Festival

Cannes 2019: Altmeister und starke Frauen

Ein Rückblick auf das 72. Internationale Filmfestival in Cannes

Goldene Palme: „Parasite“ von Bong Joon-ho, Foto: The Jokers / Les Bookmakers

Als das schönste Festival der Welt bezeichnete Catherine Deneuve die Filmfestspiele von Cannes, bevor sie am Samstagabend dem besten Film des Wettbewerbs, Bong Joon-hos „Parasite“, die Goldene Palme überreichte. Mit dieser Aussage mag sie durchaus recht haben, was zum einen an den äußerlichen Umständen liegt, der milden Luft der Côte d‘azur, dem lauschigen Wetter, zum anderen an der stets bemerkenswert hohen Qualität der Filme, nicht zuletzt aber an der enormen Liebe zum Kino, die hier an allen Ecken zu spüren ist.

Das gilt weniger für die Pressevorführungen, nach denen die Journalistenmeute in aller Regel fluchtartig den Raum verlässt, um zum nächsten Film oder an den Computer zu hetzen, sondern bei den öffentlichen Vorführungen. Denn auch wenn Cannes kein Publikumsfestival ist, wird bei den täglichen Galapremieren der riesige Palais de Festival mit seinen über 2.000 Plätzen zu gut Zweidritteln von nichtprofessionellen Zuschauern gefüllt. Wenn dann der Star des Abends, der Regisseur des jeweiligen Films, den Saal betritt, brandet oft ekstatischer Jubel auf, der gerne minutenlang anhält. Nach dem Film geht es so weiter, wer da nicht mindestens vier, fünf Minuten Standing Ovations erhält, sollte sich Sorgen machen. Die absoluten Cannes-Helden müssen das nicht befürchten, Regisseure wie der Kanadier Xavier Dolan oder besonders Quentin Tarantino müssen bloß ihr Gesicht zeigen und die Menge gerät in Entzückung.

Ein Mann ganz alter Schule

Doch auch die Filmgeschichte wird in Cannes nicht stiefmütterlich behandelt, sondern zelebriert. Besonders eindrucksvoll war das am ersten Sonntag des Festivals zu spüren, als einer der größten des französischen Kinos mit der Goldenen Palme für sein Lebenswerk geehrt wurde: Alain Delon. Selbst in Frankreich hatte es einige Proteste gegen diese Entscheidung gegeben, ist Delon doch in bester und schlechtester Hinsicht ein Mann alter Schule, der frei Schnauze sagt was er denkt, dummerweise aber auch sagt, dass ihm gegenüber einer Frau schon mal die Hand ausgerutscht ist und er Sympathien für Rechtskonservative hat. Liest man solche Aussagen im Kontext der Gespräche, in denen sie fielen, werden sie zwar etwas differenzierter, doch in Zeiten von #metoo hat solches Denken auch in Frankreich Grenzen.

Doch an diesem Abend ging es nicht um Moral, sondern ums Kino – und so kannte der Jubel für Delon keine Grenzen und wurde ein paar Tage später nur noch vom Jubel für einen anderen Altstar übertroffen: Sylvester Stallone. Auf den ersten Blick passt der Action-Held zwar nicht nach Cannes, doch auch Stallone, was auch immer von ihm und seinen Filmen halten mag, ist ein Auteur. Und um das Autorenkino geht es in Cannes, immer noch, zum Glück.

Dauernde Ungewissheit

Von Debatten um Repräsentation und den Anteil von Frauen im Programm ist zwar auch Cannes nicht frei, sehr zum Unwillen von Programmleiter Thierry Fremaux hat man bisweilen den Eindruck, doch bis auf einige Filme, die allzu offensichtlich gezeigt werden, um die französische Filmindustrie glücklich zu machen, war die Qualität des Wettbewerbs durchgehend hoch.

Was auch an den oft geschmähten Altmeistern wie Ken Loach, den Dardenne-Brüdern oder Marco Bellocchio lag, die zwar überraschungsfreie, aber souveräne Filme zeigten, die ihre typischen Themen variierten: soziale Ungerechtigkeit, die Mafia. Überraschender waren da die Frauen, Jessica Hausner etwa, die sich in „Little Joe“ etwas spröde und verkopft an einer Science-Fiction-Geschichte versuchte, vor allem aber die beiden Französinnen Mati Diop und Céline Sciamma. Erstere wurde gleich mit ihrem Debüt „Atlantique“ eingeladen und erhielt den Großen Preis der Jury, nicht unverdient, denn sie erzählt auf ambitionierte Weise von der anderen Seite der Flüchtlingsthematik. Nicht die fliehenden Männer stehen bei ihrem in Dakar spielendem Drama im Mittelpunkt, sondern die Frauen, die zurückbleiben und mit der dauernden Ungewissheit umgehen müssen. Während Diop eine Newcomerin ist, deren Film manche Schwächen eines etwas überambitionierten Debütfilms hat, ist Sciamma längst eine etablierte Regisseurin, die nun endlich in den Wettbewerb aufgestiegen ist. Ihr letzter Film „Girlhood“ war noch in einer Nebenreihe gezeigt worden, „Portrait de la jeune fille en feu“ überzeugte nun im Wettbewerb durch seine formal strenge Geschichte einer jungen Porträtmalerin, die im späten 18. Jahrhundert beauftragt wird, eine gleichaltrige Frau zu malen – und sich in das Objekt verliebt.

Um den weiblichen Blick geht es hier, im Gegensatz zum diesjährigen Skandalfilm: „Mektoub, My Love: Intermezzo“ heißt der neue Film von Abdellatif Kechiche, der vor acht Jahren mit „Blau ist eine warme Farbe“ noch die Goldene Palme erhalten hatte. Schon damals waren seine Methoden, mit denen er seine Darstellerinnen filmte, kritisiert worden, nun geht er noch weiter: In dreieinhalb Stunden zeigt er praktisch ohne Handlung junge, schöne Menschen, die erst am Strand von Sète, später in einem Club, reden, tanzen, Sex haben. Enorm intensiv ist das oft, in bemerkenswertem Maße naturalistisch, aber in seiner Obsession mit dem weiblichen Hintern auch ermüdend. Dass die Frauen hier zwar genauso selbstbewusst leben wie die Männer, sich nehmen, worauf sie Lust haben, kann man positiv vermerken, Kechiches absurd sexualisierender Blick untergräbt diesen Eindruck jedoch.

August Diehl ganz groß

Dennoch ist diese einer der wenigen Filme, die experimentieren, die versuchen, aus konventionellen Erzählmustern auszubrechen. So wie es auch ein anderer Altmeister tut: Terrence Malick, dessen „Ein verborgenes Leben“ nach Jahren der Postproduktion endlich fertig war – und atemberaubend ist. Besonders August Diehl beeindruckt als österreichischer Kriegsverweigerer, der während des Zweiten Weltkriegs den Eid auf Hitler verweigert, auch wenn er für diese konsequent moralische Haltung hingerichtet wird. Den Darstellerpreis gab es dafür leider nicht – doch Antonio Banderas, der in Pedro Almodóvars „Leid und Herrlichkeit“ eine Version des Regisseurs spielte, war zu gut, zu vielschichtig, zu berührend, um übersehen zu werden.

Völlig verdient gewann schließlich zum zweiten Mal in Folge ein Film aus Asien die Goldene Palme. Letztes Jahr wurde Hirokazu Kore-Edas Sozialdrama „Shoplifters“ ausgezeichnet, der sich auf sensible Weise mit der zunehmenden sozialen Ungleichheit in Japan beschäftigte. Dasselbe Thema beschäftigt nun auch den Koreaner Bong Joon-ho in „Parasite“, der es jedoch auf ganz andere Weise angeht: Wie in seinen früheren Filmen „The Host“ oder „Snowpiercer“ erweist sich Bong auch hier als kaum zu kategorisierender Filmemacher. Als Satire beginnt sein Film, zeigt wie sich eine vierköpfige Familie aus ärmlichen Verhältnissen nach und nach bei einer reichen Familie einnistet, als Englischlehrer, Fahrer, Hausmädchen arbeitet und endlich am Wohlstand schnuppert. Doch dann beginnt Bong dieses allzu einfache Szenario zu unterlaufen, konfrontiert die Familie mit den Auswüchsen ihres Verhaltens und zieht damit auch dem Zuschauer immer wieder den Boden unter den Füßen weg.

Wie Jury-Präsident Alejandro González Iñárritu betonte, gab es dafür einstimmig den Hauptpreis, was in seiner Eindeutigkeit doch überrascht. Vielleicht aber auch ein Zeichen dafür ist, dass auch in Cannes wirkliche Überraschungen selten geworden sind, dass es sich der internationale Autorenfilm in bestimmten Nischen bequem gemacht hat, sowohl ästhetischen, als auch ideologischen. Skandale sind zwar kein Wert an sich, gelegentliches Schwimmen gegen den Strom, Reibung, Konflikte, würden jedoch auch dem schönsten Filmfestival der Welt gut zu Gesicht stehen.

Preise:

Goldene Palme:
„Parasite“ von Bong Joon-ho

Großer Preis der Jury: „Atlantique“ von Mati Diop

Preis der Jury, ex aequo: „Les Misérables“ von Ladj Li & „Bacurau“ von Kleber Mendonca Filho & Juliano Dornelles

Regiepreis: Jean-Pierre und Luc Dardenne für „La jeune Ahmed“

Drehbuch: Céline Sciamma für „Portrait de la jeune fille en feu“

Schauspieler: Antonio Banderas in „Leid und Herrlichkeit“ von Pedro Almodovar

Schauspielerin: Emily Beecham in „Little Joe“ von Jessica Hausneren“ von Elia Suleiman

Berlin am besten erleben
Dein wöchentlicher Newsletter für Kultur, Genuss und Stadtleben
Newsletter preview on iPad