Konzert

Sängerin Liraz Charhi: „Musik kann den Nahostkonflikt nicht befrieden“

Nahostkonflikt und Popkultur lassen sich in diesen Tagen kaum auseinanderdenken. Die Szenen positionieren sich, es gibt Boykotte in Clubs, Solidaritätsaufrufe bei Konzerten und auf Social Media ist die Hölle los. In dieser Atmosphäre kommt die in Tel Aviv lebende israelisch-persische Sängerin Liraz Charhi am 11. Dezember ins Silent Green nach Berlin.

Die Sängerin und Schauspielerin Liraz Charhin lebt als israelisch-iranische Jüdin in Tel Aviv. Foto: Shai Franco
Die Sängerin und Schauspielerin Liraz Charhin lebt als israelisch-iranische Jüdin in Tel Aviv. Foto: Shai Franco

Von der Tatsache, eine Geschichte zu sein,  sprach kürzlich die US-amerikanische Autorin und Essayistin Siri Hustvedt in dem DLF-Podcast „Being a Story“ und dachte dort über das Narrativ als Basis der menschlichen Identität nach. „Nur weil wir uns in die Welt hineinfantasieren, haben wir die Kraft morgens aufzustehen“, sagte Hustvedt. Die Erinnerungen setzen sich in der Gegenwart, nicht in der Vergangenheit!, zusammen und machen uns zu der Person, die wir sind. Für Liraz Charhi, geboren 1978 in der israelischen Stadt Ramla, sind Geschichten von Herkunft und Identität ein unausweichliches Erbe. 

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Liraz Charhi: Ihre Wurzeln liegen im Iran und in Israel

Ihre Wurzeln liegen im Iran und in Israel, zwei auf den Tod verfeindeten Staaten, und so lebt sie als israelisch-iranische Jüdin in Tel Aviv. Eine Existenz im ständig angespannten Widerspruch, den sie in ihrer Arbeit verarbeitet. Als Schauspielerin und als Musikerin. Schon ihre Großmutter wollte Sängerin werden, was ihr im Iran verwehrt wurde, die Enkelin Liraz wuchs mit den Songs von Kate Bush und Tori Amos auf, emanzipierte sich und machte Karriere.

Zuletzt spielte sie in der israelischen Thrillerserie „Teheran“ eine Mossad-Agentin, ihr aktuelles Album „Roya“ aus dem Jahr 2022 entstand wiederum unter konspirativen Umständen in Istanbul, wo sie bei strengster Geheimhaltung mit iranischen Musikerinnen zusammengearbeitet hat. Das Geburtsland ihrer Eltern, den Iran, darf sie nicht besuchen, doch den Traum von gemeinsamen Aufnahmen mit iranischen Musikerinnen konnte sie sich erfüllen.

Liraz „Roya“ (Official Video)

Traditionelle iranische Tanzmusik, aber auch die iranisch-amerikanische Kultur der Diaspora, die in den 1970ern in die USA emigrierte, ebenso wie klassischer Pop und moderne Produktion flossen zusammen und machten auch außerhalb ihrer Heimat auf sie aufmerksam. Doch es ist nicht nur Erfolg, um den es Liraz geht, sie begreift sich durchaus auch als Aktivistin. „Ich fliege demnächst zu einer großen Frauenveranstaltung nach London. Dort spreche ich mit Müttern – israelischen und iranischen – über die Geschichte der Geiseln in Gaza.“

In diesen Tagen lässt sich der Nahost-Konflikt aus kaum einem Bereich des öffentlichen Lebens wegdenken. Für Liraz ist die Situation in doppelter Hinsicht schwierig. „Ich musste meine Touren aus Sicherheitsgründen absagen. Das war schlimm. Aber ich glaube, dass es sich ändern wird, ich habe Hoffnung und erkläre meinem Publikum, das nicht immer weiß, wie es auf den Krieg reagieren soll, die Situation. Dass wir nicht im Krieg leben wollen, dass ich mit meinen arabischen Freunden in der Altstadt von Jaffa, Tel Aviv, lebe. Wir fühlen uns eins und möchten, dass das auch so bleibt.“ 

Sängerin Liraz: „Ich wünschte, wir könnten unsere Situation, die seit Jahren andauert, genauer erklären“

Sie ist Jüdin, zugleich versteht sie aber die Kritik, die gerade in progressiven und linken Milieus laut wird und wo die Schuld an dem Konflikt einseitig Israel zugeschoben wird. „Ich wünschte, wir könnten unsere Situation, die seit Jahren andauert, genauer erklären. Doch wenn wir nur zurückschauen, wird dieser Krieg niemals enden.“ Liraz begreift sich als Brückenbauerin, als Vermittlerin, die zwischen den Fronten steht, die sich für die Situation der Frauen engagiert und mit ihrer Musik für Frieden und ein Miteinander sorgen will. Dennoch ist auch sie von den Protesten der israelischkritischen BDS-Bewegung betroffen: „Ich verstehe es nicht. Warum ist irgendein Musiker schuld daran, wenn in seinem Land etwas passiert? Ich habe nie verstanden, wie einfach es manchen fällt, jemanden zu verurteilen. Letzten Mai wurde wegen BDS ein Konzert von mir in Belgien abgesagt.“ Es fand dann unter veränderten Bedingungen doch statt und wurde am Ende eine positive Erfahrung. 

Lirazʼ Musik könnte als Soundtrack der Verständigung dienen. Ihr erstes Album war ein rebellischer Versuch, mit dem Farsi-Ausdruck „Naz“, der für „höflich sein“, beziehungsweise „ein ­gutes Mädchen sein“ steht, zu spielen. Das Album wurde im Iran ein kleiner Hit, und während der Proteste iranischer Frauen sah man in den sozialen Medien Videos, wie zu ihren Liedern getanzt wurde. Sie singt in Farsi mit einem hebräischen Akzent, sie schöpft aus den Harmonien ihrer alten Heimat, verbindet, vermengt, vermischt und bringt die Emotionen in die Gegenwart, wenn etwa in traditionellen Balladen feministische Forderungen nach Veränderung der gesellschaftlichen mitschwingen.

Liraz: „This is my story, my culture clash“

„This is my story, my culture clash“, sagt sie und ist stolz darauf, aus ihrer Geschichte, Musik geformt zu haben. Naiv ist sie nicht, dafür ist der Alltag in Israel zu ernüchternd, aber doch hoffnungsvoll. „Musik kann den Konflikt nicht befrieden, aber was kann Musik tun? Ich denke, dass Musik die Wahrnehmung von Konflikten verändert, sie öffnet den Geist der Menschen. Durch das Abschälen der angelernten und von unseren Familien vererbten Sichtweisen, mit denen wir aufwachsen und die uns einschließen, öffnet sich auch das Herz.“ 

Obwohl Liraz bei den Massakern der Hamas vom 7. Oktober 2023 fünf Familienmitglieder im Kibbuz Be’eri verloren hat, verbittert sie nicht und bleibt trotz aller Probleme, der Gefahr und der Umstände, die sie als international anerkannte Musikerin hat, in Israel. „Die Situation ist wirklich verheerend, doch wir müssen jetzt zusammenhalten“, sagt sie. Zusammen, nicht gegeneinander: „Normalerweise singe ich Protestlieder über die Rechte der Frauen im Iran und über die Unterdrückung. Plötzlich wurden die Texte für diesen Krieg relevant. Früher schwenkte ich die iranische Flagge für die Freiheit der Frauen. Heute habe ich aber das Gefühl, dass es keine Flagge mehr gibt, die meinem Gefühl entspricht. Ich wünschte, es gäbe in keinem Land mehr eine Flagge.“

  • Silent Green Kulturquartier (Betonhalle), Gerichtstr. 35, Wedding, Mo 11.12., 20 Uhr, VVK: 25,40 €, weitere Infos und Tickets hier

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