30 Jahre Mauerfall

Norbert Bisky: „Ohne Mauerfall wäre Berlin ein graues Provinznest“

Furchtbar anstrengend war es für den Maler Norbert Bisky, in die eigene Vergangenheit und sein Leben in der DDR zurückzugehen. Doch nur so konnte er 30 Jahre danach eine Ausstellung zum Mauerfall und zum geteilten Deutschland machen, Titel: „Rant“

tip Herr Bisky, wo waren Sie, als die Mauer fiel?

Norbert Bisky Ich war Soldat der Nationalen Volksarmee und hatte abends Wache in einem Bunker mit Raketen. Das war in Steffenshagen, einem kleinen Dorf in Mecklenburg-Vorpommern, mitten in der Pampa. Am nächsten Morgen sagte der Unteroffizier von Dienst, „die Mauer ist auf“, und wir Soldaten haben müde gegrinst und gedacht, ja, guter Witz.

tip Das heißt, Sie haben erst mit einen halben Tag Verspätung vom Mauerfall erfahren? Durften Sie an die Grenzen fahren?

Norbert Bisky Nein, ich war Soldat, bekam keinen Urlaub und war leider in diesem Wahnsinn gefangen. Obwohl der Staat implodiert war, wurde noch versucht, die Strukturen aufrecht zu halten und so zu tun, als wäre nichts. Ein sehr interessanter Vorgang. So ging das noch Monate bei der NVA.

tip Wann haben Sie es denn das erste Mal über die deutsch-deutsche Grenze geschafft?

Norbert Bisky Im Januar 1990 bin ich zu einer Freundin nach Frankfurt am Main gefahren. Das hat damals noch 9 Stunden gedauert, mit dem Zug über Thüringen.

tip Ist Ihnen aus diesen Tagen oder Wochen etwas ganz besonders in Erinnerung geblieben?

Norbert Bisky Dieses Gefühl, alles ist möglich und das meiste ist völlig absurd. Es gab Menschen, die total in Panik waren, weil ihre Posten in Gefahr waren. Aber ich war 19 Jahre alt, das betraf mich echt überhaupt nicht. 19 war das perfekte Alter für den Mauerfall. Als hätte das jemand für mich geplant: Mach erst mal die Schule fertig Junge und dann machen wir die Mauer auf.

tip Wollten Sie schon während der Schulzeit Künstler werden?

Norbert Bisky Nein. Meine Berufswünsche waren diffus. Klar war, ich wollte nicht in der DDR funktionieren, ich dachte, ich mache etwas im sozialen Bereich. Unmittelbar nach der Schule hatte ich in einem Kinderheim in Lichtenberg gearbeitet, das war eine krasse Erfahrung, aber es schien mir interessant. Ohne den Mauerfall wäre ich definitiv kein Künstler geworden. Oder anders: die Mauer ist gefallen und alles, was mein Leben ausmacht und mir wichtig ist, ist dadurch passiert. Unter anderem, dass ich mir gesagt habe, hey du bist befreit von diesem Schwachsinn, für ein kaputtes Land Sinnvolles leisten zu müssen. Jetzt kannst du was Absurdes machen, und Künstler werden.

tip 19 Jahre in der DDR sind trotzdem eine lange Zeit. Was sind prägende Erfahrungen von damals?

Norbert Bisky Ich träume auch heute noch ab und zu davon, dass ich mein Abitur nicht schaffe, und der Traum geht immer gleich: Mensch Norbert, du bist jetzt 49, die sind alle schon deutlich jünger als du, du musst mal langsam gucken, dass du dein Abitur hinkriegst. Der Traum ist für mich sehr real und er bedeutet, was für ein Scheißdruck entfaltet wurde an der Schule, an der ich Abitur gemacht habe. Das war eine sehr prägende Druck-Angst-Erfahrung, du musst hier funktionieren, und wenn nicht, dann machen wir dich fertig. Eine andere Sache, die mich sehr ausmacht, ist die Neugier auf alles, was von außen kommt. Ich bin bis heute total süchtig danach, zu erfahren, wie andere Leute ticken und wie es woanders auf der Welt aussieht.

tip Springen wir in die 90er. War das die beste Zeit hier in Berlin?

Norbert Bisky Nein, das wird total verklärt. Natürlich gab es damals die Faszination des Aufbruchs, riesige Freiräume sind in der Gesellschaft und in der Stadt entstanden. Auf der anderen Seite war die Stadt auch hässlich und grau und kaputt und sehr verunsichert.

tip Ich habe mir vor unserem Gespräch ihre Bilder noch einem unter dem Aspekt des Zusammenbruchs der DDR und der Verunsicherung angeguckt und festgestellt, dass Ihre oft sehr realistisch ausgearbeiteten Menschen keine Bodenhaftung haben, sondern alles in einem Strudel oder Flug ist. In Ihren Gemälden gibt es für die Menschen keine Sicherheiten, da gelten noch nicht mal die Gesetze der Schwerkraft.

Norbert Bisky Ich erlebe keine gut sortierte Welt, in der alles seinen Platz hat, sondern ich lebe in einer Stadt, in der alles in Bewegung ist und instabil. Das hat eine gute und eine beängstigende Seite, und entsprechend gibt es auch auf meinen Bildern keinen festen Boden und keinen rechten Winkel ­– übrigens ein furchtbares Wort.

tip Haben Sie sich jetzt das erste Mal so direkt mit der Wende und Deutschland als geteiltes Land beschäftigt?

Norbert Bisky Ich hatte vor über 20 Jahren schon mal angefangen, mich mit den Bildern meiner Kindheit zu beschäftigten. Dann waren sehr viele Jahre andere Themen wichtig, ich habe mich mit Brasilien beschäftigt, mit Clubkultur, habe längere Zeit in Tel Aviv verbracht. Doch es geht mir, wie vielen Leuten, es tauchen immer wieder flash-backs auf. Damit meine ich nicht nur meine Abiturtraum, sondern man merkt jetzt, dieser Wahnsinn 1990, dass die Sowjetunion zusammengekracht ist und die Mauer durchlässig wurde, das beschäftigt uns bis heute. Und vieles ist da nicht geklärt, nicht geglättet, nicht beruhigt.

tip Nach 30 Jahren ist der Blick immer noch kein abgeklärter?

Norbert Bisky Ich wollte noch mal in diesem Zeittunnel reingehen und mich mit dem Land beschäftigen, aus dem ich komme. Das zu tun ist furchtbar und anstrengend. Doch noch kann ich meine sehr direkte Perspektive entwickeln. Ich saß vor einiger mit Leuten aus Chicago in einer Neuköllner Kneipe und die erzählten mir dann ganz genau, wie das gewesen ist damals, mit der Wende und der DDR. Und dann denke ich, Norbert, Alter, du warst ja dabei, das ist doch dein Leben, jetzt versuch doch mal, dich zu erinnern und Bilder zu malen, die deine Sicht zeigen. Und genau das habe ich jetzt getan.

tip Wir durfte für unser tip-Cover das Motiv mit dem Mauerspecht verwenden. Es ist das Bild, das am Konkretesten auf den Mauerfall verweist. Die anderen Gemälde stehen noch hier im Atelier.

Norbert Bisky Es geht hier los mit dem Bild „M“, ein Porträt der Frau, die mein Leben unfreiwillig sehr geprägt hat, die erst Vorsitzende der Pionierorganisation war und dann Volksbildungsministerin, Margot Honecker, die einzige Person in der DDR, die offiziell blaue Haare haben durfte. Sie hat sich für viele furchtbare Sachen, unter denen ich direkt gelitten habe, stark gemacht, zum Beispiel für den Wehrunterricht in der Schule. Ich habe sie jetzt als Götzenbilder gemalt und wie so ein gefallenes Götzenbild behandelt, indem ich sie mit Farbe und buntem Dreck beworfen habe.

tip Und das Bild daneben?

Norbert Bisky Das zeigt das Frankfurter Tor. Dahin bin ich um das Jahr 2000 in eine kleine Wohnung gezogen, und es war aberwitzig für mich, dort zu leben, weil in der DDR wäre es ja unvorstellbar gewesen, dass ich, ohne eine mega Leistung fürs Vaterland vollbracht zu haben, in diese Zuckerbäckerstil-Stalinbauten hätte einziehen können. Die ehemalige Stalinallee ist ein Symbol für viele Dinge. Die Arbeiter der Stalinallee haben eine ganz zentrale Rolle beim Aufstand des 17. Juni 1953 gespielt. Die Stadthalter der Sowjetunion in Ost-Berlin haben gesagt, wir bauen in der ganzen Stadt Arbeiterpaläste, und dann haben Sie noch nicht mal diese bekloppte Straße fertig gekriegt, weil ihnen die Kohle ausgegangen ist.

tip Wo haben Sie denn zu DDR-Zeiten gewohnt?

Norbert Bisky Erst in Marzahn, dann in Oberschöneweide. Wenn ich mit der S-Bahn fuhr, konnte ich am Baumschulenweg auf das Neubauviertel auf der ehemaligen West-Berliner Seite schauen. Aber man hat von dieser Grenzanlage nur die Türme sehen können, Auf dem Bild hier ist deshalb nur ein Wachturm zu sehen. Ich wollte auf meinen Bildern nur Dinge, zu denen ich einen direkten Bezug habe. Das Bild daneben geht auf die Berlinkarte in meinem Schulunterricht zurück. In Ost-Berlin passiert darauf viel, da ist Chemieindustrie, Elektrizität, Wissenschaft, Ziegelsteine. Westberlin hat gerade mal die Spree und die Havel, sonst war das ein weißer Fleck mit einer dicken roten Grenze darum. Das macht den Wahnsinn sichtbar. Das Bild heißt „Katzensprung“ und man sieht zwei Jungs, die überlegen, ob sie eine Schwelle übertreten oder nicht. Das bezieht sich auf einige der krassesten Mauergeschichten, nämlich, dass viele Kinder und Jugendliche ertrunken sind, weil sie von der Westberliner Seite ins Wasser sind und die DDR-Grenzsoldaten nicht in der Lage oder nicht willens waren, diese Kinder vor dem Ertrinken aus dem Wasser zu retten.

tip Die Mauerfall-Ausstellung in der Villa Schöningen heißt „Rant“, wodurch Sie eine aktuelle Zeitebene anreißen.

Norbert Bisky Es geht mir nicht darum, eine historisierende Ausstellung zu machen, sondern den Blick von heute aus zu zeigen: Wie schaue ich von 2019 aus auf die Zeit um ‘89 herum zurück. Und den Zeitbezug gibt es sicherlich auch dadurch, dass viele frustrierte Leute, die sich nicht trauen, ihr Unglück direkt ins Gespräch zu bringen, dies mit Hatespeech am besten anonym im Internet erledigen.

tip In diesem Zusammenhang wird schon seit längerem eine neue Ost-West-Grenze diskutiert. War die Wiedervereinigung eine Übernahme? Haben die Unterschiede in der West- und Ostsozialisation etwas mit Fremdenfeindlichkeit zu tun?

Norbert Bisky Ja, total krass, oder? Ich treffe junge Leute, die nach dem Mauerfall geboren wurden und anfangen, die DDR zu verteidigen und eine Ostdeutsche Identität zu entwickeln. Ich hätte nie geglaubt, dass so eine Situation wieder entsteht. Irgendwie ist der kalte Krieg nicht zu Ende. Wir haben auf der einen Seite Putin, der alles, was Verunsicherung in die westliche Demokratie bringt, nach Kräften finanziell und politisch unterstützt. Und auf der anderen Seite gibt es eine Menge Leute, die sich zurückgesetzt fühlen oder diffus hassen. Es ist unmöglich zu so komplexen Themen eine Ausstellung zu machen. Aber als Maler kann ich Bilder dazu formulieren, die in der glücklichsten Situation eine Möglichkeit zum Gespräch eröffnen.

tip Die Nacht des Mauerfalls ist für die Menschen weltweit und in Berlin ungebrochen mit einer riesigen Euphorie verbunden.

Norbert Bisky Alle Ostdeutschen haben auf einmal die Möglichkeit bekommen, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Ohne dass ein einziger Schuss gefallen ist. Indem die Menschen auf die Straße gegangen sind. Das ist schon großartig. Im Prozess sind sicher viele Dinge schiefgelaufen, aber der Fakt an sich bleibt ein großes Geschenk. Ohne die Maueröffnung wäre Berlin nur ein dummes, graues Provinznest.

Rant in der Villa Schöningen, Berliner Str. 86, 14467 Potsdam, 9.11.– 23.2., Sa+So 12–18 Uhr

Zeitgleich zeigt Bisky ab 10.11. in der Matthäikirche die Ausstellung Pompa, Thema: 1990 bis heute

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