Der Polenmarkt in Berlin ist eine Legende. In der Wendezeit, in den Jahren 1989 und 1990, reisten tausende polnische Händler nach Berlin und bauten am Reichpietschufer ihre improvisierten Stände auf. Verkauft wurde alles, von Lebensmitteln und Kleidung über Gegenstände des täglichen Gebrauchs bis zu Alkohol und den obligatorischen Zigaretten. Die riesige Brache war eine sandige Einöde. Wenn es geregnet hatte, sammelte sich das Wasser in gewaltigen Lachen. Ein Unort, an dem der polnische Do-it-Yourself-Kapitalismus in der deutschen Metropole bizarre Ausmaße annahm und das Bild der Polen in Deutschland für Jahrzehnte prägte.
In West-Berlin war der Potsdamer Platz ein vergessener und weitgehend unbebauter Ort. Einst das pulsierende Herz der Weimarer Republik und einer der verkehrsreichsten Plätze der Welt, wurde er im Krieg weitgehend zerstört und wegen der Randlage und dem folgenden Mauerbau im August 1961 nicht wieder bebaut. Irgendwann entstand dort ein Flohmarkt, oder besser gesagt: ein „Krempelmarkt“. Der war schäbiger und wilder als die Märkte an der Straße des 17. Juni oder am Fehrbelliner Platz. Bis 1988/89 verkauften dort Berliner ihren Plunder von klapprigen Tischen und Tagesdecken, es gab einige Imbisse, und wer am Wochenende nichts zu tun hatte, schlenderte durch das „Mad Max“-artige Szenario auf der Suche nach Schnäppchen.
Dann kam die Zeit der Transformation. Späte 1980er/frühe 1990er-Jahre. Der Ostblock bröckelte, mit Gorbatschow kamen Glasnost und Perestroika und der Eiserne Vorhang wurde durchlässiger. Das liberalere Solidarnosc-Polen öffnete noch vor der DDR die Grenzen. Das gab unternehmungslustigen Händlern aus dem Nachbarland die Möglichkeit, das Geschäft in West-Berlin zu machen, immerhin konnte man dort seine Waren für Devisen verkaufen.
Polenmarkt in Berlin: Geldsegen für polnische Händler
Damals war das Gefälle zwischen West-Berlin und dem sozialistischen Polen enorm. Nur zwischen Mexiko und den USA existierte eine vergleichbare Diskrepanz im gesellschaftlichen Wohlstand. Ein polnischer Händler konnte in Berlin an einem Wochenende mehr verdienen als in einem Monat im Büro oder der Fabrik.
Die Verheißungen des Westens waren groß und der Kapitalismus entfaltete sich rasant. Tausende Händler suchten ihr Glück, es herrschte Verwahrlosung und Anarchie, und der Rubel rollte, besser gesagt die Mark. Die findigen Händler benahmen sich nicht immer diszipliniert, es wurde getrunken, geraucht und Glücksspiel und Taschendiebstahl machten sich auf dem Polenmarkt in Berlin breit. Schon bald sollte die Ära der polnischen Autodiebe beginnen. Innerhalb weniger Jahre entstand ein negatives Polenbild in Deutschland. Der Polenmarkt hatte einen erheblichen Anteil daran.
Spätestens mit der Wiedervereinigung und neuen Bauplänen für den Potsdamer Platz endete der Polenmarkt in Berlin. Das nahezu unkontrollierte Handeln und die Nebeneffekte waren der Berliner Polizei ohnehin ein Dorn im Auge. Das Image blieb, und noch bis heute erinnern sich viele Berliner und Berlinerinnen an die kurze Zeit des Wilden Ostens mitten in der Stadt.
Heute gibt es immer noch Polenmärkte, in Grenzstädten auf polnischer Seite verkaufen Polen weiterhin Butter, Zigaretten und Feuerwerkskörper, die deutsche Kundschaft muss jetzt anreisen und kann nebenbei noch tanken. Polen ist immer noch etwas billiger als Deutschland, zumindest was einen Teil des Warenangebots angeht. Nach Berlin kehrte der Polenmarkt aber nicht mehr zurück. Und mittlerweile hat sich auch das Image der Polen verbessert.
Fotogalerie: Der Polenmarkt in Berlin
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