Es gibt Wichtigeres als das Feierabendbier – und das stellte die Stadt 1894 mit dem Berliner Bierboykott unter Beweis. Zahlreiche Zapfhähne blieben trocken, um unter anderem eine wesentliche Forderung durchzusetzen: die Anerkennung des Tags der Arbeit als Feiertag. Der stadtweite Boykott, der zunächst als Streik begann, zählt zu den größten und längsten Arbeitskämpfen der Berliner Geschichte. Acht lange Monate verzichteten die Berliner Arbeiter darauf, bestimmte Biermarken zu trinken. Ein nüchterner Rückblick auf ein spannendes Kapitel der Geschichte von Arbeitskämpfen in Deutschland.
Berlin: Bierhauptstadt des Deutschen Reichs
Wer im Spätsommer 1894 in Berlin seinen Durst in einer Kneipe oder einem Biergärten stillen wollte, tat gut daran, sich für die richtige Biermarke zu entscheiden. Wer unbedacht ein Schultheiss oder Bötzow-Bier bestellte, geriet schnell in Gefahr, es sich mit den anderen Besuchern zu verscherzen und von den anwesenden Arbeitern aufgemischt zu werden. Aber wie war es dazu gekommen?
___STEADY_PAYWALL___
Um 1900 galt Berlin als die Biermetropole des Deutschen Reichs. Mehr als 70 Brauereien produzierten in der Stadt an der Spree. Besonders konzentrierten sich die Berliner Brauereibetriebe im Nordosten, in den heutigen Stadtteilen Wedding, Prenzlauer Berg und Friedrichshain. Bis heute prägen Brauereien in Berlin ganze Viertel, auch wenn viele nicht mehr in Betrieb sind. Unter der Führung von Richard Roesicke, Reichstagsabgeordneter sowie Generaldirektor und Hauptaktionär der Schultheiss-Brauerei, hatten sich die 33 größten Brauereien Berlins zum sogenannten „Ring“ zusammengeschlossen. Schultheiss galt zu der Zeit als größtes und modernstes Brauereiunternehmen der Stadt. Das damalige Hauptgelände an der Schönhauser Allee, die Abteilung I, ist heute besser als Kulturbrauerei bekannt.
Die Kartellbildung der Brauereien erlaubte ihnen Preisabsprachen und Lohnsenkungen. Zu den Absprachen gehörte auch, politische Agitatoren zu entlassen und sie auf schwarze Listen zu setzen, die die Anstellung bei anderen Brauereien verhinderten.
Beginn des Berliner Bierboykotts: Tag der Arbeit soll Feiertag werden
Der Konflikt begann, als am 1. Mai 1894 300 Böttcher, die für die Herstellung der Transportfässer verantwortlich waren, nicht zur Arbeit erschienen, um den Tag der Arbeit feierlich zu begehen – eine kalkulierte Aktion der Berliner Böttcher. Die Arbeitsniederlegung war der Versuch, durch den Druck der Straße zu erzwingen, was seit 1889 auf der Agenda der Zweiten Internationalen stand: die Einführung des 1. Mai als gesetzlicher Feiertag. Den 1. Mai in Berlin und seine bewegte Geschichte haben wir für euch fotografisch aufgearbeitet.
Am folgenden Tag standen die Böttcher der Berliner Ring-Brauereien vor verschlossenen Türen. Ihre Arbeitgeber hatten sie von der Arbeit freigestellt. Die empörten Böttcher antworteten am 3. Mai mit der Ausrufung eines Generalstreiks. Ihre Forderungen: die Einführung des Neunstundentags, die Anerkennung gewerkschaftlicher Interessenvertretung, das Ende willkürlicher Entlassungen, also die Abschaffung der schwarzen Listen – und der 1. Mai als Feiertag. Aus Solidarität schlossen sich die Brauereihilfsarbeiter den Streikenden am 10. Mai an.
Gewerkschaften und SPD rufen zum Berliner Bierboykott auf
Die Brauereien zeigten sich allerdings nicht verhandlungsbereit. Sie entließen weitere 450 Arbeiter. Bis zu diesem Zeitpunkt waren Gewerkschaftskommission und die SPD eher zurückhaltend. Sie hatten bereits zu Beginn des Streiks Verhandlungen mit den Brauereien aufgenommen, die Entlassung der Arbeiter stellte jedoch einen Affront dar, den sie nicht unbeantwortet lassen konnten.
Am 16. Mai verkündete der „Vorwärts“, das zentrale publizistische Organ der SPD, die Reaktion der Sozialdemokratie: der vollständige Boykott der sieben wichtigsten Ring-Brauereien Schultheiss’ Brauerei Aktiengesellschaft (und Tivoli), Brauerei Happoldt, Böhmisches Brauhaus, Brauerei Karl Gregory, Vereinsbrauerei Rixdorf, Spandauerberg-Brauerei und Aktiengesellschaft Schlossbrauerei Schöneberg. Mit einbezogen waren auch Kneipen, Lokale und Biergärten, die Erzeugnisse dieser Brauereien verkauften. Der Forderungskatalog der SPD umfasste die Wiedereinstellung der Arbeiter, die Anerkennung und Beteiligung der Gewerkschaften an Entlassungen und Einstellungen, Lohnentschädigung und die Einführung des Maifeiertags.
„Nur boykottfreies Bier“
Als Ende Juni die Verhandlungen zwischen Arbeiterschaft und den Bierbrauereien ergebnislos blieben, weiteten die Gewerkschaften den Berliner Bierboykott auf alle Brauereien, die zum Ring gehörten, aus. Nun waren auch Unternehmen wie die Bötzow-Brauerei betroffen. Zunächst war die Unterstützung für den Berliner Bierboykott groß. Dank der Reichweite von Flugblättern und sozialdemokratischen Zeitungen gelang es tatsächlich, den Konsumboykott das Jahr über aufrechtzuerhalten. Tausende Berliner Kneipen wiesen durch Schilder mit der Aufschrift „Nur boykottfreies Bier“ darauf hin, dass sie den Boykott unterstützten und bestimmte Marken nicht mehr ausschenkten. Hohe Umsatzeinbußen für die Brauereibetriebe waren die Folge.
Die Brauereien aber blieben ihrerseits nicht untätig. Sie übten Druck auf die Gastwirte aus, ihre Säle den Arbeiterorganisationen nicht mehr zur Verfügung zu stellen. Mithilfe der Presse versuchten die Unternehmen, die öffentliche Meinung zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Als Ende Juni 1894 der französische Präsident durch einen anarchistischen Anschlag getötet wurde, nahm in der Bevölkerung der Rückhalt für linke Arbeitskämpfe spürbar ab. Mittlerweile waren auch die Gewerkschaftskassen leer, mit denen die fast 800 entlassenen Brauereiarbeiter unterstützt wurden.
Ein Kompromiss beendet den Berliner Bierboykott
Kurz vor Jahresende, am 29. Dezember 1894, rief die SPD-Parteizeitung „Vorwärts“ das offizielle Ende des Berliner Bierboykotts aus. Der Ausgleich gelang, weil die Brauereien schließlich einer aus Gewerkschaften und Arbeitgebern besetzte Arbeitsvermittlung zustimmten. Die Gewerkschaften waren damit als Arbeitervertretung anerkannt. Obwohl es zu vereinzelten Protesten gegen diesen Kompromiss kam, der weit hinter den ursprünglichen Forderungen der Brauereiarbeiter zurückblieb, wurde er mit großer Mehrheit angenommen.
Aus Sicht der Arbeiterbewegung ist der Berliner Bierboykott keine lupenreine Erfolgsgeschichte. Einerseits gelang es, die Gewerkschaften als Interessenvertretung zu etablieren. Ein zu gleichen Teilen aus Gewerkschaften und Arbeitgebern besetzter Arbeitsnachweis war ein großer Erfolg. Andererseits blieben Lohnerhöhungen, Arbeitszeitverkürzungen und die Einführung des 1. Maifeiertags aus. Neben den Gewerkschaften ging die SPD als klarer Sieger aus diesem Streit hervor. Mit der Unterzeichnung des Abkommens durch ihren Vorsitzenden Paul Singer war die Partei zum politischen Verhandlungspartner aufgestiegen.
Obwohl Boykotte zur damaligen Zeit ein beliebtes Mittel des Klassenkampfs waren, stellt der Berliner Bierboykott als Produzenten- und Konsumentenstreik in dieser Größe eine historische Besonderheit dar. Tausende Arbeiter aus allen Gewerben beteiligten sich am Boykott, Solidaritätsstreiks waren an der Tagesordnung. Vergleichbare Boykotte hat es in der Deutschen Arbeiterbewegung danach nicht mehr gegeben. Ausgerechnet die NSDAP, die sich vor allem auf die Wirtschaftsinteressen des Mittelstands und der oberen Schicht stützte, machte den 1. Mai 1933 zum Feiertag, um sich den Rückhalt der Arbeiterschaft zu versichern. Die Umdeutung des internationalen Tags des solidarischen Arbeitskampfs zum völkischen Feiertag ist einer dieser grausamen Treppenwitze, an denen es der deutschen Geschichte nicht mangelt.
Was am 1. Mai in Berlin los ist, lest ihr hier. Der Bierboykott ist Geschichte, aber rund um den 1. Mai wird natürlich in Berlin nach wie vor demonstriert. Unverwüstlich: Berliner Traditionskneipen, die seit mehr als 100 Jahren ausschenken. Von Kaiserzeit bis Mauerfall: Eine Zeitreise durchs versoffene Berlin. Trinken an der frischen Luft: Wir stellen euch die Biergärten in Berlin vor. Mehr Historisches? Um den 8. Mai 1945, Tag der Kapitulation Nazi-Deutschlands, zu würdigen, haben wir Fotos vom Kriegsende – und von den Orten in der Gegenwart. Kuriose Geschichte: Im alten Preußen gab es den verrückten Beruf des Kaffeeschnüfflers. Euren Wissensdurst könnt ihr mit unserer Rubrik Geschichte stillen.