Berlins Verkehrspolitik heißt: Abschied vom Auto. Jetzt lehrt uns die Corona-Krise: Wir brauchen unser Auto immer öfter doch. Für Ausflüge, für den BSR-Hof, für den Corona-Drive-in. Vielleicht bald auch für Live-Konzerte. Und tip-Redakteur Erik Heier stellt sich der Corona-Gewissensfrage: Will ich mein Auto zurück?
Mein Audi 80 hatte 25 Jahre auf der Felge. Die Reparaturen nahmen überhand. Mein Autoschrauber grinste, wenn ich schon wieder auf seinen Hof rumpelte. Zahltag, Baby. Und nicht zu knapp.
Dann kam die TÜV-Sense. Der Audi? Schrott. Der Typ von der Dekra grinste kalt. Mein Schrauber zuckte die Achseln. Alternative: 2.000 Euro reinbuttern. Und meine Frau intervenierte: Jetzt reicht’s! Ab jetzt autofrei. Wir ziehen das durch. Weg mit der Karre. Geld sparen. Umwelt schonen. Verkehrswende, sofort. Wenn wir einen Wagen brauchen, mieten wir ihn. Und wozu gibt es Carsharing? Wir haben jetzt das Budget dafür. Wer ausgibt, wem wird ausgegeben. Wann, wenn nicht jetzt?
Ich dann so: Von mir aus.
Corona-Gewissensfrage: So begann mein autofreies Leben
So begann es vor zwei Jahren. Mein autofreies Leben. Ich fühlte mich so richtig gut. So nachhaltig, ressourcenschonend. So verkehrssenatig. Ich fuhr geduldig Öffis. Ertrug die U8. Quetschte mich in die Stadtbahn. Stieg noch öfter aufs Rad. Buchte auch hin und wieder Car-Sharing-Wagen. Manchmal hatte ich Probleme damit. Einmal stand der Wagen im Haus nebenan in der Tiefgarage. Ein anderes Mal sprang er nicht an. Dachte ich jedenfalls. Woher sollte ich wissen, dass E-Autos keine Geräusche produzieren, nur ein Surren? Bin ich etwa „Auto-Bild“-Leser?
Und dann kam Corona. Isolation Berlin. Mindestabstand. Nur zu zweit draußen. Am besten gar nicht. Oder allein. Und die Umweltschweine, die allein im Privatwagen durch die Stadt heizten, waren plötzlich die sozialen Abstandhalter, die Virus-Versteher, die Role Models. Manche trugen sogar am Steuer einen Mund-Nasen-Schutz. Das ist ungefähr so wie Anschnallen in den Sechzigern. Aber anders als damals: verboten.
Und ich, Familienvater, zwei Kinder, vermisste immer öfter mein Auto, das ich vor zwei Jahren abschaffte
Und die Wochenenden mehrten sich, an denen ich, Familienvater, verheiratet, zwei Kinder, immer öfter an mein Auto dachte, den guten alten Audi, der nicht mal so neumodischen Kram wie Klimaanlage, elektrische Fensterheber oder Blutooth-Radio hatte, aber dafür eine verzinkte Karosse, die länger hielt als die Ehe von Elizabeth II. und Prinz Philip. Ein Wagen, der kein böser Diesel war, nur ein viertelehrlich stinkender Benziner.
An diesen Wochenenden sah ich den Nachbarn nach, die sich in ihre Familienkutsche setzten, raus auf die Autobahn steuerten und in märkischen Wäldern heiter in die soziale Distanz gingen. Die sich dafür Essen mitnahmen, sie fuhren ja nach Brandenburg. Oder sie häuften den alten Schrott aus dem Keller in ihre Kofferräume, karrten sie zum BSR-Hof, stellten sich geduldig in die kilometerlange Schlange davor. In Corona-Zeiten wird ja jeder Scheiß zum Projekt.
Manchmal bekamen die Töchter Tobsuchtsanfälle. Unser Weg war nicht ihr Ziel
Und wir? Wir hielten uns weiter von den Öffis fern, probierten so ziemlich jeden Wanderweg in und um Berlin in unter zwei Stunden erreichbarer Nähe aus, gingen gemeinsam jeden beschaulichen Berliner Weg ab, wenn er nur nahe genug am Wasser war.
Und wir traten weiter beflissen in die Radpedalen, schlugen uns hin und wieder mit Nah-Idioten an der Fahrradampel herum und kamen mit Ach und Krach und S-Bahn und Regio bis über die Stadtgrenze zu alten, renaturierten Rieselfeldern, wo all die anderen Städter*innen in Massen über die Feldwege holperten und Ruhe gewohntes Weidegetier aufschreckten. Die Parkplätze vor dem Gut Hobrechtsfelde waren voll. Manchmal bekamen die Töchter Tobsuchtsanfälle. Dann waren unsere Wege nicht ihr Ziel.
Wenn uns die Kinder eines fernen Tages achselzuckend in Heimen stilllegen, dann vielleicht, weil sie diese endlosen Ausflüge in schlimmen Träumen wieder und wieder nacherleben. Dieses Treten und Buckeln, wo es immer bergauf ging, und gegen den Wind. Und am Wegesrand nur mit Brettern vernagelte märkische Schankwirtschaften.
Jetzt gibt es auch noch Corona-Drive-ins
Seit einer Woche haben die ersten Berliner Bezirke Corona-Drive-ins eingerichtet, in Neukölln, in Mitte. Man kann dort für Covid-19-Schnelltests nach Anmeldung vorfahren, für die man anderswo länger wartete als auf diesen Godot. Im Regierungsviertel machte laut „Tagesspiegel“ sogar ein privater Schnelltestanbieter auf.
Derweil kamen die Nachbarn vom Corona-bedingt üppigen Wochenend-Einkauf mit Autos zurück, die unter der Achslast ächzten, und schauten mir mitleidig zu, wie ich das Sixpack Sprudelwasser auf dem Rad-Gepäckträger balancierte. Und sie fragten: „Warst du nicht gestern erst einkaufen?“
Ja doch.
Neulich erfuhr ich den jüngsten Stich in meinem Ex-Privat-PKW-Herzen. Es gibt jetzt Autokonzerte. Wie Autokino, nur mit Live-Musikanten statt Digital-Filmen. Neulich ist Sido in Düsseldorf bei einem solchen Autokonzert aufgetreten. Ich teile die Ansicht, dass man sich wegen Sido kein Auto anschaffen muss. Aber was, wenn andere folgen? All die Konzerte, auf die ich mich in diesem Frühling und Sommer gefreut habe? Nick Cave, Pearl Jam, The Jesus and Mary Chain? Wenn die alle sagen: Wir kommen nur, wenn ihr im Auto kommt? Da bekommt auch „Autotune“ eine ganz andere Facette.
Scheiß drauf. Ein Live-Konzert ist ein Live-Konzert ist ein Live-Konzert.
Corona ist ein fieses Miststück. Es bringt das Schlechte in uns hervor
Die Verkehrswende war nie bequem, das war auch nicht ihr Ziel. Sie ist einfach notwendig, das wissen wir alle. Und der neue Bußgeldkatalog, der Autoidioten zur Kasse bittet und Radfahrer*innen schützen soll, ist natürlich richtig.
Aber Corona ist ein durch und durch fieses Miststück. Das Mephisto der Viren. Es bringt oft das Schlechte in uns hervor: Egoismus, Rotzfrechheit, Anhusten. Und vielleicht macht es mich jetzt wieder zum Autofahrer. Nicht für immer, nicht für ewig. Nur für den Moment. Oder zwei. Irgendeine gebrauchte Möhre. Ein 27 Jahre alter Audi vielleicht. Solange diese verdammte Pandemie eben dauert.
Ja, ich habe auch ein schlechtes Gewissen dabei. Aber irgendwann kann ich die immer gleichen Radstrecken in erreichbarer Nähe auch nicht mehr sehen. Und ein Autokino ist besser als gar kein Kino. Von Autokonzerten nicht zureden.
Mein alter Werkstattschrauber jedenfalls würde sich freuen.
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