Am 8. Mai 1945 war der Zweite Weltkrieg in Europa vorbei. Anlässlich des 75. Jahrestags des Kriegsendes hat Julia Franke gemeinsam mit Anika Kreft und Swantje Bahnsen die Ausstellung „Von Casablanca nach Karlshorst“ im Deutsch-Russischen Museum Berlin-Karlshorst kuratiert. Dem historischen Ort der Kapitulation der deutschen Wehrmacht. Wir sprachen mit der Berliner Kulturwissenschaftlerin über die Ausstellung, das Kriegsende und ein Exponat, das ihr besonders am Herzen liegt
tipBerlin Frau Franke, am 8. Mai 2020 jährt sich zum 75. Mal das Ende des Zweiten Weltkrieges. Welche Bedeutung hat dieses Datum für Sie ganz persönlich?
Julia Franke Ich bin im Westdeutschland der 1980er Jahre aufgewachsen und habe zuletzt im Deutschen Historischen Museum die Ausstellung zum 100. Jahrestag der Russischen Revolution kuratiert. Dabei ist mir noch einmal aufgefallen, wie sehr ich in einer Welt sozialisiert wurde, die unmittelbar mit dem Ende von Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg zusammenhing: Holocaust, die bipolare Welt des Kalten Krieges, zwei deutsche Staaten, der Wettstreit der Systeme und die kapitalistische Konsumdemokratie.
Das Erinnern an das Kriegsende ist brüchiger geworden
tipBerlin Sie arbeiten im Deutsch-Russischen Museum in Karlshorst. Das Haus ist eng mit der Geschichte des Zweiten Weltkriegs verbunden. Wie haben Sie sich auf den 75. Jahrestag des Kriegsendes vorbereitet?
Julia Franke Vor allem sehr gegenwärtig: In unserer Zeit eines schwindenden Multilateralismus, erstarkender Nationalismen und rechten Morden wie zuletzt in Hanau, war es mir wichtig, die Bedeutung dieses Jahrestages noch einmal mit einer Ausstellung zu thematisieren. Denn das Erinnern an den 8. Mai 1945 ist brüchiger geworden.
tipBerlin Können Sie die Idee der Ausstellung erläutern?
Julia Franke Die Ausstellung spannt einen Bogen von Casablanca nach Karlshorst. Von der Konferenz der Anti-Hitler-Koalition 1943, auf der zum ersten Mal das alliierte Kriegsziel festgelegt wurde, Nazi-Deutschland gemeinsam zu besiegen. Bis zur bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht am 8. Mai 1945 in Karlshorst, im heutigen Museumsgebäude. Diese zweieinhalb Jahre kennzeichneten eine erneute Eskalation der NS-Gewalt. Die deutschen Verbrechen zum Ende des Krieges schlossen an zahlreiche nationalsozialistische Mordpolitiken an. An die systematischen Morde an den europäischen Jüdinnen und Juden, an Sinti und Roma oder anderen Gruppen von Gefangenen.
tipBerlin Diese Aspekte stellt die Ausstellung in den Mittelpunkt?
Julia Franke Richtig. Gleichzeitig möchten wir im Deutsch-Russischen Museum die Perspektiven weiten und verdeutlichen, dass Menschen in vielen Staaten Europas massiv unter der NS-Herrschaft gelitten haben. Denn mit dem Vorrücken der alliierten Truppen waren vielerorts Verbrechen der sich zurückziehenden deutschen Verbände an der Zivilbevölkerung verbunden. Die meisten dieser Rückzugsverbrechen wurden allerdings in den deutsch besetzten sowjetischen Gebieten verübt.
Fotos von deutschen Massakern und Verbrechen
tipBerlin Gab es bei der Arbeit an der Ausstellung besondere Herausforderungen?
Julia Franke In der Ausstellung zeigen wir viele Fotos von deutschen Massakern und Verbrechen. Natürlich stellten sich uns dabei bildethische Fragen: Welche Aufnahmen sind als Dokumente der deutschen Massenverbrechen unerlässlich? Welche Aufnahmen machen die Gezeigten nochmalig zu Opfern, indem sie in einer Ausstellung öffentlich Blicken preisgegeben werden? Letztlich haben wir uns deshalb zum Beispiel dafür entschieden, nur Bilder zu zeigen, auf denen Tote nicht individuell erkennbar sind.
tipBerlin Wie kann man heute Jugendlichen die Geschichte des Zweiten Weltkrieg sinnvoll vermitteln?
Julia Franke Indem Bezüge zu ihren eigenen Leben hergestellt werden. Und diese müssen heute zwangsläufig gegenwartsorientierter, diverser und multiperspektivischer sein als es die traditionellen Wege der Geschichtsvermittlung sind. Nicht zuletzt, weil heutige Schüler*innen, nicht zwangsläufig mehr Urenkel*innen von Wehrmachtsangehörigen sind. Unterschiedlichste Diskriminierungen, Ausgrenzungen und Rassismus sind ja auch heute aktuelle Themen.
tipBerlin Haben Sie ein bestimmtes Exponat oder einen Aspekt der Ausstellung, der Ihnen besonders wichtig ist?
Julia Franke Ein Exponat der Gedenkstätte Belower Wald: Während eines Todesmarsches festgehaltene Häftlinge hatten 1945 ihre Namen in Baumrinden geritzt. Auf einem Abdruck dieser Bäume sind inzwischen Spuren zu sehen, die von einem rechtsextremen Anschlag auf die Gedenkstätte im Jahr 2002 stammen. Dieses Exponat zeigt eindrücklich die Dringlichkeit historisch-politischer Bildungsarbeit.
Die Ausstellung ist bereits jetzt als 360-Grad-Rundgang im Internet begehbar
tipBerlin Nun befinden wir uns inmitten der Corona-Krise. Wie wirken sich die Maßnahmen zur Ansteckungsvermeidung auf Ihre Pläne aus?
Julia Franke Eine in diesen Tagen fast schon klassische Antwort: Auch wir sind digitaler geworden. Die Ausstellung ist bereits jetzt als 360-Grad-Rundgang begehbar, ganz ohne Ansteckungsgefahr. Zudem haben wir uns noch einige interaktive Angebote überlegt, die vor der Corona-Pandemie nur in den Ausstellungsräumen stattgefunden hätten.
tipBerlin Verpassen wir dadurch nicht die Möglichkeit, das Ende des Zweiten Weltkrieges angemessen zu würdigen?
Julia Franke Ich sehe darin auch eine Chance: Die gegenwärtige Erinnerungskultur setzt ja oft auf Jahrestage und dies meist mit ritualisierten Formen. Nun sind alle herausgefordert, nach neuen Wegen und Formaten zu suchen. Vielleicht liegt ja darin auch eine Möglichkeit für würdige wie innerliche Auseinandersetzungen.
Von Casablanca nach Karlshorst im Deutsch-Russischen Museum Karlshorst
Die Ausstellung ist online auf der Webseite des Museums zu sehen.
Spaziergang vom Wannsee zum Neuen Garten: Spuren von Krieg und Totalitarismus. Treptower Park: Idyllisch am Spreeufer, nachdenklich am Sowjetischen Ehrenmal.