Fahrersitz statt Sessel, Fußleiste statt Teppich: Es gibt tatsächlich Nomaden in Berlin. Ihre fahrbaren Untersätze machen sie zum mobilen Zuhause, fast wie im oscarprämierten US-Film „Nomadland“. Wer sind diese Leute, die nicht mehr häuslich leben – und inwiefern ist dieser Lebensentwurf frei gewählt? Ein paar Wohnungsbesuche.
Nomaden in Berlin: Von der WG ins Auto
Petros parkt seinen roten Van an einer Straße in Rummelsburg. Motor aus, schnell noch einen Kaffee kochen und schon beginnt die Führung durch sein fahrbares Zuhause. Der zyprische Musiktherapeut und Tontechniker trägt überdimensionale Holzohrringe und bequeme Alltagskleidung. Lange Dreadlocks fallen über die Hälfte seines Oberkörpers. In bester Laune und mit charismatischem Akzent präsentiert Petros sein altes Ivecomobil, in dem er nun schon seit fünf Jahren lebt.
„Ich bin schon immer viel mit dem Auto unterwegs gewesen und habe lange mit der Idee gespielt, einfach nicht mehr damit aufzuhören.“
Nachdem seine Lichtenberger WG in eine Eigentumswohnung umgewandelt wurde, erfüllte er sich seinen großen Wunsch. Nur wenige Meter von seiner ehemaligen Wohnung entfernt optimierte er nach und nach sein neues Domizil: „Ich kannte ja viele schöne Orte und gute Parkmöglichkeiten in der Gegend, also bin ich erst mal da geblieben.“ Trotzdem sei es anfangs schwierig gewesen, sich an die fehlende Distanz zu vorbeifahrenden Autos, bellenden Hunden und lauten Gesprächen zu gewöhnen. „In einer Wohnung kriegt man das alles nicht so mit, mittendrin erschreckt man sich manchmal selbst vor Regen auf dem Dach.“
Meistens übernachtet er in verkehrsberuhigten Straßen in der Stadt. Regelmäßig wechselt er die Stellplätze, zwischendurch fährt er aufs Land, um „etwas Kraft zu tanken.“ Mit Gelegenheitsjobs wird Geld für Reisen oder den weiteren Ausbau seines Vans gespart. Seine Musiktherapie kann er auch online betreiben, was das Leben im Auto deutlich einfacher gestaltet.
Alternative Lebensentwürfe gehören zur Berliner DNA
Was bewegt Menschen, die in Autos, Wohnmobilen und anderen Vehikeln wohnen? Und wie viel freie Wahl steckt in diesem Aussteigerleben?
Alternative Lebensentwürfe gehören seit Jahrzehnten zur Berliner DNA. In der Rummelsburger Bucht war bis 2020 die utopische, schwimmende Wagenburg „Neu-Lummerland“ beheimatet. Hier lebten Kunstschaffende, Aussteiger:innen, Aktivist:innen und ehemalige Obdachlose gemeinsam. Friedlich, selbstbestimmt und frei von Mietenwahn, gesellschaftlichen Zwängen und Leistungsdruck. Auch die linke Bauwagen-Siedlung Köpi 137 in Mitte, die im Oktober zwangsgeräumt wurde, leistete jahrzehntelang Widerstand gegen Verdrängung, Gentrifizierung und Spekulation.
Doch nicht nur in politisch motivierten Kreisen ist die Nachfrage nach ungewöhnlichen Daseinsmodellen in den letzten Jahren gestiegen. Laut einer kürzlich veröffentlichten „Livee“-Studie würden sich 80 Prozent der deutschen Singlehaushalte für alternative Wohnformen interessieren. Rund 13 Prozent könnten sich nach Angaben der Expert:innen vorstellen, in einem Tiny-House zu wohnen. Hauptgründe seien der Wunsch nach Minimalismus, der Traum von einem bezahlbaren Eigenheim und das Ziel, nachhaltiger zu leben.
Die empirische Kulturwissenschaftlerin Lisa Maile definiert das „Tiny House Movement“ als „Ausdruck der Kritik am politischen System und der damit einhergehenden Konsum- und Wachstumsgesellschaft“. Viele Menschen würden auf Grund des Klimawandels „die Notwendigkeit erkennen, sich einer Green Economy zuzuwenden“. Dieser „sich wandelnde kulturelle Habitus“ äußere sich in neuen alternativen Bewegungen, die ihren Fokus auf Nachhaltigkeit richten würden.
Im diesjährigen Oscar-Gewinner „Nomadland“ begleitet die Regisseurin Chloé Zhao moderne Nomad:innen auf ihren Reisen durch die Vereinigten Staaten. Dabei erzählen die Protagonist:innen von Schicksalsschlägen, akuten Geldproblemen und plötzlichen Wohnungskündigungen. Das Auto wird zur letzten Zuflucht und einem Überbleibsel des vorherigen Lebens.
In den USA resultierte die Popularisierung des Nomad:innenlebens vor allem aus der Weltwirtschaftskrise 2008, durch die etliche Bürger:innen ihre Jobs, Altersvorsorgen und Hauskredite verloren. In Deutschland führt häufig der kaputte Wohnungsmarkt zum Umzug ins Auto.
Nomaden in Berlin: Katzenwäsche statt Badewanne
Das Leben auf Rädern verkörpert eine der radikalsten Abwendungen vom gesellschaftlich etablierten Wohnen: Katzenwäsche statt Badewanne, Campingkocher statt Elektroherd.
Die Nomad:innen beschränken sich auf das Nötigste. Oft gibt es nicht einmal Toilette, Dusche und Herd. Trotzdem treffen Menschen bewusst diese Entscheidung. Der Verzicht auf Materialismus äußere sich in einem Freiheitsgefühl, die Unabhängigkeit und Mobilität in einer einzigartigen Flexibilität, sagt Petros. Das wöge die Nachteile auf. „Wenn ein Job an einem anderen Ort angeboten wird, fährt man halt hin. Oder wenn man früh irgendwo sein muss, übernachtet man einfach in der Nähe“, erzählt der nomadische Zyprer.
Der Anteil von männlichen Nomaden scheint zu überwiegen. Möglicherweise resultiert dieses Phänomen aus der Sozialisierung. Ob im Kultfilm „Easy Rider“ oder der bewegenden Geschichte von „Into the Wild“: Kerle hatten früher viele männliche Role Models, die auf der Straße frei werden wollen. Auch die Faszination für Autos ist stark männlich geprägt.
Der regelmäßige Standortwechsel ist notwendig, um eine gesetzliche Grauzone zu nutzen. Eine Grauzone, die sich im Paragrafen 12 der Straßenverkehrsordnung auftut. Der Gesetzpassus besagt, dass zur „Wiederherstellung der körperlichen Fahrtüchtigkeit“ im Auto übernachtet werden darf. Steht das Fahrzeug über einen längeren Zeitraum an der gleichen Stelle, kann es Bußgelder geben. Petros habe allerdings noch nie Probleme mit der Polizei gehabt.
Berliner Nomaden: Rastplätze am Tempelhofer Feld
Nur selten kommt es vor, dass sich Anwohner:innen offensichtlich an Vans und ihren Bewohner:innen stören. „In solchen Momenten fühl’ ich mich schon unwohl und werde teilweise auch direkt angesprochen, aber dann fahr’ ich halt woanders hin“, erzählt Petros. Grund hierfür seien ungerechtfertigte Stereotype. Die Nachbar:innen hätten Angst vor Abfall, Urin, Lärm und dem alternativen Leben an sich, obwohl Petros sich nach eigenen Angaben stets unauffällig verhalte, seinen Müll ordentlich entsorge, meist den ganzen Tag unterwegs sei und sich nur zum Schlafen in seinem Iveco aufhalte.
Christian Berg, Sprecher des Neuköllner Bezirksbürgermeisters, sagt, dass es nur selten Beschwerden von Anwohner:innen gäbe, da sich die Nomad:innen größtenteils vorbildlich benehmen würden.
Ein Spaziergang durch eine der Straßen in Neukölln, in denen die Wagen stehen, hat allerdings auch etwas Beklemmendes. Mit zugeklebten Fenstern, abblätternder Farbe und moosbewachsenen Dächern sehen einige Fahrzeuge so aus, als wären sie seit Jahren nicht bewegt worden. Plötzlich ist das Leben im Auto kein Lifestyletraum mehr, sondern letzte Rettung vor der Obdachlosigkeit.
Die Türen bleiben fest verschlossen, egal wie oft geklopft wird. Viele unfreiwillige Nomad:innen scheinen sich für die prekären Lebensverhältnisse zu schämen oder sich trotz der allgemeinen Toleranz vor einem Platzverweis zu fürchten.
Nomade Ulli ist lieber mobil als einsam
In einem Ford Transit sitzt ein alter, rauchender Mann mit grauem Kurzhaarschnitt und schwarzer Fleecejacke. Der Rentner Ulli arbeitete fast 40 Jahre lang als Fernfahrer. Fotografiert oder aufgenommen werden möchte er nicht. Von Familie und Eigenheim habe Ulli nie viel gehalten, im Alter und ohne Arbeit sei es dann in der Düsseldorfer Sozialwohnung aber doch plötzlich einsam geworden. Letztendlich habe es den Rentner wieder auf die Straße gezogen.
Das Alleinsein sei nicht so schlimm, wenn man wenigsten rumfahren könne. Die Rente reiche gerade so für Benzin, Lebensmittel aus dem Supermarkt und gelegentliches Duschen in öffentlichen Schwimmbädern. In Berlin bleibe er nur wenige Tage, wohin es danach gehen soll, wisse er noch nicht. Mehr erzählen möchte Ulli nicht. Ein flüchtiger Blick durch die beschlagenen Fenster offenbart eine vergilbte Matratze, leere Schnapsflaschen und dutzende Bierdosen.
Toleranz und Solidarität von Anwohner:innen und Bezirk
Christian Berg, der selbst seit sechs Jahren im Schillerkiez wohnt, erzählt, dass sich teilweise eine große Solidarität bemerkbar machen würde, wenn Leute beispielsweise regelmäßig Pfandflaschen und Spenden vor die ramponierteren Fahrzeuge stellen. In seltenen Fällen müssten Nomad:innen allerdings auch weggeschickt werden, wenn Müll und Lärm überhandnähmen. So habe ein Wohnungsloser mehrere Jahre in seinem Kleinwagen immer wieder in der Oderstraße gewohnt und als „klassischer Sammler“ täglich zwei Parkplätze mit Pfandflaschen, Müll und Schrott versperrt. In solchen Fällen müsse das Ordnungsamt dann schon eingeschaltet werden.
Insgesamt bestehe aber kein Interesse daran, Autobewohner:innen zu verscheuchen, solange alles im Rahmen bleibe, sagt Christian Berg. „Wir können als Bezirk und Stadt nicht für Freiheit, Individualität und Vielfältigkeit stehen und gleichzeitig gegen Leute vorgehen, die hier mal im Auto schlafen und über die keine Beschwerden eingehen.“ Nach eigener Wahrnehmung sei die Anzahl an bewohnten Fahrzeugen rund ums Tempelhofer Feld in den letzten Jahren konstant geblieben. Konkrete Zahlen oder Statistiken zum Nomad:innen-Phänomen gebe es jedoch noch nicht.
Trotzdem wäre es denkbar, dass der Wohnungsmangel und die steigenden Mieten gerade in den Großstädten mehr Menschen zum Leben im Auto treiben könnte. Gleichzeitig vermutet Christian Berg, der Experte für lokalpolitische Entwicklungen, dass der Verkehrswandel mit Park- und autofreien Zonen und Fahrradstraßen das Berliner Nomad:innenleben deutlich erschweren werde.
Ein Besuch in einer anderen Straße, die seit Jahrzehnten ein Magnet für Nomad:innen ist. Einige Fahrzeuge sind mit Holz verkleidet, bunt bemalt und wirken wie Prototypen aus „Vanlife“-Blogs. Dazwischen steht ein vollgepackter Kombi mit umgeklappten Sitzbänken, in dem vermutlich niemand freiwillig wohnen möchte.
Nomaden in Berlin: Eine vernetzte Szene
Nur wenige Meter entfernt hat der junge Tischler Bene sein Auto geparkt. Auf einen Pickup-Truck hat er eine ansehnliche Holzhütte gebaut, die über mehrere Schlafplätze, eine Heizung und eine großzügige Küchenzeile verfügt. In aller Ruhe sitzt er im Eingang und schwärmt von Spontanität, Freiheit und Unabhängigkeit. Bene trägt eine weite Yogahose und versprüht mit seiner warmen Stimme viel Ausgeglichenheit.
Seit neun Jahren ist er ständig unterwegs, fährt oft zum Surfen an die Atlantikküste. Im Sommer bleibt Bene meist in Deutschland, wo er Kulissen für alternative Musikfestivals baut. Den Winter verbringt er lieber im warmen Portugal. Da eine feste Wohnung ihn nur davon abhalten würde, könne er sich gerade nichts anderes als ein mobiles Zuhause vorstellen.
Insgesamt gebe es in Berlin seit vielen Jahren eine vernetzte Szene. „Die Busse dahinten stehen hier schon seit 30 Jahren. Es gibt viele spannende Geschichten und eine gute Community. Man teilt, und man hilft sich gegenseitig.“ Auch sein soziales Umfeld habe nach ersten Zweifeln größtenteils positiv auf den radikalen Lebenswechsel reagiert. „Viele fanden es erst ein bisschen verrückt oder können es sich nicht vorstellen, vor allem wenn ich dann irgendwie so in der Stadt stehe, aber inzwischen feiern sie es und besuchen mich dann auch.“
Bene freut sich auf den Winter in Portugal, auf alte Bekannte, das milde Wetter und das Reisen. „Wenn ich unterwegs bin, ist das einfach ein Traum. Du stellst irgendwo am Strand dein Zuhause hin, manche zahlen da Millionen für ein Grundstück, dann sind sie aber daran gebunden. Du kannst einfach weiterfahren.“
Nomaden in Berlin: Die Nachwehen des Sturms
Will man nach dem Leben auf der Straße überhaupt wieder zurück in die Welt der Normalos? Bei dem Berliner Nomaden Mathias hat die Zeit im Wohnwagen Spuren hinterlassen: Nach einer schwerwiegenden Trennung flüchtete sich der KPMG-Mitarbeiter in seinen Ford Nugget, in dem er ein Jahr lang lebte. Dieser Schritt sei notwendig gewesen, um den Verlust des Gewohnten und das schmerzliche Ende der Beziehung zu verarbeiten. Mathias, ein Wirtschaftsanalyst, trägt keine Dreadlocks oder Yogahosen, sondern schicke Anzüge. Er duschte in Fitnessstudios, nutzte öffentliche Toiletten und brachte seine Anzüge in die Wäscherei. Die anderen KPMG-Mitarbeiter:innen bewunderten die Bewahrung eines alternativen Lebensstils trotz seriösen Berufs.
Nachdem der Orkan Xavier im Oktober 2017 einen riesigen Ast auf das Auto eines Freundes fallen ließ, fühlte sich das Schlafen unter dem Wohnmobildach plötzlich nicht mehr sicher an. Die Rückkehr ins normale Leben, genau genommen in eine Charlottenburger Wohnung, stellte eine große Herausforderung dar: „Ich habe ein Dreivierteljahr später immer noch so gut wie keine Möbel gehabt, nur eine Matratze auf dem Boden, weil ich so an diesen Minimalismus gewöhnt war.“
Zwischendurch übernachtete Mathias weiterhin in seinem Auto, teilweise aus Nostalgie, häufiger auch aus praktischen Gründen: „Wenn irgendwelche Partys in Friedrichshain waren, konnte ich halt im Bus pennen. Das war natürlich geil.“ Die Wohnung sollte keine dauerhafte Lösung sein, zu groß war die Sehnsucht nach der Freiheit, Flexibilität und Unabhängigkeit, die das Leben im Auto verspricht. Die stressige Arbeit und das Nomadensein ließen sich allerdings nicht mehr vereinen: „Wasser besorgen, Abwasser wegbringen, zum Waschsalon gehen… Das ist irgendwann einfach zu viel.“
Obwohl er sich inzwischen wieder an die Sesshaftigkeit gewöhnt hat, bleiben wehmütige Gedanken an die besondere Zeit. „Damals hat sich das alles noch so frei angefühlt. Jetzt bin ich ja doch ein paar Jahre älter geworden, Kind, Frau, voll das deutsche Durchschnittsleben. Da war ich noch voll in der Aufbruchsstimmung, immer der Sonne nach. Aber das machen andere und die machen ihre Blogs darüber. Das gucke ich auch gerne, aber irgendwie war’s dann einfach durch bei mir.“
Nomaden in Berlin: Bene am Strand, Ulli auf der Straße
Petros und Bene haben noch lange nicht vor, das Nomadenleben aufzugeben. „Ich mache das jetzt schon seit fünf Jahren und habe mich dazu entschieden, so zu leben“, erzählt Petros. „Wenn ich ab und zu in einer Wohnung schlafe, weil es mal nicht geht im Auto, dreh’ ich aber auch nicht durch. Jetzt kriege ich erstmal eine Heizung und dann bin ich ready für den Winter.“
Bei Bene sieht es ähnlich aus: „Vielleicht mache ich das nicht für immer und ziehe irgendwann wieder in eine Wohnung. Aber jetzt kann ich mir das noch nicht vorstellen. Erstmal die Freiheit genießen, herumreisen und dann mal sehen“, sagt er.
Dann steigt er in sein mobiles Haus und fährt die Straße hinunter. Alles wackelt und klirrt, für einen kurzen Moment möchte man einfach einsteigen und mitfahren, egal wohin. Dann denkt man plötzlich wieder an Ulli, der einsam in seinem Transporter sitzt und Kette raucht. Riesig ist der Kontrast zwischen selbstbestimmten Aussteiger:innen, die ihren Traum leben und die Welt bereisen, und obdachlosen Menschen am Straßenrand, denen nichts bleibt als ihr Auto. Es schwirren einem Bilder durch den Kopf: Bene an einem atemberaubenden Strand in Portugal und Ulli, der stecken geblieben ist in einem Leben zwischen Armaturenbrett, Bierdose und Bordsteinkante.
Noch gibt es viele alternative Lebensmodelle in Berlin. Doch dass sich die Stadt grundliegend verändert, scheint unaufhaltsam. Diese 12 Bauprojekte liefern einen Vorgeschmack auf die Zukunft Berlins. Viele berühmte Gebäude der Stadt existieren schon lange nicht mehr. Immer aktuelle Meldungen und Meinungen findet ihr in unserer Stadtleben-Rubrik. Mehr zu den Berliner Clubs erfahrt ihr hier.