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Kommentar

Abtreibungsdebatte in Texas: Warum Berlin in den 70ern Vorbild sein kann

Nathaniel Flakin kommt aus Texas und lebt in Berlin. Mit Schrecken sieht er, wie sein Heimatstaat die Rechte von Frauen beim Thema Abtreibung beschneiden will. Er sieht die Ereignisse in Berlin und ganz Deutschland in den 1970ern als Vorbild für die faul gewordenen NGOs in seiner Heimat. Und fordert, wieder mehr Mut zu beweisen.

Protest in Texas gegen das neue Abtreibungsgesetz – für unseren Autoren sind die Proteste in Deutschland ein Musterbeispiel dafür, wie es heute auch in Texas laufen sollte. Foto: Imago/NurPhoto

Protest gegen Abtreibungsgesetz in Texas: Es wird nicht vor Gericht entschieden

Als Berliner aus Texas erschaudere ich jedes Mal, wenn mein Heimatstaat hier in den Nachrichten erscheint. Aber die Schlagzeilen der letzten Woche waren selbst für texanische Verhältnisse schlimm: Der Oberste Gerichtshof hat ein Gesetz in Kraft treten lassen, die „Senate Bill 78“, das Abtreibungen nach der sechsten Woche unter Strafe stellt. Ein klarer Verstoß gegen die US-Verfassung, wie sie 1973 vom Obersten Gerichtshof ausgelegt wurde.

Grausames Detail: Das Verbot soll von privaten Kopfgeldjägern durchgesetzt werden, die 10.000 Dollar für die Denunziation von Personen erhalten, die den Abbruch einer Schwangerschaft „unterstützen oder begünstigen“. Zwar hat eine Bezirksrichterin in Austin die Umsetzung vorerst ausgesetzt – vorbei ist die Krise der weiblichen Selbstbestimmung aber bei weitem noch nicht.

Generell sind alle, die ich in Texas – und in den gesamten USA – kenne, empört. Und doch habe ich keine großen Proteste gegen das Gesetz gesehen. Stattdessen sind meine Social-Media-Feeds und Podcasts voll von Aufrufen, Geld an Planned Parenthood und andere NGOs zu spenden, die für Abtreibungsrechte kämpfen,

Eine Sache verstehe ich allerdings nicht: Planned Parenthood in Texas hat angekündigt, dass sie wegen dieses eindeutig verfassungswidrigen Gesetzes keine Abtreibungen mehr anbieten. Sie wollen das Gesetz vor Gericht anfechten. Aber wenn uns die Geschichte der Vereinigten Staaten etwas lehrt, dann, dass noch nie jemand seine Bürgerrechte vor Gericht erstritten hat. Rosa Parks blieb nicht im hinteren Teil des Busses sitzen und reichte stattdessen eine Klage ein. Unterdrückung endet, wenn Menschen sich ungerechten Gesetzen widersetzen.

Das hat mich an die Bewegung für Abtreibungsrechte in Berlin denken lassen. Damals, in den 1970er Jahren, war Abtreibung in Westdeutschland illegal. Eine der zentralen Kampagnen der zweiten Welle der Frauenbewegung war die Abschaffung des berüchtigten Paragraphen 218 des Strafgesetzbuches. Mitte 1971 erklärten 374 Feministinnen auf der Titelseite und im Innneteil des Magazins Stern „Wir haben abgetrieben!“

Thema Abtreibung in den 1970er Jahren: Medien und Öffentlichkeit machten Druck, berühmt ist das Stern-Cover aus den 70ern.

Die Titelseite des Magazins reichte nicht aus, und drei Jahre später beschlossen die Feministinnen eine Eskalation. Vierzehn Ärzte kündigten an, eine illegale Abtreibung in der Öffentlichkeit vorzunehmen. Sie forderten ein Ende der Heuchelei: Bis zu 3.000 illegale Schwangerschaftsabbrüche fanden in der Bundesrepublik täglich statt.

Illegale Abtreibungen aus Protest und zum Aufbau von gesellschaftlichem Druck

Am 9. März 1974 luden sie Kameras des öffentlich-rechtlichen Fernsehsenders Panorama ein, eine Abtreibung zu filmen. Sie fand im Kreuzberger Frauenzentrum statt, das 1973 im Erdgeschoss eines Mehrfamilienhauses in der Hornstraße 2 eröffnet worden war. (Heute sieht das Gründerzeitgebäude majestätisch aus – aber vor 50 Jahren war selbst der schöne Teil Kreuzbergs heruntergekommen und die Ladenlokale waren billig).

Panorama sollte die Aufnahmen zwei Tage später ausstrahlen. Nur eine Stunde vor der Ausstrahlung sagte das Management den Beitrag ab. Die katholische Kirche hatte Anzeige erstattet. Aus Protest sendete die Panorama-Redaktion 45 Minuten lang eine Live-Aufnahme aus ihrem leeren Studio. In den folgenden Tagen besetzten Frauen verschiedene öffentliche Fernsehsender und forderten die Ausstrahlung der Sendung.

Es mag auf der Hand liegen, aber: Niemand wurde jemals wegen öffentlichen Rechtsbruchs angeklagt, weder wegen des Magazin-Covers noch wegen der Fernsehsendung. So funktioniert ziviler Ungehorsam – die Staatsanwälte wissen, dass ein Prozess nur zu weiteren Protesten führen würde.

1975 in Berlin: Protest gegen den Paragraphen 218. Foto: Imago/Klaus Rose

Sind die NGOs zu feige geworden für einen vernünftigen Streit?

Das wirft bei mir Fragen auf: Warum verstößt Planned Parenthood nicht gegen das texanische Gesetz? Ich habe nichts als Respekt vor den Ärzten, Krankenschwestern und anderen Mitarbeitern, die schwangere Menschen medizinisch versorgen, während ich mir Sorgen um religiöse Fanatiker und Rechtsterroristen mache. In diesem Zusammenhang mache ich mir Gedanken über die hochbezahlten Verwalter der „Nichtregierungsorganisationen“ – der Geschäftsführer von Planned Parenthood verdient zum Beispiel fast eine Million Dollar im Jahr.

Sollten sie für ein solches Gehalt nicht bereit sein, sich einem Gerichtsverfahren zu stellen oder ins Gefängnis zu gehen? Die Gründer von Planned Parenthood, die Pioniere der Geburtenkontrolle in den Vereinigten Staaten, sind mehrfach ins Gefängnis gegangen. Was würde passieren, wenn die texanischen Gerichte mit Zehntausenden von Klagen überschwemmt würden?

In den vergangenen Jahrzehnten hat die feministische Bewegung einen Prozess der „NGOisierung“ durchlaufen. Die Unterstützer demonstrieren nicht mehr und werfen keine Fensterscheiben mehr ein – jetzt klicken sie nur noch, um Geld zu schicken. Infolgedessen besteht die Bewegung nicht mehr aus einer Masse von Frauen aus der Arbeiterklasse, die für ihre Rechte kämpfen. Jetzt sind es hochbezahlte Anwältinnen und Lobbyistinnen, die von Natur aus eher konservativ sind.

2021 in Austin, Texas: „Mein Körper sollte nicht stärker reguliert werden als Waffen“. Foto: Imago/Zuma Wire

Recht auf körperliche Selbstbestimmung wird langsam ausgehöhlt

NGOs sind so etwas wie die Bürokratie der sozialen Bewegung, und Bürokraten „professionalisieren“ Proteste immer, während sie die Basis beruhigen. Diese „Professionalität“ funktioniert offensichtlich nicht, da das Recht auf körperliche Selbstbestimmung langsam ausgehöhlt wird. Das Recht auf Abtreibung wurde in den USA nicht von einem aufgeklärten Obersten Gerichtshof gewährt. Es war eine Massenbewegung in den 1970er Jahren, die das Gericht dazu zwang, Roe vs. Wade zuzulassen. Das ist es, was wir heute brauchen, um die Abtreibungsrechte zu verteidigen.

Abschließend möchte ich sagen, dass die Leser in Berlin vielleicht denken: Das ist nur ein weiteres Beispiel für die Barbarei der USA! Lasst mich daher aus der aktuellen Fassung des Paragraphen 218 des deutschen Strafgesetzbuches zitieren: „Wer eine Schwangerschaft abbricht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“

Richtig: Im Jahr 2021 ist der Schwangerschaftsabbruch in Deutschland technisch immer noch verboten. Allerdings gibt es ein Schlupfloch: Der Paragraph 218a entkriminalisiert den Eingriff unter bestimmten Bedingungen, etwa wenn sich die Schwangerschaft noch im ersten Trimester befindet. Ist dies nur eine rechtliche Unterscheidung ohne Unterschied? Nein, ganz und gar nicht. Da der Schwangerschaftsabbruch illegal ist, wird er nicht von den Krankenkassen übernommen, und er wird auch nicht an den medizinischen Fakultäten gelehrt.

Außerdem schreibt Paragraph 219 vor, dass eine Person, die einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen will, eine obligatorische Beratung in Anspruch nehmen muss, „die dem Schutz des ungeborenen Lebens dient.“ Vielerorts in Deutschland gibt es eine solche Beratung nur in kirchlichen Einrichtungen. Paragraph 219a verbietet die „Werbung für den Schwangerschaftsabbruch“. Bis 2019 bedeutete dies, dass Gynäkologen mit Tausenden von Euro bestraft wurden, wenn sie auf ihrer Website schrieben, dass sie Schwangerschaftsabbrüche anbieten.

Auch Deutschland braucht eine Massenbewegung zur Verteidigung der Abtreibungsrechte, fast so sehr wie Texas.


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