Interview

Christin Nichols: „Ich will nie berühmt werden, bitte!“

Es ist einer der ersten warmen Nachmittage in Berlin, vor wenigen Tagen ist Christin Nichols‘ neues Album „Rette sich wer kann!“ erschienen. Die deutsch-britische Musikerin ist entspannt und gut gelaunt. Im Interview mit tipBerlin-Redakteurin Marit Blossey erzählt sie, warum sie auf dem Album gegen Sexismus laut wird, weshalb ein Song nach einem Antidepressivum benannt ist, und warum sie Facebook-Kommentarspalten und TikTok nichts abgewinnen kann.

Christin Nichols steht für die richtigen Sachen ein. Foto: Stefanie Schmid Rincon

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tipBerlin Christin, dein zweites Soloalbum, „Rette sich wer kann!“, ist gerade erschienen. Wie fühlst du dich?

Christin Nichols Es ist total überwältigend! Ich freue mich sehr, dass das Album so gut ankommt und dass ich Leute mit dem abhole, was ich mache. Das ist natürlich toll.

tipBerlin Die Single „Bodycount“ thematisiert Sexismus und sexualisierte Gewalt. Dabei ist ziemlich eindeutig herauszulesen, dass du dich im Text auf die Vorwürfe beziehst, die im vergangenen Jahr gegen eine sehr erfolgreiche deutsche Band laut wurden. Wie ist der Song entstanden?

Christin Nichols Ich war an dem Tag einfach wütend. Die besagte Band, die ich hier gar nicht nennen möchte, hatte da wieder irgendeinen Skandal, und ich war dem so überdrüssig. Dann ist der Song ziemlich schnell entstanden, ich habe ihn einfach so runtergeschrieben.

tipBerlin Gab es auf den Song auch negative Reaktionen – etwa von den Fans besagter Band?

Christin Nichols Auf Facebook hat ein Magazin ein Foto von mir und einen Textauszug aus „Bodycount“ zu der Doku, die gerade über diese Band läuft, gepostet. Die Kommentarspalte war der Wahnsinn. Da wird es so schnell extrem persönlich und geht gar nicht mehr ums Thema. Ich habe mir das kurz angeschaut und dann sofort das Handy wieder weggelegt. Ich will nie berühmt werden, bitte! Das muss ja ein Albtraum sein!

Jeder, der eine Haltung hat und so privilegiert ist, sie aussprechen zu können, sollte das auch tun.

Christin Nichols, Musikerin

tipBerlin Gesellschaftliche oder politische Themen tauchen immer wieder in deinen Songs auf. Betrachtest du Songwriting auch als eine Art Aktivismus?

Christin Nichols Ich verarbeite in meiner Musik immer Themen, die unmittelbar mit meinem Leben zu tun haben. Das sind automatisch auch Themen, die etwas mit der Gesellschaft zu tun haben. Ich weiß nicht, ob ich deswegen Aktivistin bin. Aber ich finde, jeder, der eine Haltung hat und so privilegiert ist, sie aussprechen zu können, sollte das auch tun. Wenn man für andere einstehen kann, auf Themen aufmerksam machen oder ein Bewusstsein für Ungerechtigkeiten schaffen kann, sollte man das tun. Nichts zu tun ist schließlich auch ein politisches Statement. Passiv zu sein ist immer ein Ja zur aktuellen Situation.

tipBerlin In welchem Moment entscheidest du, ob aus einem Gedanken ein Song wird?

Christin Nichols Wenn ich es mir direkt aufschreibe, oder mir direkt ein Satz dazu einfällt – zu einem Gefühl, einer Situation, wenn ich etwas lese, etwas, was mich stört oder was ich schön finde, was ich irgendwie kanalisieren muss.

Christin Nichols: „Von seelenloser Musik werde ich traurig – egal welches Genre“

tipBerlin Gerade auf deinem neuen Album spielt auch das Thema mentale Gesundheit immer wieder eine Rolle – zum Beispiel in dem Song „Citalopram“, der nach einem Antidepressivum betitelt ist. Was ist die Geschichte dahinter?

Christin Nichols Ich fand das irgendwie lustig. Ich wollte keinen traurigen Song zu dem Thema machen. Ich kann selber unheimlich schlecht traurige Musik hören. Auch wenn die toll gemacht ist und ich Leute bewundere, die das können, höre ich mir das privat nicht so gerne an. Vielleicht weil es mich eher noch mehr runterzieht, wenn es mir schlecht geht. Wobei ich auch von seelenloser Musik traurig werde – egal welches Genre (lacht). Bei „Citralopram“ dachte ich jedenfalls, das muss einfach klingen wie ein schöner, lustiger Happy-Song. Dieser Kontrast macht es für mich interessant. Außerdem: Auch wenn Tage nicht gut laufen, gibt’s ja vielleicht immer noch einen winzig kleinen Moment, in dem doch etwas schön war.

tipBerlin Hat der Song dir geholfen, deine eigenen Erfahrungen zu verarbeiten?

Christin Nichols Ich lag damals da und konnte nicht aufstehen, es ging gar nichts mehr. In genau so einem Moment habe ich den Text geschrieben. Mittlerweile geht’s mir gut und ich nehme aktuell auch keine Medikamente mehr, aber ich finde es einfach wichtig, das zu entstigmatisieren und zu zeigen: Es geht so vielen so. Man muss drüber reden, dann ist man weniger allein. Der Song ist wirklich aus so einem Moment heraus entstanden – und jetzt macht es mir so viel Spaß, den Song live zu spielen! Wir haben alle Phasen, in denen es dunkel ist, aber es geht immer irgendwie wieder bergauf. Wir kriegen das hin. Ich muss mir das selbst immer wieder sagen, und wenn wir uns das alle gegenseitig sagen, geht’s leichter!

Natürlich ist es toll, wenn dann jemand seine Schachtel Citalopram zum Signieren mitbringt.

Christin Nichols, Musikerin

tipBerlin Wenn du so einen persönlichen Song vor Publikum spielst, denkst du dann darüber nach, ob es anderen Leuten hilft, sich weniger allein zu fühlen?

Christin Nichols Beim Schreiben denke ich daran nicht unbedingt. Im ersten Moment geht es wirklich nur darum, diesen Text aus mir rausfließen zu lassen. Aber natürlich ist es toll, wenn dann zum Beispiel jemand nach einem Konzert am Merch-Stand zu mir kommt und seine Schachtel Citalopram zum Signieren mitgebracht hat. Dann denke ich: That’s what I’m doing this shit for! Ich kriege jetzt noch Gänsehaut, wenn ich daran denke.

tipBerlin Du bist halb Deutsche, halb Britin und zweisprachig aufgewachsen. Deine Songs schreibst du sowohl auf Deutsch als auch auf Englisch. Wie entscheidest du, ob es ein deutscher oder englischer Text wird?

Christin Nichols Ich plane das nicht. Ich muss dich enttäuschen, ich plane gar nichts! (lacht)

tipBerlin Gibt es denn für dich einen Unterschied beim Schreiben?

Christin Nichols Deutsch ist unmittelbarer, da hast du sofort eine Botschaft. Leute hören anders zu und achten mehr auf den Text. Englisch läuft eher so ein bisschen mit, Deutsch ist direkter. Aber das passiert bei mir alles nach Gefühl. Ich wünschte, ich könnte genauer sagen, was da in meinem Kopf abgeht, aber ich weiß es gar nicht!

Christin Nichols im Interview: „Ich bin mein eigener Boss“

tipBerlin Hat dir in der Branche schon mal jemand gesagt, es wäre besser, wenn du dich für eine Sprache entscheidest?

Christin Nichols Nee, ich bin da ganz mein eigener Boss. Das ist mir total fremd, dieses „Mach mal so“ oder „Sei mal so“. Ich glaube, das könnte ich auch gar nicht. Das einzige, was die Leute mir sagen, ist: Poste doch mal was auf TikTok! (lacht)

tipBerlin Am 14. April spielst du eine Album-Release-Show im Frannz Club. Fatoni wird auch da sein, er ist Feature-Gast auf dem Titelsong deines Albums und ein guter Freund von dir. Wie habt ihr euch kennengelernt?

Christin Nichols Alles fing 2012 beim Schauspielschultreffen in Wien an, wir waren damals beide auf der Schauspielschule, er in München und ich in Berlin. Seitdem sind wir befreundet und wollten schon ewig zusammenarbeiten, aber irgendwie ist nie was draus geworden. Wir wollten auch immer schon zusammen Geburtstag feiern, er hat am 8. Dezember, ich am 9., wir kriegen es einfach nie hin – aber wir denken immer aneinander (lacht). Naja, jedenfalls saßen wir letzten Sommer zusammen und dachten, es ist langsam überfällig. Dann sind wir zusammen ins Studio und haben überlegt: Was verbindet uns? Angst. So. Dann war der Song auch super schnell fertig. Und der Videodreh war sehr lustig mit ihm.

tipBerlin Gibt es Künstler:innen, die dich besonders inspirieren?

Christin Nichols Mich beeindrucken Menschen, die für etwas einstehen. Ich liebe Peaches über alles, ich war riesiger Fan von Sinead O’Connor, bin es immer noch. Oder Boygenius, beste! Ich bin immer inspiriert von Menschen, die nicht aufgeben und sich immer wieder fürs Leben entscheiden.

  • Album-Releaseshow mit Fatoni im Frannz Club, Schönhauser Allee 36, Prenzlauer Berg, Samstag 14.04.24, 20 Uhr, Infos und Tickets hier

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