Drüben, neu entdeckt: Wie lebte es sich „da drüben“? Die Schau „Ost-Berlin. Die halbe Hauptstadt“ widmet sich der Alltagskultur in der DDR – und ist Ausdruck eines neuen, lebendigen Ost-Diskurses
Berlin liebt sein Gestern, manchmal mehr als sein Heute. Und von allen Gestern liebt es das wilde West-Berlin wohl am meisten, die widerständige Insel im tristen SED-Staat. Der alte Westen war Glamour und Schmutz, KaDeWe und „Risiko“, Rolf Eden und David Bowie. Aber wie lebten die Menschen auf der anderen Seite der Mauer? Dieser Frage nähert sich die Ausstellung „Ost-Berlin. Die halbe Hauptstadt“ an. Die Schau im Ephraim-Palais soll mittels Originalgegenständen, Fotos, Film- und Tondokumenten das soziale und kulturelle Leben in der einstigen DDR-Hauptstadt abbilden. 30 Jahre nach dem Mauerfall. Und fünf Jahre, nachdem die Schau „West:Berlin“ den bundesdeutschen Part der geteilten Stadt beleuchtete.
Zwar müssen Politik und Repression in einer Schau zum Leben in einem Überwachungsstaat zwangsläufig eine Rolle spielen; im Fokus stehen aber Wohnen und Konsum, Mode und Freizeit, Kultur und Subkultur von den 1960er-Jahren bis zu Wende.„Von Ost-Berlin gab es lange Zeit nur ein schwarz-weißes Bild“, sagt Jürgen Danyel, Historiker und stellvertretender Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam, der Kurator der Ausstellung. „Einerseits galt Ost-Berlin als Hauptstadt einer Diktatur, Ort der Macht und der politischen Rituale. Viele, die aus dem Westen in den Osten kamen, haben sich über wehende Fahnen und optimistische Losungen vor bröckelnden Fassaden gewundert.“
DDR-Stellvertreterin oder Boheme?
„Die Stadt fungierte in der Erinnerung als eine Art Stellvertreter für die DDR“, sagt er. Auf der anderen Seite werde Ost-Berlin inzwischen als Eldorado der Subkultur und einer DDR-Bohéme gefeiert. Zwischen beiden Polen gebe es immer noch eine ganze Gesellschaft zu entdecken – deren Spuren einem überall in Berlin begegnen. Denn die SED-Diktatur ist zwar lange überwunden, aber Ost-Berlin ist von Mitte bis Marzahn noch immer allgegenwärtig: in den Häuserschluchten der Plattenbauten, in Haushalten, in denen die Blumen immer noch auf einem „MuFuTi“ genannten Multifunktionstisch stehen – ein zu DDR-Zeiten beliebtes Einrichtungsstück.
„Die Häuser, die Straßen, alle Überbleibsel aus Ost-Berlin sind heute Projektionsflächen für Erfahrungen”, sagt Danyel. „Und es gilt, diese Erfahrungen aus der alten Stadt in der neuen zu erzählen. Mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der West-Berlinerinnen an das Leben in der Inselstadt oder die Torte im Café Kranzler zurückdenken, sollten sich auch Ost-Berlinerinnen an ihre mit Lebensgeschichte in der ,halben Hauptstadt‘ erinnern können.“
Dass die DDR für viele Bewohnerinnen mehr war als eine betongraue Diktatur – diese Lesart bereitete, aus nachvollziehbaren Gründen, lange Unbehagen. Nach der Wende galten Möbel, Architektur und Mode aus dem Osten als Überbleibsel einer dunklen Ära, bevor sich die Sehnsucht nach Aufarbeitung in den Nullerjahren in Form einer skurrilen Ostalgie-Welle Bahn brach. In Abendsendungen wie der „DDR-Show“ verklärte man den SED-Staat zum Kuriositätenkabinett, zum muffigen, aber doch drolligen Trabi-Land. Heute nähert man sich dem Osten ernsthafter. Dem Alltag Raum geben In Kunst und Kultur erwacht gerade ein Interesse daran, die DDR und ihre ehemaligen Bewohnerinnen nicht nur als Studienobjekte zu sehen, sondern auch dem Alltag Raum zu geben. Noch bis Januar 2020 läuft im „Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR” in Eisenhüttenstadt eine Ausstellung über die Bauhaus-Moderne in der DDR.
Auch die „Ost-Berlin“-Schau fügt sich in diese Entwicklung. Wie kam es dazu?„Heute betrachten wir das Leben im Osten mit größerer Gelassenheit und einem differenzierteren Blick als noch vor einigen Jahren”, sagt Danyel. „Man hat langsam erkannt, dass der Wunsch nach Erinnerung bei den meisten Menschen im Osten nichts damit zu tun hat, dass sie sich die DDR zurückwünschen.“ Das Thema DDR verliert sein Stigma. „Die materiellen Spuren von Ost-Berlin werden mittlerweile wie eine Retro-Mode wahrgenommen”, sagt Danyel. „Die Karl-Marx-Allee mit ihrer stalinistischen Architektur oder die Bauwerke der sozialistischen Moderne rund um den Alexanderplatz werden inzwischen mit anderen Augen gesehen und als auf ihre Weise schön und bewahrenswert wahrgenommen. Kurz nach dem Umbruch 1989/90 war das aus verständlichen Gründen anders: Da schien alles, was mit der DDR in Verbindung stand, moralisch entwertet.“
Doch gerade im Alltag von Ost-Berlin erkenne man viel Eigensinniges, man merke, dass die Menschen ihre Lebensumstände mit Fantasie, Pragmatismus und Widerspruch gestaltet haben. „Die Stadt bot dafür erstaunlich viele Freiräume und Nischen“, sagt Danyel. Um diese zu erkunden, komme man in der Ausstellung erst einmal an wie ein historischer Tourist: Betritt man das Ephraim-Palais, steht man auf einer großen Karte von Ost-Berlin, muss sich orientieren, bevor man durch den Ost-Alltag streift. Manche Ausstellungsgegenstände habe man etwa auf Flohmärkten oder Online-Börsen gefunden; viele Objekte seien auf den ersten Blick unspektakulär, zum Beispiel eine Sitzbank, die Unter den Linden stand – geschaffen vom berühmten Kunstschmied Fritz Kühn.
Ein Schlüsselobjekt der Ausstellung, erzählt Danyel, ist eine alte, verwitterte Rakete aus dem Vergnügungspark im Plänterwald: einerseits Symbol für den sozialistischen Fortschrittsglauben, andererseits für den Verfall nach der Wende.In einem Raum darf man den alten Osten noch einmal in Bewegtbild an sich vorbeiziehen sehen: Für „20 Pfennig“ kann man sich einen Fahrschein kaufen und eine Bahnfahrt durchs alte Ostberlin erleben, von den Neubaugebieten am Stadtrand bis zum Rosenthaler Platz. Die Filmsequenz, die man zu sehen bekommt, wurde um 1989 während einer Straßenbahnfahrt aufgenommen.Eine aktuelle Forderung beim Umgang mit der DDR und den neuen Bundesländern wollen die Macherinnen umgehen: Ständig soll erklärt werden, wie „der Osten“ tickt – während wohl niemand auf die Idee käme, Baden-Württemberg und Niedersachsen, Zehlendorf und Kreuzberg auf einen Nenner zu bringen. Danyel will Ost-Berlin in seiner Vielfalt zeigen. In einem Essayband zur Schau nähern sich Autorinnen wie Marion Brasch, Mark Reeder und Stefanie Thalheim Ost-Berlin in „30 Erkundungen“ an, im Begleitprogramm stellen auch Schülerinnen und Studierende ihre Perspektive auf den Osten dar. Denen, erzählt Danyel, waren oft ganz andere Themen wichtig als den Historikerinnen, zum Beispiel Gender-Aspekte. Im besten Fall solle man nach der Ausstellung hinausgehen in die Stadt, sich fragen, woran man sich erinnert und erinnern will, wie viel Platz Ost-Berlin im Heute bekommen soll – und das frei von Nostalgie. Denn: „Es ist keine Wehmutsausstellung für Ost-Berliner*innen“, sagt Danyel.
„Ost-Berlin. Die halbe Hauptstadt“, Ephraim-Palais, Postraße 16, Mitte, 11.5.–9.11., Di, Do–So 10–18, Mi 12–20 Uhr