Das Berliner Album der Woche ist für viele ja sowieso „Hell“ von den Ärzten, nein, von Die Ärzte, wie der korrekte Fan sagt. Aber nicht nur Die Ärzte, nein, auch andere Berliner verstehen die Kunst, zu kurieren; der Berliner Techno-Veteran CRSZPL etwa auf seiner neuen EP. Oder die Berlinerin Kenichi & The Sun. Und dann hauen auch noch Legenden wie Tom Petty (möge er in Frieden ruhen!) und Bruce Springsteen an ein- und demselben Tag ihre neuen Scheiben raus. So lassen wir uns das Schmuddelwetter über Berlin gefallen.
Adrianne Lenker: „Songs + Instrumentals“ (4AD / Beggars)
Indie-Folk Googelt mal „Stages Of The Sun“, Adrianne Lenkers erstes Soloalbum aus dem Jahr 2006, und schaut euch den polierten Covershot an. Lenker war damals 13 Jahre alt, und man ahnt, dass man die Musikerin aus Indianapolis auch als Folk- oder Radiorockstar fürs Massenpublikum hätte verheizen können. Hätte. Denn Lenker hat sich dafür entschieden, lieber Sängerin von Big Thief zu werden, der gerade wohl größten kleinen Band der Welt.
Nachdem die im vergangenen Jahr mit „U.F.O.F.“ und „Two Hands“ gleich zwei Meisterklassealben veröffentlicht haben, holt Lenker nun zum nächsten Doppelschlag aus: In der Abgeschiedenheit der Berge von Massachusetts hat sie mit „Songs“ und „Instrumentals“ zwei Solo-LPs aufgenommen, eine mit Songs, eine mit, nunja, Instrumentals. Die Einsiedlernummer soll sie dabei so konsequent durchgezogen haben, dass wirklich alles an diesen Aufnahmen analog ist, beteuert das Label.
Aber im Ernst: Lenker könnte auch mit einem Tacker und einem Eierschneider ein Indie-Songwriter-Wunderalbum aufnehmen.
Denn in gewisser Weise erinnert ihre Stimme an die von Connor Oberst, auf dessen Label Saddle Creek sie passenderweise schon veröffentlicht hat: Wie auch er singt Lenker mit einer Verletzlich- und Durchlässigkeit, die jederzeit zu großem Furor mutieren kann (und wieder zurück). Auf „Songs“ bleibt sie, wie auch auf ihrem letzten Soloalbum „abysskiss“ von 2018, ganz dem dezenten, intimen Akustikgitarrensound verhaftet – nur, dass der heute weniger dunkel, dafür morgenfrischer klingt als auf dem Solo-Vorgänger.
Lenkers Melodien scheinen aus einer anderen Zeit zu kommen, aus einer Vergangenheit, in der man selbst noch roher und erschütterbarer war, und das ist so bewegend wie gerade selten in Indieworld. Zum Tränchenwegwischen dann die meditativen „Instrumentals“ hören! Und der Welt danken, dass Lenker kein Formatradiosternchen geworden ist. (Julia Lorenz)
CRSZPL: „Petrichor / Hiraeth EP“ (KAYOON Records)
Melodic House Mit knapp über 120 beats per minute kommt der Berliner Chris Zippel (aka CRSZPL) dem menschlichen Herzschlag so nah, dass es heavy resoniert auf seiner neuen drei Tracks starken EP. CRSZPL, der, man darf es wohl inzwischen sagen, Veteran, noch aus der ersten Welle des Berliner Techno, aus den 1990ern, hat es einfach drauf, cool, aber niemals unterkühlt zu klingen. Großes Kunststück, schmaler Grat. „Petrichor“, der Opener, handelt mit warmem Synthie-Arpeggio, vom magisch wohltuenden Duft, der sich durch Stein und Erde einstellt, wenn das Donnerwetter und der Regenguss vorbei sind. Sanfter als jeder Eukalyptus. Eine Katharsis, die uns in Berlin ja noch mal extragut tut.
In „Hiraeth“, noch stärker von warmen Melodien getrieben, geht es um das bittersüße Heimweh nach einem Ort, der sich niemals mehr erreichen lässt – oder der womöglich auch noch nie zuvor erreichbar war. Einen zweiten Mix von „Petrichor“ hat CRSZPL, der auch schon die Pet Shop Boys produziert hat, mit dem Berliner Fotografiekünstler Yoram Roth erarbeitet.
Die beiden haben eine ausgeprägte Soundsensibilität füreinander, haben sie doch in den 1990ern schon zusammen das Berliner Techno-Label D’Vision Records geschmissen. Alte Weggefährten also. Zwischen im besten Sinn Enya’esken Ambient-Wiesen und stärker beatgetriebenem Melodic House ist der Mix eine toller Track für, nein, nicht den Tanz auf dem Vulkan, sondern für die After-Rain-Hour. Heilsam. (Stefan Hochgesand)
Disclaimer: Yoram Roth ist auch Mitinhaber von GCM Go City Media, dem Verlag, in dem tipBerlin erscheint, Anm. d. Red.
James Blake: „Before EP“ (Republic / Polydor / Universal)
Avant-Dance Der körperliche Druck treibender Basslines, und das Fiepen im Ohr, wenn man noch halb im Rausch der Musik aus dem Club in die Stille der Nacht hinausstolpert – mittlerweile ist es über sechs Monate her, seit die Clubs größtenteils geschlossen sind. Und auch James Blake, jahrelang als „Sadboy” der kontemporären Musik gelabelt, scheint sie zu vermissen. Zumindest lässt er genau diese Sounds auf seiner EP wieder aufleben, die teils noch vor und teils schon während des Lockdowns entstand. Nur vier Songs ist “Before” lang, aber trotzdem markiert die kurze Veröffentlichung ein neues Kapitel im Output von Blake.
Mit seinem letzten Album, “Assume Form” aus 2019, trat der Brite ja schon ins Licht. Und vielleicht ist “Before” ja auch eine logische Weiterentwicklung eben dieses Formannehmens: er kehrt zurück zum Clubsound seiner Anfänge als DJ, aber ist mittlerweile selbstbewusst genug, sie mit seiner Stimme zu kombinieren. Und das Ergebnis? Die gelungene Synthese aus post-modernen Balladen (Summer of Now) und Quarantäne-Clubbing (Before), aus Melancholie über all die Nächte, die nicht waren und der Hoffnung, dass wir trotzdem weitertanzen, irgendwie. Und wenn es nur in unseren Wohnzimmern ist. (Aida Baghernejad)
Kenichi & The Sun: „White Fire“ (Radical Amazement / Stratosphere)
Sci-Fi-Gospel Die Berlinerin Katrin Hahner alias Miss Kenichi klingt etwa so als würden sich M.I.A., Ibeyi, Tori Amos (aber nicht die pianoballadeske, sondern die wildere) und Björk in der Zukunft gemeinsam zum Yoga treffen. Und zwar sowohl in der meditativen als auch in der Power-Spielart. Beats und Bläser-Einwürfe, sphärisch-jazzige Vocals. Die Platte arbeitet sich an Todeserfahrungen ab. Und tatsächlich fühlt sie sich sehr dringlich und wahnsinnig intensiv an. (Stefan Hochgesand)
The Mountain Goats: „Getting Into Knives“ (Merge / Cargo)
Indie Wer seinen oder ihren Kindern erzählen will, was dieses Lo-Fi eigentlich einmal war und wie in einem Wohnheimzimmer ganze Alben aufgenommen wurden, als dazu noch kein MacBook genügte, sollte „Sweden“ von den Mountain Goats hören. Das Album mit dem charakteristischen Kassettenrekorderknacken und diesem unglaublich dringlichen John Darnielle an Akustikgitarre und Erzählstimme. 1995 war das.
Heute kann jedes iPhone HiFi. Und die Mountain Goats sind für ihr zwanzigstes Album (von denen längst nicht alle klassische Studioalben waren, noch den großartig unmittelbaren Vorgänger „Songs For Pierre Chuvin“ aus dem Frühjahr hatte Darnielle ja wieder alleine im Wohnzimmer aufgenommen) in die legendären Sam Phillips Studios ins legendäre Memphis gereist, im Gepäck eine shuffelnde Snaredrum, northern-soulige Bläsersätze und überhaupt sehr viel Wissen um dieses Pop-Rock-Ding als dessen Antithese John Darnielle doch einmal Kassettenrekoderplatten aufgenommen hatte. Immerhin: Mit „Picture my Dress“ einen wunderschönen, roadmovieesken Hit. Und als Kassette ist dieses Album auch wieder erhältlich. (Clemens Niedenthal)
Ela Minus: „Acts Of Rebellion“ (Domino / Goodtogo)
Vocal-Electro Gabriela Jimeno ist ein elektronisches Hardware-Orchester. Ihre Regeln: nur analoge Instrumente. Und wenn sie einen Synthesizer drei Monate lang nicht verwendet, kommt der weg. Sie begann einst als Hardcore-Schlagzeugerin. Sie hat Jazz-Schlagwerk studiert. Dann haben Kraftwerk ihr Leben verändert. Nun macht sie exzellenten Electro, der ob seiner starken Vocals an Austra und ob seines meditativen Funkelns an Pantha Du Prince gemahnt. Tolles Debüt! (Stefan Hochgesand)
Bruce Springsteen: „Letter To You“ (Columbia / Sony)
Rock Ein Bruce Springsteen (71) whatsappt nicht. Er schreibt Briefe. Wie früher. Briefe an die Fans, an alte Zeiten. An die erste Band, mit der er auf der Bühne stand, The Castiles. Und Briefe an die Toten, die durch die Träume ziehen, „for death is not the end“ („I’ll See You In My Deams“). Der Frontman der Castiles, George Theiss. Und Danny Federici, Clarence Clemons, die legendären E-Street-Band-Kämpfen. Sie fehlen immer noch. Und die gute alte E Street Band, oder was von ihr übrig ist, endlich wieder gemeinsam mit Springsteen im Studio, klingt so kraftvoll, so wahrhaftig wie lange nicht: laute Gitarren, perlende Piano-Intros, mächtige Drums, Glockenspiel, Mundharmonika-Solos – „still set on 10 to burn this house down“ („Ghosts).
Binnen vier Tagen spielte die Band den Löwenanteil der 12 Songs live ein, fast ohne Overdubs, ein zeitgleich auf Apple TV veröffentlichter Doku-Film zeigt alte Herrschaften in bester Spiellaune. In einem Interview mit Zane Lowe von Apple Music sagt Springsteen: „Es war das erste Ding, als ich sehr schnell mit einigen Songs ankam und sagte: Nun, die smarteste Sache wäre, keine Demos von den Songs zu machen, die Band reinkommen zu lassen und just wash straight into them.“ Und wir reden hier von einem Perfektionisten, der ein halbes Jahr an „Born To Run“ feilte. Also: an dem Song, nicht dem Album.
Nach „Western Stars“ (2019) ist „Letter To You“ das zweite Album in Folge, das Ron Aniello famos und genau richtig produzierte (bei Springsteen-Alben keine Selbstverständlichkeit), das best-klingende Studioalbum mit der E Street Band seit „Born in the U.S.A“ von 1984. Was den neuen Songs teils fehlt, liefern drei fast 50 Jahre alte, überaus wortgewaltige und dylanesken Stücke, von denen bislang nur „Song For Orphans“ in einer Solo-Live-Version von 2005 offiziell veröffentlicht wurde: die ganz großen Refrains. Und wie sich die E Street Band in die alten Stücke wirft, sie sich zueigen macht, besonders „If I Was The Priest“, ist von grandioser, erstaunlicher Wucht. Und Bruce Springsteen, der zuletzt bei seiner Broadway-Show und einem Live-Konzert-Film mit den „Western Stars“-Songs schon sehr alt klang, klingt plötzlich zehn Jahre jünger, ist mit voller Stimmkraft zurück. Er singt, als ginge es um sein Leben. Und so ist es ja auch. (Erik Heier)
Kadavar: Isolation Tapes (Roboter Records)
Psych-Rock Ja, so allein in der Corona-Einsamkeit kann man schon mal durchdrehen. Mit den „Isolation Tapes“ wird aus dem Hardrock-Trio Kadavar endgültig eine psychedelische Rockband. Eben noch klang das Berliner Trio, als wolle es bloß einen Kasten Bier vertilgen und auf der Harley sitzen. Nun hört es sich an, als hätten sie einen LSD-Trip zu viel absolviert: Nur selten wird mal losgerockt, lieber wehen geisterhafte Stimmen über neblige Klanglandschaften. Aber auch geil. (Thomas Winkler)
Jeff Tweedy: „Love Is The King“ (Rykodisc / Warner)
Country-Folk Es kommt die Zeit, so haben es die wunderbaren Aeronauten einmal gesungen, in der man sich für Countrymusik interessiert. Aber natürlich hat sich Jeff Tweedy das schon sein Leben lang gedacht. Und in gewissem Sinne hat er mit seiner sehr fabelhaften Band Wilco den amerikanischen Retrokniedelcollegecountryrock auf eine, nun ja, künstlerischere Art von seinen immer auch regressiven Tendenzen befreit. „Impossible Germany“ beispielsweise ist eines der wunderbarsten Lieder überhaupt.
Nachvollziehbar also, dass sich so einer nach getaner Arbeit einfach mal auf die Veranda setzt – und nun eben mit „Love Is The King“ sein schon viertes Soloalbum aus der Westerngitarre gezupft hat. Die beinahe erschreckende Erkenntnis dabei: Jeff Tweedy mag man auch noch herzlich zuhören, wenn der kompositorische Furor und das listige Spiel mit der Popgeschichte Pause haben. Das Ergebnis bleibt, im Gegensatz zu fast allem von Wilco, aber doch sehr, sehr abgehangen. (Clemens Niedenthal)
Tom Petty: „Wildflowers & All The Rest (Deluxe“ (Warner)
Rock’n’Roll Kurz vor seinem Tod im Jahr 2017 sprach Tom Petty davon, sein Meisterwerk „Wildflowers“ zu rekonstruieren und so zu veröffentlichen, wie es 1994 geplant war: als Doppelalbum. Seine Erben brauchten drei Jahre, um diesen Plan Realität werden zu lassen. Und auch wenn man konzeptionell durchaus Kritik an der Box anmelden kann, hat sich das Warten („the hardest part“) gelohnt. Wir haben eine Box bekommen, in der die remasterte „Wildflowers“-CD um die Outtakes ergänzt wird, die dann etwas profan „All The Rest“ benannt wurden. Einen Teil der Songs kannte man bereits von dem Soundtrack zu „She’s The One“. In der Deluxe-Version ergänzt eine CD mit den wunderschönen, kristallklaren Home-Recordings und eine mit grandiosen, mitreißenden Live-Versionen die Box.
Hier bekommen wir wieder den unverfälschten Tom Petty, den Rocker und Blues-Man, den die britische Musikpresse Anfang der 80er-Jahre unverständlicherweise zum Bereich Punk/New Wave gezählt hatte. Nein, Tom Petty war Zeit seines Lebens kein Erneuerer, er war ein Bewahrer der Flamme, auch wenn er neuen Sounds aufgeschlossen gegenüber stand. Aber niemand konnte Tom Petty in einen Firmenvertreter oder in eine Hure der Musikindustrie verwandeln. „Wildflowers“ steht mit seinem warmen, organischen Songs (Produzent: Rick Rubin), mit den melancholischen Texten und der nostalgischen Stimmung in einer Reihe mit Alben der Beatles, der Byrds und der Beach Boys. Da ist nichts Schlechtes dran. Tom Petty hat diese scheißkalte Welt etwas wärmer gemacht. Er fehlt. (Lutz Göllner)
Die Ärzte – Hell (Hot Action Records)
Können es noch. Die ausführliche Ärzte-Kritik findet ihr hier. Mehr zum Thema: Letzte Woche hat Woodkid in Melancholie gebadet – und Beabadoobee ließ gröhlen. Davor kehrten Travis zurück zum Rock’n’Roll – und Mary Lattimore harfierte uns.