Ein Moloch an Verschwörungstheorien und wöchentliche Demonstrationen in Berlin, bei denen einiges zusammenkommt: Hippies, Impfgegner*innen, besorgte Bürger*innen und Linke mit Revolutionsromantik machen gemeinsame Sache mit Rechten aller Härtegrade. Diese Querfront ist eine der üblen Begleiterscheinungen der Maßnahmen, die zur Einschränkung der Ausbreitung der Coronavirus-Pandemie getroffen wurden. Seit Ende März wird vor der Volksbühne, mittlerweile auch am Alex, wöchentlich demonstriert. Es fing an als Pro-Grundgesetz-Aktivismus und ist rasend schnell in den Bereich der Verschwörungsideologie gekippt – und da mischen in dieser Stadt einige mit.
Die krude Sammlung von Theorien beginnt mit dem Glauben an die Merkel-Diktatur und dem Unglauben an die Coronavirus-Pandemie oder deren Gefahren. Schlimm genug, aber es geht weiter: Die Pandemie werde durch 5G-Masten befeuert oder sei gleich von langer Hand geplant, um alle Menschen unter Zwang zu impfen. Die Schuldigen seien Bill Gates, die Banken und die Pharma-Industrie – falls es sich nicht ohnehin um ein Manöver handeln würde, das von satanischen Ritualen und Kindermorden ablenken solle. Denn die Mächtigen in den USA bräuchten junges Blut, um nicht zu altern.
Wer macht mit, wer dreht durch, was ist los? Diese Berliner*innen beweisen, dass der Weg zur Hölle mit Alufolie gepflastert ist.
Anselm Lenz schrieb schon für Verschwörungstheorie-Seiten
Anselm Lenz ist einer der Mitbegründer der sogenannten „Hygienedemos“. Der Journalist ist nun freiberuflicher Widerstandskämpfer: gegen den Staat, die „Ermächtigungsgesetze“ der Regierung, aber für Grundgesetz und Solidarität. Daneben schreibt er ellenlange Artikel für das neurechte Online-Verschwörungsmedium „Rubikon“. 2019 ging es noch um die gute, alte Volksbühne. Mittlerweile sind es jedoch Überlegungen zu Diktatur, Kapitalismus und dem kommenden Wirtschaftssystem, garniert mit medizinischen Überlegungen. Das Coronavirus sei, das ist meist der Tenor, nicht schlimmer als eine Grippe. Ähnliches steht auch in der Zeitung, die er in riesigen Auflagen drucken lässt und bei den Demos verteilt.
Bei der „Hygienedemo“ am 1. Mai wurde Lenz aus einem stehenden Taxi heraus verhaftet. Videos davon kursieren im Internet, ebenso wie ein Interview mit Lenz’ Anwalt auf der Fahrt zum Landeskriminalamt. Der Titel? „Die schreckliche Einsamkeit der Einsamen“. Filmreif.
Hendrik Sodenkamp befällt langsam Unbehagen
Die Geister, die Lenz rief, sind mittlerweile ein veritabler Querschnitt durch die rechte und verschwörungsideologische Szene. Er hat dabei noch einen Mitstreiter, nämlich den von Anti-Chris-Dercon-Protesten bekannten Dramaturgen Hendrik Sodenkamp.
Der freute sich zwar darüber, dass bei den ersten „Hygienedemos“ die „tollsten Leute Berlins“ zueinander gefunden hätten. Am 9. Mai hingegen ging er auf Distanz zu den Nazis, von denen gerade anfangs die Abgrenzung schwerfiel. Der ehrenwerte, aber deutlich verspätete Versuch ging im Tumult unter, wie der Youtube-Clip vom „Hauptstadtstudio“, dem Kanal von Sodenkamp und Lenz, zeigt. Neben „Spalter!“ scheint neuerdings einer der beliebtesten Sprechchöre „Stasi raus!“ zu sein.
Verschwörungs-Journalist Martin Lejeune begleitet die Berliner Demos
Lenz nennt ihn einen investigativen Journalisten, aber Lejeune ist bisher vor allem durch sein Demonstrationsverhalten aufgefallen. Seine Solidarität schüttet er über fragwürdigen politischen Gruppierungen aus. War Lejeune die längste Zeit Hamas-Sympathisant, hatte er 2018 Erdogan zum Despoten der Stunde auserkoren.
Danach wurde es still um ihn, bis er bei den „Hygienedemos“ auftauchte. Die begleitet er auf seine Weise journalistisch und gefällt sich in der Rolle des widerständigen Underdogs. Auf seiner Webseite fordert er, dass Anselm Lenz dafür, dass er die Menschen zusammenbringt, eine 1000-Euro-Prämie erhielte. Dieser sei – kein Witz – der echte „Corona-Held“.
Attila Hildmann kocht am Limit
Attila Hildmann ist sehr gut darin, unangenehm aufzufallen. Der vegane Koch (und peinlichste Berliner des Jahres 2017) sieht überall Feinde, und Besonnenheit ist nicht seine Stärke. Auf eine missliebige Gastrokritik des „Tagesspiegel“ reagierte Hildmann dereinst mit einem Schrotflinten-Selfie. Ist das der Gipfel des Irrsinns? Natürlich nicht. Hinter den Corona-Maßnahmen wittert der Berliner ein ganzes Dickicht an Verschwörungen.
Mittlerweile telefoniert er auch mit Xavier Naidoo, um sich in seinen Überzeugungen bestärken zu lassen. Am 6. Mai rief er zu einer Demonstration vor dem Reichstagsgebäude auf, wo die üblichen Verdächtigen von der Polizei geräumt wurden. Diese Maßnahme entging Hildmann allerdings: Er war schon wieder in seinen Porsche gestiegen und davongefahren. So war er auch nicht live dabei, als am Rande dieser Demonstration ein ARD-Kamerateam angegriffen wurde.
Hildmann hat sich nach eigenen Aussagen in den Untergrund zurückgezogen, wo er den bewaffneten Kampf führen möchte, und ruft mittlerweile regelmäßig zu Demos am Reichstagsgebäude auf. Bill Gates und satanische Rituale mit Kindern, 5G, die neue Weltordnung und das „Reich des Lichts“ – das sind die Themen, die der Berliner Verschwörungstheoretiker in seinem Telegram-Channel (mehr als 25.000 Abonnent*innen) ungefiltert durchlaufen lässt. „Ich bin hier bald der neue Staatschef“ ist da noch die harmloseste Ansage.
Verschwörungstheorien verbreitet in Berlin auch Angelika Barbe
Sie hat 1996 das Parteibuch gewechselt und trat von der SPD zur CDU über. Auch mit dieser Partei verbindet die ehemalige DDR-Bürgerrechtlerin nicht mehr viel, ist Angelika Barbe doch mittlerweile im Kuratorium der AfD-nahen Desiderius-Erasmus-Stiftung und erklärte schon bei „RT Deutsch“, dass Merkel wie eine Mafia-Patin agiere. Uff. Und bei der „Hygienedemo?“ Da setzte sie noch eins drauf und gab dem extrem rechten Magazin „Compact“ ein Interview. „Tagesspiegel-„Redakteur Matthias Meisner dokumentierte das.
So behauptet Barbe „als Biologin“, dass die Fakten zum Virus nicht stimmen. Das Virus gebe es zwar, doch tödlich sei es nicht: „Das ist die Lüge!“ Fast im selben Atemzug setzt sie die aktuellen Maßnahmen mit der Verfolgung der DDR-Opposition gleich. Eine Biologin ohne biologisches Wissen und eine Bürgerrechtlerin ohne Sinn für Geschichte.
Der Berliner Heiko Schrang hat Bücher zu jeder Verschwörungstheorie
In seinem eigenen „Macht-durch-Wissen“-Verlag publiziert Heiko Schrang Bücher, die auffällig oft „Lügen“ und Superlative im Titel haben. Sein Erstlingswerk, „Die Jahrhundertlüge“, ist ein wirrer Marathon, der von einer Verschwörungstheorie zur nächsten führt: Illuminati, Bilderberger, Kennedy-Mord, die neue Weltordnung. In seinen Youtube-Videos geht es um den UN-Migrationspakt genauso wie um Spiritualität. In diese Ursuppe des Irrsinns gehört natürlich alles, was an Corona-Verschwörungstheorien derzeit zu haben ist. Entsprechend ist Schrang auf den Berliner „Hygienedemos“ ein gern gesehener Gast – und gut vernetzt:
Ken Jebsen erreicht ein Millionenpublikum
Ein wahrer Selfmade-Man und ein Phänomen für sich: Der Berliner hat es geschafft, um Verschwörungstheorien herum ein kleines Medienimperium aufzubauen. In Ken Jebsens politischen Analysen sind die USA stets der Teufel. Die große Frage „Cui bono?“ – wem nützt es – leitet ihn zu hinreißend simplen Antworten auf komplexe Fragen. Und seine spezifisch formulierte Kritik am Bankensystem legt immer wieder nahe, dass diejenigen Schuld seien, denen man schon im Mittelalter vorwarf, die Brunnen zu vergiften. Ken Jebsen ist einer der auffälligsten Begleiter der „Hygienedemos“, quasi der offizielle Medienpartner der Querfront.
Am zweiten Mai-Wochenende war Jebsen wie viele andere Berliner Aluhüte nach Stuttgart gereist. Dort hielt er eine Rede, in der er Bill Gates für die Covid-19-Pandemie verantwortlich machte.
Sido ist auf Abstand gegangen
Von den Demos hält der Berliner Rapper sich fern, immerhin. Dafür hat es sich der ehemalige Maskenträger neulich auf dem Sessel des Neuköllner Rappers Ali Bumaye bequem gemacht und tief blicken lassen. Er äußerte Verständnis für Xavier Naidoo, der ja in den letzten Jahren vor allem als musikalischer Stoßtrupp der Reichsbürgerbewegung in Erscheinung tritt. Von da aus geht’s zu den Rothschilds und zum Lob für „alternative Medien“, schließlich seien die anderen ja unterwandert.
Im ganzen Interview lässt Sido noch durchblicken, dass er der „QAnon“-Verschwörungstheorie durchaus etwas abgewinnen kann. „QAnon“ nennt man den angeblichen Informanten in der US-Regierung, der Haarsträubendes vermeldet: Die USA seien vom „tiefen Staat“ unterwandert, und die „liberalen Eliten“ würden systematisch Kinder entführen – um aus ihrem Blut ein Supermittel zu gewinnen, das den Alterungsprozess aufhält. Sido schaut übrigens, so sagt er bei Bumaye, keine Nachrichten mehr. Der Auftritt sorgte für so viel Wirbel, dass Sido sich danach erklärt hat: „Es kann sein, dass ich mich ab und zu vielleicht ein bisschen differenzierter ausdrücken muss, damit auch alle immer alles richtig verstehen“, sagte er auf Instagram. In einem Interview mit hiphop.de distanziert er sich noch deutlicher: „Ich möchte nur nicht in einer Ecke stehen mit den Attila Hildmanns und KenFMs dieses Landes. Ich habe mit sowas nichts zu tun.“
Gewisse rechte Parteien dürfen ohnehin nicht fehlen
Anselm Lenz’ „Kommunikationsstelle demokratischer Widerstand“ wünscht sich zwar „engagierte Kolleg*innen ohne Parteibindung“. Diese Bitte hat jedoch ihre abschreckende Wirkung verfehlt: NPD-Vertreter wie der Bezirkspolitiker Jan Sturm und das wegen Volksverhetzung vorbestrafte Ex-MdEP Udo Voigt waren schon dabei. Mittlerweile sind die Proteste in zahlreichen deuschen Städten angekommen, und der organisierte Neonazismus wittert Morgenluft.
Auch die AfD war schon dabei, vertreten durch zahlreiche Parteimitglieder, unter ihnen Lars Günther. Der hat schon bei den extrem rechten und verschwörungsideologischen „Montagsmahnwachen“ mitgemacht. Ohnehin scheint es so, als sähen deren Protagonist*innen die „Hygienedemos“ als logische Fortsetzung ihrer Demos vor dem Brandenburger Tor.
Günther selbst verteilt mittlerweile Ausgaben des Magazins „Compact“. Wenn er nicht gerade das Infektionsschutzgesetz ignoriert, macht er im Nachbarland Politik: Seit 2019 ist er Landtagsabgeordneter in Brandenburg.
Der „Volkslehrer“ Nikolai Nerling steht ganz rechts
Volksverhetzung ist auch bei ihm ein Dauerbrenner: Nikolai Nerling ist mit seinem Youtube-Channel als „Volkslehrer“ derart unangenehm aufgefallen, dass er 2018 fristlos aus dem Schuldienst entlassen wurde. Er leugnet den Holocaust, wofür er bereits verurteilt worden ist, und fühlt sich unter Reichsbürger*innen oder in Gesellschaft der Nazi-Aktivistin Ursula Haverbeck ausgesprochen wohl.
Seinen Kampf gegen die „zionistisch-jüdische Weltverschwörung“ kann er im Fahrwasser der „Hygienedemos“ um eine weitere Facette ergänzen: Er ist überzeugt, das Coronavirus diene nur dazu, die Bevölkerung zu kontrollieren – falls es überhaupt existiere. Die „Kommunikationsstelle demokratischer Widerstand“ sieht er durchaus kritisch: Da seien Bolschewisten am Werk, ist sein Fazit. Nerling lobt lieber den Faschismus und geht mit seinen Ansichten auch auf Tour – zum Beispiel nach Stuttgart, wo die diffusen Corona-Proteste Berlin mittlerweile den Rang ablaufen.
Martin Müller-Mertens bringt für „Compact“ Verschwörungs-News
Er ist Chefredakteur der Online-Zeitung „Berliner Umschau“, aber viel wichtiger als seine Kiez-News ist seine Karriere bei „Compact“: Dort arbeitet er als Chef vom Dienst und leitet „Compact TV“. Wer auf der „Hygienedemo“ Interviews geben möchte, findet also Martin Müller-Mertens Mikrofon als erstes. Und was ist bei dem Magazin aktuell los? Auf der Startseite finden sich Beiträge gegen „Corona-Diktatur“ und „Impfpflicht“ sowie ein Ausblick auf die aktuelle Sonderausgabe. Eins der Themen: „Naidoo. Sein Leben, seine Lieder, seine Wut“.
Mehr zu Verschwörungstheorien und Berliner „Hygienedemos“
Ein ehemaliger Theaterintendant hat ein unangenehmes Interview gegeben, das Alexander Karschnia in seinem Gastkommentar in Zusammenhang mit den Demos sieht. Wir berichteten auch schon darüber, dass sich vor dem Rosa-Luxemburg-Platz die Querfront zusammenfindet. Dagegen formiert sich Widerstand: Berliner*innen protestieren gegen Rechte und Verschwörungstheorien.
Die Amadeu-Antonio-Stiftung veranstaltet am Freitag, 15.5., einen digitalen Aktionstag gegen Verschwörungsmythen und Antisemitismus, denn die beiden Themen sind so gut wie nie voneinander zu trennen. Die Veranstaltungen sind Auftakt zu einer ganzen Reihe von Auseinandersetzungen mit der Corona-Krise.