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Kreuzberg

50 Jahre Neues Kreuzberger Zentrum: Mieter, Mauerstadt und Multikulti

Dass das Neue Kreuzberger Zentrum fertig geworden ist, ist 2024 genau 50 Jahre her. 1974 waren die Bauarbeiten am riesigen Wohnkomplex vollendet, und seitdem hat das NKZ das Image Berlins geprägt. Eine Ortsbegehung quer durch die Geschichte – inklusive Berlinförderungsgesetz und „Gastarbeiter“-Milieu, linker Szene und Mieterbewegung.


1906: eine Hochbahn, aber noch kein NKZ

Die Hochbahn am Kottbusser Tor war schon im ganz frühen 20. Jahrhundert elementar. Foto: Imago/Arkivi

Ein idyllisches Postkartenmotiv aus dem Jahr 1906: Kurz nach der Jahrhundertwende war die Hochbahn, deren Trassen das Stralauer Tor in Friedrichshain mit dem Potsdamer Platz verbanden, angesagtes Verkehrsmittel für die modernen Menschen in der deutschen Hauptstadt. Auch am Kottbusser Tor führte diese Hochtechnologie aus Zeiten der frühen elektrischen Mobilität entlang. Ein Ort, wo sonst Kutschen die Stadtbürgerinnen beförderten. Das NKZ: damals noch ein Stadtentwicklungsprojekt in ganz ferner Zukunft. Die Hochbahn ist bis heute eine Konstante in der Silhouette des Quartiers.


Baubeginn im Jahr 1969: Ein Ufo inmitten schmuddliger Altbauten

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Das Leben ist eine Baustelle: ein frühes Kapitel der Bauarbeiten am NKZ im Jahr 1969. Foto: Imago/Serienlicht

Als Kreuzberg der Hinterhof der BRD war, eingeklemmt im Hoheitsgebiet der Alliierten, gelegen im disparaten West-Berlin, begann der Bau des Neuen Kreuzberger Zentrums. Es war das Jahr 1969. Die mausgraue Stadt schreckte damals finanzstarke Investoren eher ab – weshalb die Bauherrin und Eigentümerin, die Schmidt & Press GmbH & Co. KG, dank des sogenannten Berlinförderungsgesetzes von netten Subventionen profitierte.


Eine neue Ära in Kreuzberg: Die psychedelischen 1970er-Jahre

Ganz schön bunt: das NKZ im Jahr 1974. Foto: Imago/Serienlicht

In flippiges Lila waren Flächen der NKZ-Fassade gegossen, als 1974 die Arbeiten an dem massiven Baukomplex vollendet waren. Die psychedelischen 1970er-Jahre, ausstaffiert mit Lavalampen und knalligen Tapeten, färbten eben auch auf Mietblockarchitektur ab. Auch sonst war Spaß im Karton: In einem Billardsalon durften Lebemenschen mit ihren Queues die Kugeln in Serie versenken. Die Entwürfe für das Bauwerk, einer Wohnmaschine mit zwölf Etagen und 367 Wohnungen, lieferten übrigens die Architekten Werner Jokisch und Johannes Uhl. Einen Blick auf Kreuzberg in den 1970er-Jahren werfen wir in dieser Bildstrecke.


Coca-Cola statt Marx: Als 1989 die Ost-Berliner kamen

Ganz Westdeutschland ein Devisenparadies – auch in Kreuzberg am Kotti. So empfanden es Besucherinnen aus dem Osten, als sie nach dem Mauerfall ihr Begrüßungsgeld abholten. Foto: Imago/Michael Hughes

Im Herbst 1989 waren Konsumenten aus der DDR angezogen von der Aussicht auf Schotter aus kapitalistischen Geldkreisläufen – und bestürmten dabei auch die Sparkassenfiliale am Kottbusser Tor. Das NKZ war längst eine feste Größe in SO36, als der Stadtteil unweit der innerdeutschen Grenze zwischen Ost- und West-Berlin neuen Zulauf erhielt. Am 9. November waren die Übergänge entlang der politischen Demarkationslinie zum Stoff für den Geschichtsunterricht geworden. Das Begrüßungsgeld für Laufkundschaft aus dem anderen Deutschland in Höhe von 100 D-Mark: handfestes Argument für einen Ausflug. Zum Beispiel nach Kreuzberg.


Das NKZ: Ein Zentrum des multikulturellen Lebensstils

Der Obst- und Gemüsemarkt vor Umrissen des NKZ-Gebäudes. Foto: Imago/Detlev Konnerth

Der Kotti ist ein Schmelztiegel, der das Phantasma einer ethnisch homogenen Gesellschaft der Lächerlichkeit preisgibt. In den frühen Jahren des Neuen Kreuzberger Zentrums quartierten sich vor allem türkische „Gastarbeiter“ mit deren Familien in dem Neubau ein. Den meisten Deutschen war der ärmliche Stadtteil zu schmuddelig. Mulitikultureller Lebensstil prägt seither Kultur, Gewerbe und Alltag. Dieses Bild aus dem Winter 1993 dokumentiert eine Institution: den Obst- und Gemüsemarkt. 


Politisch wie kaum anderswo: Das Lebensgefühl am NKZ

Hauswände am NKZ bezeugen einen hohen Grad der Politisierung. Foto: Imago/Lem

Das Leben im NKZ ist immer auch eine politische Herausforderung gewesen. Wer dort wohnt, ist mit der gesellschaftlichen Realität konfrontiert, ob mit sozialer Ungerechtigkeit, Rassismus oder Polizeigewalt. Die linke Szene gibt den Menschen vor Ort eine Stimme – wie man anhand dieser Banner mit Parolen in türkischer Sprache sieht. Es handelt sich um eine Aufnahme aus dem Jahr 1997.


NKZ: Wo auf der Straße immer was los ist

Während der Fußball-WM 2002 in Japan und Südkorea feiern Fans des türkischen Nationalteams – vor dem Panorama des NKZ. Foto: Imago/Seeliger

Am Kottbusser Tor hallen Emotionen wider, die Menschen mit türkischen Familienhintergründen bewegen. Zumindest, wenn sie Fußball-Fans sind. Als im Sommer 2002 die Türkei ins Halbfinale der Fußball-WM in Japan und Südkorea einzieht, feiern Anhängerinnen und Anhänger den bis dato größten Triumph einer Nationalmannschaft aus jenem Land, das Almans wegen Atatürk und Köfte kennen. So wie dieses beseelte Mädchen im Caddy.


Kotti & Co. und andere: Auch am NKZ boomt der Mieterprotest

Die Mieterbewegung demonstriert am Kotti im Mai 2017. Foto: Imago/Christian Mang

Gegen das Geschäftsmodell des Raubtierkapitalismus: Der Kiez rund ums NKZ ist in den 2010er-Jahren zu einem Herzland der Mieterbewegung geworden. Weil die Immo-Konzerne die Mieten in die Höhe treiben, wird der Protest auf den Straßen immer lauter. Eine einflussreiche Gruppe ist Kotti & Co. – darin bündelt sich der Frust von Bewohnern des Neuen Kreuzberger Zentrums und anderen Mietern im Stadtteil. Die Welle des Zorns türmt sich auch jenseits der Epizentren von Rebellion auf – bis zum Volksentscheid über die Vergesellschaftung größerer Immobilienfirmen. Für „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ stimmen damals 57,1 Prozent, eine Sensation.


Polizeiwache am NKZ: Das Auge des Staates

Die Polizeiwache im NKZ – eröffnet im Februar 2023. Foto: Imago/PEMAX

Ordnungsmacht fürs Abenteuerland: Im Februar 2023 beginnt im NKZ am Kottbusser Tor eine Polizeiwache den Dienst – hinter Panzerglasscheiben. Ein Schachzug, um mehr staatliche Kontrolle im Viertel zu gewinnen. Besonders der Handel mit illegalen Drogen soll blühen. Ob eine Verschärfung der Präsenz von Cops dabei hilft? Das Revier polarisiert jedenfalls Beobachter in Politik, Medien und Zivilgesellschaft – und die Nachbarschaft zum Café Kotti nebenan, einem Taubenschlag der linken Szene, ist sonderbar wie die Fusion von Ethnopop und Marschmusik.


Mehr zum Leben in Kreuzberg

Alles im Gang rund um den Kotti: Hier sind unsere Tipps rund ums Kottbusser Tor. Der gesamte Stadtteil bietet zudem eine erstaunliche Vielfalt an Parks – Kreuzbergs Grünanlagen von Görli bis Victoriapark. Sympathieträger von außerhalb machen sich in diesem Teil der Stadt breit: Der Hurrafußballer Lukas Podolski, eigentlich Rheinländer, hat 2024 eine Dönerbude am Kottbusser Damm eröffnet. Alles, was wir über den Stadtteil schreiben, findet ihr in unserer Kreuzberg-Übersicht.

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