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TikTok-Stars aus Berlin: Die Musikszene und das Videoportal

TikTok beeinflusst weltweit die Charts. Doch wie wirkt sich das Videoportal auf die Berliner Musikszene aus und was bedeutet es für junge Musiker:innen, sich dort zu präsentieren? Wir haben uns mit den Berliner TikTok-Stars Pablo Brooks, CCOSMO, Cloudy June und Marisabelle getroffen, um es zu erfahren.

Romantisierte Bilder des Verlorenseins: CCOSMO (links), Cloudy June (Mitte) ist auch ein Star der Berliner TikTok-Generation
Romantisierte Bilder des Verlorenseins: CCOSMO (links), Cloudy June (Mitte) ist auch ein Star der Berliner TikTok-Generation

Berliner TikTok-Szene: Hier geht es nicht nur darum, einen Post abzusetzen

Je schneller, desto besser! So scheint es zumindest, wenn Menschen über 24 TikTok-Videos sehen. Der Einfluss des sozialen Netzwerks von ByteDance schlägt vor allem in der Musikindustrie große Wellen, denn im Gegensatz zu Instagram oder Facebook spielt hier die Verflechtung von Bild und Ton eine zentrale Rolle. So haben Karaokevideos und Tanzchallenges dafür gesorgt, dass Künstler:innen wie Lil Nas X oder Nathan Evans mit seinem Sea Shanty „Wellerman“ groß rauskamen. Auf TikTok geht es nicht bloß darum, einen Post abzusetzen, sondern darum, andere zum Mitmachen zu inspirieren. 

Prätentiöses Gepoche auf geistiges Eigentum ist hier fehl am Platz, denn den großen Erfolg gibt es erst durch die Weiterverwendung eines Sounds. Ein junges Beispiel ist Newcomer Mayberg, dessen Zeilen „Ich bin dankbar, dass mein Leben mir zum Leben reicht“ für viele der perfekte Soundtrack zum Jahreswechsel war und sich viral verbreitete. Dabei spielt der Algorithmus von TikTok eine wichtige Rolle, da die „For you Page“ das Herzstück der App ist.

Es geht weniger darum, sein eigenes Netzwerk zu bilden oder Personen zu folgen. Viel eher wird einem beim Öffnen der App ein individuell zusammengestelltes Potpourri an Videos gezeigt, das es immer wieder schafft, die individuellen Vorlieben punktgenau auszulesen. Ein geleaktes Dokument mit dem Titel „TikTok Algo 101“ hat im Dezember vergangenen Jahres gezeigt, dass der Empfehlungsmechanismus allerdings auf ähnlichen Parametern beruht wie die der Konkurrenz. Im Zentrum stehen: Likes, Kommentare, Abspielzeiten und Wiederholungen.

TikTok-Stars aus Berlin: CCOSMO – Nie Passiert

So gesehen nichts Neues. Trotzdem werden auf TikTok Blasen viel stärker ausdefiniert und ehe man sich versieht, landet man in den kleinsten Nischen und findet Gleichgesinnte in den abgelegensten Ecken. Doch wie setzen sich Musiker:innen auf der Plattform durch, wie gehen sie mit dem Medium um und wie beeinflusst es das Songwriting tatsächlich? Wir haben uns mit den jungen Berliner Musiker:innen Pablo Brooks, CCOSMO, Cloudy June und Marisabelle getroffen, um aus erster Hand zu erfahren, was an diesem ominösen „TikTok-Moment“ dran ist. 

Konkret heißt das, beinahe jeden Tag ein Video hochzuladen

Mit gerade einmal 20 Jahren spielt Pablo Brooks momentan seine zweite Headline Tour. Das steht aktuell auf seinem Profil auch klar im Zentrum und während zahlreiche Newcomer im Moment stark mit der Eventbranche kämpfen, scheinen sich die Clubs, die Brooks bespielt, gut zu füllen. Sein Musikstil: Songs, zu denen man tanzen und weinen kann oder „einfach nur gute Popmusik, die sich bunt und emotional anfühlt“, wie er es selbst ausdrückt. Und genau das teilt er formatgerecht auf TikTok. Konkret heißt das, beinahe jeden Tag ein Video hochzuladen, in denen Pablo Brooks zum Teil wie ein Verrückter durchs Zimmer springt und seine Songs mitsingt. „Day 868 of dancing very insanely to my new song everyday until it blows up“, steht darunter in der Beschreibung. 

Er setzt darauf, dass er bei vielen Leuten auf der „For you Page“ erscheinen wird und betitelt Videos von seinem jubelnden Publikum mit „ur sign to buy the 20€ tickets to see the artist you’ve never heard of before“. Seine junge Zielgruppe stellt ihre Energie und Tanzfreude Abend für Abend unter Beweis. Die Kombination aus der eigenen Musik und den ansprechenden Bildern zieht scheinbar mehr als die kostspieligen Plakate entlang der Revaler Straße. Der Erfolg, den sich Pablo Brooks damit erarbeitet, ermöglicht ihm momentan sogar auf ein Label zu verzichten. „Ich finde es schön, unabhängig sein zu können. Durch Social Media kann ich meine Zielgruppe sehr viel schneller und direkter ansprechen und selbst entscheiden, was ich mit der Öffentlichkeit teilen möchte und was nicht.“ Seine Musik spielt dabei immer wieder mit romantisierten Bildern des Verlorenseins, Motive, die sich über Generationen hinweg in der Popkultur etabliert haben. 

TikTok-Stars aus Berlin: Pablo Brooks – Perfume

Auch CCOSMO spielt mit diesen Gefühlen und spricht viel über die Unsicherheit, die sich in den frühen Zwanzigern als Grundkanon einstellt. Ein Gefühl, zwei sehr unterschiedliche Ausspielungen. Dabei setzt keiner auf Tänze oder Choreografien, sondern ganz auf das Gefühl. CCOSMO hat im Plattenladen seines Opas gestartet. Ganz analog machte er den Einstieg durch das Spielen mit ersten Samples am Plattenteller. Später baute er Beats für seine Kumpels, bis er es 2020 schließlich wagte, einen Song zu schreiben und aufzunehmen. CCOSMO lebt deutschen Pop, geht in der Sprache auf und bringt frische Einflüsse aus der Bedroompop-Szene in die hiesige Musiklandschaft. Dabei klingt er melancholisch und sehnsüchtig. Dass er sein Publikum gerade auf TikTok gefunden hat, ist kein Zufall. 

TikTok hat mehr Platz für Melancholie

„Ich habe mich ganz bewusst für TikTok entschieden, weil es dort mehr Platz für Melancholie gibt. Auf Instagram ist alles immer schön und strahlend, das passt nicht zu meiner Musik und auch nicht zu mir.“ Aus jedem Song pickt sich der Musiker einen kurzen Vers raus, das ist mal das Intro, mal die Bridge oder die Sekunden vor dem krachenden Refrain. „Man darf TikTok einfach nicht zu ernst nehmen, sondern muss ein bisschen rumprobieren und Spaß haben. Es braucht oft ein paar Anläufe, bis man genau die Stelle in einem Song gefunden hat, bei der alles zusammenkommt.“

Bei seiner aktuellen Single „Nähe/Distanz“ hat er den Nagel allerdings direkt auf den Kopf getroffen. Seit mehreren Wochen postet CCOSMO dieselben Sekunden wieder und wieder. Mal singt er sie in der Küche, mal lümmelt er auf einem Stuhl in seiner Wohnung in Prenzlauer Berg. Nach drei Videos haben sich die Zeilen spätestens eingebrannt und ebenso brennend ist der Wunsch zu wissen, wie die Hook, die da immer wieder angedeutet wird, denn nun weitergeht. Seine Fans können es kaum aushalten. In den Kommentarspalten wird regelrecht darum gebettelt, dass er endlich den vollen Titel veröffentlicht.

Die Musikkarriere startete sie Hand in Hand mit ihrem TikTok-Kanal

Weniger teasend geht Cloudy June auf ihrem Kanal vor. Sie versteht sich darauf, ihre Texte in die Kamera aufzusagen und den Humor ihrer Zeilen die meiste Arbeit machen zu lassen. Ihre Musik ist astreine Popmusik mit eingestreuten Anspielungen auf Punk, Metal und Rock. Die Musikkarriere startete sie Hand in Hand mit ihrem TikTok-Kanal. Schon nach wenigen Anläufen erzielte sie die ersten Erfolge auf der Plattform. „Ich konnte durch TikTok schnell herausfinden, welche Seite ich von mir zeigen möchte und gleichzeitig, was die Leute interessant finden“, erzählt Cloudy June. Obwohl sie gerade erst mit ihrer Karriere an den Start gegangen ist, hat sie ein lupenreines Profil und eine klare Ästhetik. Bei der jungen Berlinerin zeigt sich der Einfluss von TikTok besonders in ihren Texten, die einen durchaus sexualisierten Humor haben. 

TikTok-Stars aus Berlin: Cloudy June – FU In My Head

Ihr meist-gehörter Titel heißt „FU in My Head“. Offenheit als Stilmittel, Zeilen über Masturbation als Ausdruck. „Es hilft meiner Kreativität total, darüber nachzudenken, wie ich Dinge noch klarer ausdrücken kann. Der Gedanke ‚Würde diese Zeile auf TikTok funktionieren?‘, hat meine Arbeit geschärft und stellt mich vor Herausforderungen.“ Cloudy June zeigt, dass das Netzwerk nicht nur von Kids genutzt wird, sondern auch von (queeren) Frauen, die ihre Sexualität entdecken. Je deutlicher, desto besser; je klarer, desto witziger. Dafür liefert sie den perfekten Soundtrack und gibt ein reflektiertes Bild ab, das man sich bei dem stark sexualisierten Pop der 2000er nur hätte erträumen können. 

Vlogs, Comedy & Mental Health-Themen

Marisabelle ist in einem ähnlichen Kreis unterwegs: Auch sie ist queer; lesbisch, um genau zu sein, und auch auf ihrem Kanal spielt das eine große Rolle. Auf ihrer Seite mischen sich kleine Vlogs, Comedy und Mental Health-Themen mit einfühlsamen Gesangsaufnahmen an dem Klavier, das sie auf Kleinanzeigen umsonst geschossen hat. In einem ihrer klickstärksten Videos schaut sie mit neutraler Mine ins Nichts, über ihr das Word ‚men‘, dazu läuft das Intro des Liedes „Candy­shop“. Mit dem Einsetzen des Beats ergänzt sie das Wort um die Vorsilbe ‚ra‘ woraufhin sie lächelnd anfängt zu tanzen. Japanische Nudelsuppe (Ramen) gegen Männer (Men). In Acht Sekunden hat sie den Humor dieses Kosmos’ perfekt auf den Punkt gebracht. Gleichzeitig versucht Marisabelle, ihre Musik stärker in den Vordergrund zu stellen.

„Es ist manchmal einfacher, sich hinter Videotrends zu verstecken“

„Es ist manchmal einfacher, sich hinter Videotrends zu verstecken, als diese persönlichen Zeilen direkt in die Kamera zu sprechen“, erklärt sie, „die meisten Texte nehme ich direkt aus meinem Tagebuch“. Marisabelle macht Pop mit wilden Gitarren und starken Drums. Ihre Community folgt ihr nicht nur auf TikTok und Streamingplattformen, sondern ist auch auf Konzerten und auf der Straße am Start: „Auf dem Kölner CSD sind viele Menschen auf mich zugekommen, die Fotos mit mir machen wollten oder sogar angefangen haben, mein Lied zu singen.“ Szenen davon sind auch in ihrem Musikvideo „Zu Hause“ zu sehen und zeigen, wie stark der Zusammenhalt ist. 

Kaum ein anderes Netzwerk hat so sehr dazu beigetragen, dass sich insbesondere junge Queers untereinander finden, ihre eigene Sprache und Ästhetik teilen und einen eigenen Humor entwickeln. Damit machen sich Protagonistinnen wie Marisabelle und Cloudy June auch angreifbar, denn TikTok wird häufig vorgeworfen, weniger streng gegen Hasskommentare vorzugehen. Das Problem scheint allerdings durch den starken Eingriff des Algorithmus weniger präsent.

TikTok-Stars aus Berlin: Marisabelle – Zuhause

„Es gab einen Kommentar zu meinem Song „Niemals“, der echt weh tat. Da hat meine Community aber total schnell reagiert und sich für mich stark gemacht“, erklärt Marisabelle und auch Cloudy June teilt diese Erfahrung: „Auf TikTok werden meine Videos vorrangig von queeren und/oder feministischen Menschen gesehen. Dass ein Video mit einer starken Meinung oder einem polarisierenden Moment in der entgegengesetzten Blase ankommt und eine Welle aus Hass kommt, ist mir bisher nur auf Instagram passiert. Songs wie „Devil Is A Woman“ wurde dort von vielen religiösen Menschen kommentiert.“

TikTok und Berlin: Das Phänomen beeinflusst eine ganze Generation

TikTok beeinflusst eine ganze Generation an jungen Musiker:innen und dennoch zeigt der individuelle Umgang mit dem Medium, dass der TikTok-Moment ein Mythos wie die ominöse Radiorezeptur bleibt. In einem Punkt sind sich aber alle einig: Man kann nie vorher wissen, was funktionieren wird. Dass sich mit der Macht der Fünfzehnsekünder auch das Songwriting verändert, scheint auf den ersten Blick vielleicht drastisch, doch ist es nichts Neues, dass es in der Popmusik verschiedene Songversionen gibt, die auf ein bestimmtes Medium zugeschnitten sind. So gibt es von Singles oft Radio- oder Clubversionen und nun eben auch die fünfzehn Sekunden, die auf TikTok laufen. Mit einem Blick auf die Diversität der vergangen Musiktrends und ihre Protagonist:innen, muss man nicht fürchten, dass durch den TikTok-Effekt die Musik in irgendeiner Form ihren Reiz verliert. 

Text: Rosalie Ernst und Talja Blumenthal (Mitarbeit)

Cloudy June Lido, Cuvrystraße 7, Kreuzberg, Fr 31.3., 20 Uhr, mehr Informationen siehe hier


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