Berlinale 2023

„Der schattenlose Turm“: Ein ruhig fließender Film von Zhang Lu

Ein Restaurantkritiker ist vielleicht zu höflich, um seinem Leben eine wichtige Wendung geben zu können: Mit „Der schattenlose Turm“ (Originaltitel: „Bai Ta Zhi Guang“) zeigt Zhang Lu ein China zwischen den Zeiten. Er ist bereits zum vierten Mal bei einer Berlinale.

Von links: Xin Baiqing, Huang Yao, Nan Ji in „Der schattenlose Turm“. Foto: Lu Films

„Bai Ta Zhi Guang“: Hinter Mauern der Höflichkeit

„Zuviel Höflichkeit baut Mauern“, muss sich Gu Wentong sagen lassen, die Hauptfigur in „Der schattenlose Turm“, dem Wettbewerbsbeitrag des chinesischen Regisseurs Zhang Lu. Zurecht, denn Gu ist ein ausgesprochen zurückhaltender Mann in den 40ern, der sich in Peking als Restaurantkritiker mehr schlecht als recht durchschlägt, in einem winzigen Zimmer mit vielen Büchern lebt, während seine Tochter bei seiner Schwester aufwächst.

Ein wenig beziehungsgestört wirkt Gu durchaus. Als seine Kollegin, die deutlich jüngere Fotografin Ouyang, ihn ziemlich unverhohlen anflirtet, agiert Gu vor allem zurückhaltend – und höflich. Mag sein, dass dieses Verhalten auch mit seinem abwesenden Vater zu tun hat, der vor vielen Jahren verschwunden ist, nachdem er beschuldigt wurde, eine Frau im Bus belästigt zu haben. Nun erfährt Gu, dass der Vater all die Jahre in einer Ortschaft nur 300 Kilometer von Peking entfernt gelebt hat. Doch lässt sich eine Beziehung, die seit Jahrzehnten brach lag, noch einmal beleben?

„Der schattenlose Turm“: Zhang Lus Interesse am Bild des modernen Chinas

Viel mehr als an einer Antwort dieser Frage ist Lu – der schon zum vierten Mal bei der Berlinale zu Gast ist – am Bild des modernen Chinas interessiert. Sein Film spielt im historischen Viertel rund um den Tempel der weißen Pagode, der schattenlose Turm des Titels. So nah stehen die alten Häuser um den riesige Bau, so eng sind die Gassen, dass man den Schatten der Pagode oft kaum sehen kann. Und so wie hier der Schatten fehlt, mag man auch den Umgang Chinas mit der eigenen Geschichte sehen, die so geschrieben wird, dass bestimmte Ereignisse keinen Schatten, keine Spuren hinterlassen (sollen).

Von links: Nan Ji und Xin Baiqing, Hauptdarsteller in „Der schattenlose Turm“. Foto: Lu Films

Welche Folgen hat die bewusste Geschichtslosigkeit?

Tibet oder die Uiguren werden von den Figuren im Film nebenbei erwähnt, ohne dass diese Themen vertieft werden würden. Was angesichts der chinesischen Filmzensur, die jeden Film freigeben muss, auch unmöglich wäre. Welche Folgen diese bewusste Geschichtslosigkeit hat, wird sich in den nächsten Jahrzehnten zeigen. Für Gu hat der Versuch, sich von seiner eigenen Vergangenheit zu lösen, auf den ersten Blick keine Konsequenzen. Doch je länger Zhang Lus bedächtiger, eher ruhig fließender als dramatisch zugespitzter Film dauert, um so deutlicher werden die emotionalen Folgen, die Gu unter dem Mantel ausgesuchter Höflichkeit zu verstecken sucht. Michael Meyns


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