Wofür steht eigentlich die in Neukölln heimische Avantgarde-Reihe Kontraklang am Markt der klassikdurchsuppten Formate?
Was Kontraklang eigentlich bedeutet, weiß Organisator Christopher Williams selber nicht so genau. „Einerseits rätselhaft. Andererseits gegen irgendwas…“, meint er ratlos. – Daran genau sollt ihr sie erkennen! Während die Neue Musik anderswo immer noch eine ziemlich dogmatische, ideell dröge und rigide Angelegenheit ist, wuchert’s bei Kontraklang anarchisch. Man will sich nicht festlegen. Weil man findet, dass genau das der Fehler wäre. Und darin liegt man goldrichtig. Seit fünf Jahren gibt es die Reihe. Eigentlich residiert man im Heimathafen, fliegt doch in letzter Zeit öfter mal aus, weil die Bedingungen im immer angesagteren Saalbau härter werden. So etwa in den türkischen Club Arkaoda, wo man sonst eher Rockmusik spielt. Oder zum gemeinnützigen Integrationsverein Morus14. „Wir wohnen in Neukölln, es ist unser Bezirk“, so Christopher Williams. Der habe sich so ausgiebig zum Kulturkiez entwickelt, dass sich eine eigene Klientel und Szene ausgebildet habe. Schon klar.
Das gilt nicht nur für Off-Kultur, Jazz und Trash, sondern auch für klassikdurchsuppte Formate. Viele der interessantesten E-Musik-Veranstaltungen finden mittlerweile in den ehemaligen Underdog-Bezirken statt. Zum Beispiel im Silent Green oder im längst berühmten Pianosalon Christophori, beide im Wedding. Auch Kontraklang in Neukölln gehört zum Sumpfacker dieser neuen Klassikflora. Man ist gar nicht so klein.
„Unser Etat liegt um die 100.000 Euro“, so Williams. Finanzieren tut’s der Senat, beziehungsweise der Hauptstadtkulturfonds. „Die haben uns gerettet“, so Williams. Man hat viel größeren finanziellen Spielraum als langjährige Institutionen wie etwa die „Unerhörte Musik“ im Kreuzberger BKA (die nur 13.000 Euro erhalten). Das Team besteht aus drei Leuten: einem Kontrabassisten (und Komponisten), einem Musikvermittler und einer Musikwissenschaftlerin. „Wir arbeiten sehr egalitär“, sagt Christopher Williams. Man könne „ordentliche Gagen“ zahlen, was in dieser Szene eine Ausnahme darstellt.
Weil man sich demzufolge vor Angeboten kaum retten kann, gehören die Zeiten, in denen man auf der Homepage eine Telefonnummer oder eine E-Mail-Adresse finden konnte, der Vergangenheit an. „Wir kriegen oft Vorschläge von Rock-Bands oder aus anderen angrenzenden Bereichen, die wir nicht brauchen können.“ Die Reihe scheint mittlerweile im Bereich normaler Luxusprobleme angelangt. (Gottlob! Und das ist ernst gemeint.)
Natürlich sitzt man irgendwie zwischen allen Stühlen. „Wir sind nicht ganz Klassik und überhaupt nicht Pop“, so Williams. „Wir sind Kammermusik-Typen ohne kommerzielle Absichten.“ Klassik bildet den Fundus, experimenteller Pop den Steinbruch, in dem man räubert. „Wir spielen eigentlich keine Stücke, die älter sind als 40 bis 50 Jahre.“ Ausnahmen bestätigen das.
In monatlichen Konzerten hat man zuletzt den Vokal-Experimentalisten David Moss zu Gast gehabt sowie den Klaus-Nomi-Klon Felix Kubin. Hommagen widmete man dem Komponisten Maurizio Kagel und dem Dichter Gerhard Rühm. Es geht um Improvisation, Klangkunst, Kammermusik, Musiktheater und Multimedia. Man will eine Brücke sein. Keine Ahnung wohin.
Fürs nächste Event verlässt man den Neuköllner Kiez in Richtung Wilmersdorf. Die dortige Lindenkirche (zwischen Heidelberger und Rüdesheimer Platz) ist der einzige Berliner Raum mit drei großen Orgeln. Eine von ihnen ist „mitteltönig“ getuned. Diese historische Stimmung, sonst nur noch bei Museumsstücken anzutreffen, verfügt über dermaßen spezielle Schwingungen, dass man sich selbst bei tonaler Musik ungläubig die Ohren reibt.
Zum Reingehen, als buchstäbliche „Einlassmusik“, improvisiert Alexander Moosbrugger noch eher traditionell über Tastenmusik von Girolamo Frescobaldi. Innen drin spielt die Avantgarde-Jazz-Musikerin Ellen Arkbro zwei eigene Kompositionen: „Chords“ für Orgel (2019) sowie die Berlin-Premiere von „For Organ and Brass“ (2017), gemeinsam mit dem Trio Zinc & Copper. Man preist es als „Meisterwerk in Sachen Drones, Minimalismus/Maximalismus, Mikrotonalität und Raumklang“.
Im Zentrum des Abends steht das 45-minütige „Opus“ der eigentlich als Konzeptkünstlerin legendären Hanne Darboven (1941-2009). Die mit Schreibzeichnungen und Zahlenkolonnen berühmt gewordene Künstlerin war zugleich eine profilierte Komponistin. Indem Darboven seit den frühen 80er-Jahren dazu überging, ihre Zahlensysteme in Töne zu übersetzen, entstand ein nicht umfangreiches, aber hochinteressantes Musik-Œuvre, welches sich im normalen Konzertbetrieb bislang nicht durchgesetzt hat. Hier aber doch.
Schon angesichts des Kultstatus von Hanne Darboven ist das Konzert ein absolutes Ereignis. Für vagabundierende Konzert-Marodeure dürfte außerdem ein Sakralraum wie die Lindenkirche an Exotik kaum zu überbieten sein. Wer die Reihe noch nicht kennt, sollte erst recht hingehen.
Lindenkirche Homburger Str. 48, Wilmersdorf, Sa 15.6., 20 Uhr, AK 10, erm. 8 €