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Vernachlässigt der neue Senat Natur- und Artenschutz?

Mitte Januar 2022 hat der neue Berliner Senat sein 100-Tage-Sofortprogramm beschlossen, das 40 politische Vorhaben bis Ende März beinhaltet. Maßnahmen zum Klimaschutz sind geplant. Doch der Natur- und Artenschutz spielt bei der Klimafrage offenbar keine Rolle.

Artenschutz Kormoran im Treptower Park: Der Einfluss einer gesunden Stadtnatur auf die Klimakrise bleibt in Berlin abstrakt.
Kormoran im Treptower Park: Der Einfluss einer gesunden Stadtnatur auf die Klimakrise bleibt in Berlin abstrakt. Foto: Imago/Snapshot

Klimapolitik ohne Artenschutz – kann das gutgehen?

Seit dem 21. Dezember 2021 ist die neue Berliner Regierung im Amt. Und im Rahmen des 100-Tage-Sofortprogramms wurden 40 Vorhaben formuliert, die die Politik bis Ende März 2022 angehen will. Darunter fallen unter anderem Projekte im Wohnungsbau und im Bereich der Sozialpolitik – so sollen 20.000 neue Wohnungen gebaut und Berliner Lehrer:innen wieder verbeamtet werden. Die rot-grün-rote Koalition fasst damit wichtige Problemfelder an, in Sachen Klima-, Natur- und Artenschutz erscheinen ihre Pläne jedoch zu kurz gedacht.

Genau genommen kommen die Themen Arten- und Naturschutz im Programm gar nicht vor. Dem Klimaschutz wird zwar eine wichtige Rolle zugedacht, von der Pflege und dem Erhalt der Stadtnatur ist in diesem Zusammenhang jedoch keine Rede. Bis 2045 möchte Berlin eine klimaneutrale Stadt sein. Wie das zu schaffen sein soll, wenn die Wechselwirkung zwischen Klima- und Artenkrise nicht gesehen wird, bleibt abzuwarten. Und dass der Naturschutz bei der sogenannten „Klima-Governance“ des Senats keine Rolle spielt, ist angesichts der zunehmenden Verdrängung der Berliner Stadtnatur unverständlich.

Berlin ist eine grüne Stadt, voller Grünflächen und Parks und Wälder, die von den hiesigen Bewohner:innen für ihren hohen Erholungswert geschätzt werden. Grüne Wiesen und Seen sind nicht nur im Sommer schön. Sie machen die Hauptstadt rund ums Jahr zu einem Ort, an dem viele Menschen gerne leben wollen. Es ist etwas Besonderes, wenn man in einer Großstadt wie Berlin wilde Tiere beobachten kann. Doch die Stadtnatur leidet aus diversen Gründen, das Artensterben ist auch in Berlin in vollem Gange. Klimapolitische Maßnahmen wie neue Radwege und Busspuren helfen indirekt auch den Tieren, ja, doch wenn Berlin den Erhalt natürlicher Lebensräume nicht zur Priorität macht, ist der Klimaplan des Senats nichts als heiße Luft.

Corona nur eine kurze Atempause für die Stadtnatur

Zuletzt ging es in Berlin 2020 um die Stadtnatur. Die „Charta für das Berliner Stadtgrün“, hochfliegend untertitelt mit „Eine Selbstverpflichtung des Landes Berlin“, wurde erstellt, um die Wichtigkeit von Berliner Grünflächen als Orte der Erholung, aber auch als Grundlage zum Erhalt der Biodiversität in der Stadt hervorzuheben. Das 24-seitige Papier war bereits verabschiedet worden, scheiterte final jedoch an einem Veto der SPD. Dann kam die Coronakrise, die für die Natur in der Stadt ironischerweise eine Atempause bedeutete.

Doch der langfristige Trend war nicht umzukehren: Der Naturschutzbund Berlin (NABU) listet bedrohte Tier- und Pflanzenarten regelmäßig auf. Derzeit wird geschätzt, dass rund die Hälfte aller Tier- und Pflanzenarten in Berlin in ihrem Bestand gefährdet ist. Viele dieser Arten stehen auch deutschlandweit auf roten Listen. Und es ist sogar möglich, dass die Zahlen noch weitaus höher sind, als angenommen. Denn wie fast überall fehlen auch dem Naturschutz in Berlin finanzielle und personelle Mittel. Es gibt schlicht keine Expert:innen, die erfassen könnten, wie sehr die Artenkrise die Berliner Stadtnatur und somit auch das Klima tatsächlich belastet. Das Geld wird an anderen Stellen investiert, was den Schluss zulässt, dass Flora und Fauna der Politik entweder nicht wichtig genug sind, oder ihr Einfluss gravierend unterschätzt wird.

Natur- und Artenschutz bleiben „abstrakt“

Alle reden von der Klimakrise, auch in Berlin. Doch die Berliner Politik denkt Klima- und Artenkrise nicht zusammen. So sinnvoll und klimafreundlich geplante Projekte wie neue Radwege erscheinen mögen, so wenig bringen sie der Stadtnatur. Im Gegenteil: Asphaltierte Radwege machen aus wertvollen Grünflächen lebensfeindliche Gebiete für Tiere und Pflanzen. Im Sinne der Biodiversität wäre es weitaus sinnvoller, neue Radwege von bestehenden Autofahrstreifen abzutrennen. Und für geplanten Wohnraum, der in Berlin so dringend gebraucht wird, sollten keine gesunden Ökosysteme geopfert werden, wenn die Stadtnatur gemeinsam mit Berlin wachsen soll.

Der Naturschutzbund Berlin (Nabu) setzt sich für den Schutz von Tieren und Pflanzen in der Stadt ein. Man sei nicht gegen den Wohnungsbau, wie gerne behauptet werde, betont Melanie von Orlow, Geschäftsführerin des Nabu Berlin. Aber Grünflächen sollten im Sinne des Naturschutzes erhalten werden. Derzeit wirke es, als spiele der Artenschutz in Berlin „keine Rolle“. Dass die Berliner Politik so wenig Rücksicht auf die Natur nehme, liege auch daran, dass viele Menschen über die Biodiversitätskrise unzureichend aufgeklärt seien. Wie wichtig zum Beispiel naturbelassene Gärten und Wälder, gesunde Kleingewässer und begrünte Fassaden für die Stadtnatur und letztendlich auch für das Klima seien, bleibe „abstrakt“.

Der Verband wünscht sich, dass die neue Koalition die Charta Stadtgrün diesmal in Angriff nimmt. Auch wenn der Inhalt des Papiers laut von Orlow bei den Naturschützer:innen teilweise sogar für „Bauchschmerzen“ sorgt: „Im Sinne des Naturschutzes sollen die Anforderungen an Berliner Grünflächen mit der Charta Stadtgrün zwar erhöht werden. Doch partiell ist hier schon fast wieder zu viel Pflege vorgesehen. Zudem müssen Grünflächen von Jahr zu Jahr, je nach Witterung, anders behandelt werden“, so von Orlow. Um die richtige Pflege sicherzustellen, brauche man ausgebildete Fachleute und Geld. Beides Dinge, die das Land Berlin für den Naturschutz derzeit nicht bereitstellen kann oder will.

Amphibiensterben ist Indikator für Ernst der Lage

Artenschutz: Alarmierende Zahlen: Der Bestand von Erdkröten in Berlin ist in 25 Jahren um rund 90 Prozent gesunken.
Alarmierende Zahlen: Der Bestand von Erdkröten in Berlin ist in 25 Jahren um rund 90 Prozent gesunken. Foto: Imago/Contini

Dass der Artenschutz nicht abstrakt bleiben darf, zeigen die stark dezimierten Amphibienbestände in Berlin. Keine andere Tiergruppe hat bei uns und in ganz Deutschland einen derart schlechten Stand. Nicht nur ist es dauerhaft zu warm und zu trocken für Frösche, Kröten und Molche, die Tiere finden auch kaum noch ungestörte Lebensräume. Am Krötenzaun in Mahlsdorf werden vom Nabu seit rund 25 Jahren die Erdkröten-Bestände kontrolliert. Anwohner:innen tragen die Tiere hier vom Zaun über die stark befahrene Kohlisstraße, damit sie am Teich auf der anderen Seite laichen können. Ende Februar 2022 wurde festgestellt, dass der Bestand der Kröten um rund 90 Prozent zurückgegangen ist. Im gleichen Atemzug soll eine seltene Kreuzkrötenpopulation am Pankower Tor, die laut Nabu als deutschlandweite Sensation gelten kann, für den geplanten Bau eines Möbelmarkts „entfernt werden“. Ob die sensiblen Tiere diese Zwangsräumung überstehen, ist zweifelhaft.

Die schlimme Situation der Amphibien zeigt, dass die Wichtigkeit des Naturschutzes noch immer unterschätzt wird, obwohl das Thema mehr als drängt. Berliner:innen sollten sich in Erinnerung rufen, was man auch ohne eigenen Garten für den Erhalt der Stadtnatur tun könne, meint Melanie von Orlow vom Nabu Berlin. Das Sammeln von Müll, das Schaffen von „grünen Strukturen“, wie Fassadenbegrünungen, oder auch das Verteidigen von Sträuchern und Bäumen vor schnittwütigen Grünpfleger:innen könnten einen Beitrag zum Erhalt und zur Verbesserung der Biodiversität in Berlin leisten.

Die großen Veränderungen müssen aber durch die Politik passieren. Die Erdkröte beweist, wie viel in kurzer Zeit verloren gehen kann.

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