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Nachschlag, Extraportion, Völlegefühl: Was heißt eigentlich „Satt sein“?

Ein Anruf bei der Deutschen Gesellschaft für Ernährung, eine Extraportion bei einem Italiener an der Hasenheide, einige Beobachtungen dies und jenseits des Völlegefühls und die Frage: Was heißt das eigentlich: satt sein? Unser Autor Jochen Overbeck hat Antworten gesucht.

Satt sein – unser Autor geht der Frage auf den Grund. Berliner Tram mit Werbeaufschrift "Hunger" fährt an einem Schwarm Tauben vorbei.
Noch hungrig oder schon satt? Unser Autor geht der Frage nach dem Sattsein auf den Grund. Foto: imago / Sabine Gudath

Einmal zum Beispiel, wir saßen in einem italienischen Traditionslokal nahe der Hasenheide. Das Lamm war hervorragend, wir hatten dazu Nudeln in einer leichten Tomatensauce bestellt. Als der Kellner kam, um abzuräumen, blickte er mir ins Gesicht. Skeptisch, aber auch besorgt, ganz so, als herrsche dort eine Unordnung. „Du bist noch nicht satt“, stellte er fest.

Ich wollte erst widersprechen. Eigentlich. Aber seine Diagnose traf ja zu, ich hatte an dem Tag wenig gegessen und mich viel bewegt. Ich hatte die durchaus ordentliche Portion weggeatmet. Ich räumte den Tatbestand ein, einige Minuten später stand ein weiterer Teller mit einem Schlag dampfender Pasta vor mir. Der Kellner verließ die Szenerie wie ein Chefarzt, der gerade erfolgreich eine Herztransplantation durchgeführt hatte.

Ein anderes Mal, ein Italiener in der Suarezstraße. Wir bestellen erst Vorspeisen, Vitello Tonnato, frittierte Tintenfische. Das Vitello butterweich, die Calamaretti springen ins Maul. Danach der Hauptgang. Nach zwei Bissen stelle ich fest: Ich habe mich total übernommen. Ich schäme mich, als die Bedienung den noch halbvollen Teller abräumt.

Ein komplexes Regelwerk

Ein Anruf in Bonn. Dort sitzt die Deutsche Gesellschaft für Ernährung. Die DGE ist quasi der akademische Arm unseres Bauches. Sie sagt uns, wie wir essen sollen, um möglichst lange möglichst gesund zu bleiben. Dazu hat sie zehn Regeln aufgestellt. Eine lautet „Achtsam essen und genießen“, eine andere „Gemüse und Obst – Nimm 5 am Tag!“ Eine weitere: „Am besten Wasser trinken“.

Die konkrete Frage an den eingetragenen Verein: Wann ist man eigentlich satt? Ziemlich gut erklären kann das Astrid Donalies. Die Diplom-Ökotrophologin sagt: „Hunger und Sättigung folgen einem ziemlich komplexen Regelwerk. Sättigung, so wie wir sie verstehen, beschreibt den Zustand, wenn dem Körper ausreichend Energie und Nährstoffe zugeführt werden und kein Verlangen nach Nahrung mehr besteht.“

Komplex ist das deshalb, weil die Regelung mit einigen Fußnoten versehen ist. Etwa einer eingebauten Zeitverzögerung: „Das Sättigungsgefühl tritt etwa 15 bis 20 Minuten nach der Mahlzeit ein. Das Problem ist, dass wir ein bisschen verlernt haben, es wahrzunehmen. Dass wir es manchmal übergehen. Wenn man sich nicht die Zeit nimmt, oder sogar nebenher isst, erkennt man das vielleicht nicht.“ Was wie ein Problem aus dem Fast Food klingt, ist durchaus auch eines der normalen Gastronomie. Jeder kennt diese Abende, an denen es der Wirt ganz offenbar eilig hat. Wenn die Vorspeise gerade abgeräumt wurde und einen Wimpernschlag später bereits der Hauptgang auf dem Tisch steht.

Satt sein Mann beißt in Bockwurst mit Senf
Haben wir verlernt, unser Sättigungsgefühl wahrzunehmen? Foto: imago/ThomasTrutschel/photothek.de

Nun dürfte die Kalorienmenge bei einem durchschnittlichen Drei-Gänge-Menü die eines Abendessens am heimischen Tisch meistens überschreiten. Wie geht man als Gast damit um? Wie sorgt man dafür, dass man sich nachts nicht überfüllt in den Laken wälzt? Ein beliebter Trick: Tagsüber nichts essen, um abends dann umso umfangreicher reinzuhauen. Ist das in Ordnung? „Rein rechnerisch ist das egal“, sagt Astrid Donalies. „Aber ein Sättigungssignal ist auch das Völlegefühl, das geht über die Magenwand. Wenn Sie jetzt einen ganzen Schwung Nahrung auf einmal essen, kann man sich ja vorstellen, dass das dazu führt, dass man pappsatt ist.“

Aber wie geht man nun als Restaurantgast vor, der in der gehobenen Gastronomie ein schönes Menü zu sich nimmt, vielleicht sogar begleitet von dem ein oder anderen Getränk? Oder anders gefragt: Darf man sündigen? Den Zustand des Satt-Seins dehnen wie die Magenwand? Eine konkrete Handlungsanleitung mag Donalies nicht geben, aber wer möchte, kann aus ihren Worten doch so etwas wie Absolution heraushören: „Ernährungswissenschaftlich geht es tatsächlich immer um den Tag. Aber natürlich muss man letztendlich die ganze Woche sehen. Ich gehe davon aus, dass derjenige, der langsam, bewusst und achtsam isst, dafür auch ein Gefühl entwickelt.“

Quantität und Qualität

Ein paar Tage später, in Berlin-Charlottenburg. Am Anfang der Wilmersdorfer Straße, wo der Adenauerplatz so aussieht, als habe jemand das alte Westberlin mit einem Radlader zu einem großen Haufen zusammengeschoben, residieren die „Kurpfalz-Weinstuben“. Ein Lokal, dem es gelingt, zwei vermeintliche Widersprüche zu vereinen: Einerseits wirkt es, wie es da im Hinterhof sitzt, beworben von einer Reklame in Fraktur und dunkel getäfelt, wie ein Gruß aus einer anderen Zeit. Das ist in einer Stadt, in der sich die Gastronomie vor allem durch ihre ständige Häutung definiert, etwas Seltenes. Andererseits wurde das Traditionslokal in den letzten Jahren einigen Modifikationen unterzogen.

Vincenzo Berényi und Sebastian Schmidt haben es 2015 übernommen und bieten mit der ebenso postenreichen wie phänomenalen Weinkarte nach wie vor mit das beste Preis-Leistungs-Verhältnis der Stadt an, was den gepflegten Rausch angeht. Vor allem aber haben sie die Küche gepimpt, kochen eine höhere Gastronomie, die dabei fest in den Traditionen vertäut ist. Die Küche schickt hier Stubenküken und Steinbutt, aber auch Klassisches aus der namensgebenden Region wie das Pfälzer Blatt, Winzer-Vesper oder Handkäs mit Musik.

Satt sein macht glücklich

Berény führt mich an einem warmen Septembernachmittag zu einem Tisch, auf dem noch die Flaschen vom Vorabend stehen. Kollegen waren zu Besuch, und als er erzählt, was die so alles gegessen und getrunken haben (300 Gramm Tartar! Danach ein halbes Kilo Fleisch! Dazu Steinpilze!), erkennt man: Die waren auf jeden Fall satt.

Wobei dem Wirt vor allem eines wichtig ist: Satt sein, das ist mehr als ein biochemischer Prozess. „Der Kunde muss eine Menge und eine Qualität auf dem Teller haben, dass er sagt: Das war gut!“ Diese Zufriedenheit steht und fällt bei ihm mit der Ware. „Wir haben immer Schnecken auf der Karte. Das sind dann aber auch richtige Schnecken, nicht die Achat-Schnecken aus der Dose. Wir kaufen die bei der Frau Samland bei der Schneckenzucht in Nersingen“. Auch bei seinen sonstigen Waren kann Berény entsprechende Provenienz vorweisen. „Der Saumagen kommt von der Metzgerei Joachim in Landau-Mörzheim.“

Womit wir mitten im Thema wären: All das ist bei Berény etwas kleiner, als man es aus der Pfalz kennen mag. „Wir haben der Metzgerei gesagt: ,Bitte keine 100-Gramm-Bratwürste’. Wenn du zwei Scheiben Saumagen hast, einen Leberknödel, Sauerkraut, Kartoffelpüree und 100 Gramm Bratwurst – das ist ja abartig.“ Bei ihm gilt: Wer einen Hauptgang und eine Vorspeise bestellt, im Idealfall noch ein Dessert, sollte satt sein.

Satt sein Kurpfalz Weinstuben bei Nacht
„Der Kunde muss eine Menge und eine Qualität auf dem Teller haben, dass er sagt: Das war gut!“ – so Vincenzo Berényis Überzeugung für sein Lokal „Kurpfalz-Weinstuben“ in Charlottenburg. Foto: tipBerlin

Was das Sättigungsgefühl angeht, scheint es dabei auch innerberlinerische Unterschiede zu geben. „Wir haben viele Gäste, die aus den gutbürgerlichen Gegenden kommen. Britz, Rudow, Reinickendorf. Da muss der Teller schon voller sein. Die Leute, die hier ums Eck wohnen, sagen manchmal: ,Die Portionen sind fast zu groß!’ Aber was soll ich bei einem Kotelett abschneiden? Das hat ne definierte Größe!“

„Wenn du einen verhungernden Hund aufliest und ihn satt machst, wird er dich nicht beißen. Das ist der Grundunterschied zwischen Hund und Mensch“. Mark Twain soll das einmal gesagt haben, der erste Teil stimmt, der zweite nicht ganz. Satt werden führt zu maximaler Zufriedenheit. Wer zufrieden ist, beißt nicht. Das weiß auch Berény. Manchmal, so sagt er, erkennt er, dass jemand Hunger hat. Daran, wie der so isst. Aber auch am Gang. „Da sage ich dann in der Küche Bescheid: ,Leg’ dem ein bisschen mehr auf den Teller, dann ist der auch glücklich.’“ Oder um es mit der Deutschen Gesellschaft für Ernährung zu sagen: Derjenige hat dann ausreichend Energie und Nährstoffe bekommen. Ein Glücksfall, wenn Wissenschaft und Gastronomie einer Meinung sind.

Mehr Berliner Genusskultur

Satt sein macht also glücklich. Das passende Restaurant, um den Hunger zu stillen, findet man mit der Berlin Food App von tipBerlin. Zum Guten Essen passt ein guter Wein, den trinkt man am besten in einer von diesen Weinbars in Berlin: 12 schöne Orte für Weinkultur und guten Geschmack. Wie wärs außerdem mit echtem amerikanischem Soulfood? Hier könnt ihr 12 mal Essen wie in den USA: Amerikanisch in Berlin von BBQ bis Pie. Doch lieber Kuchen und Torten in Berlin?: 12 Orte, die euch den tag versüßen. Noch mehr Empfehlungen und News aus der Berliner Gastro-Welt findet ihr in der Rubrik Essen & Trinken.

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