrolliert. Doch mit dem Synthesizer habe ich eine Möglichkeit gefunden, aus dem Nichts heraus zu schreien. Ich drücke etwas haptisch, und die Spucke läuft mir schon aus dem Gesicht.“ Das mag kein schöner Anblick sein, aber ein wenig Hässlichkeit tut der Neoklassik gerade ganz gut.
Konzerthaus Berlin Gendarmenmarkt, Mitte, Mi 18.12., 20 Uhr, VVK ab 65,95 € zzgl. Gebühren