DDR, Wende, Grenzöffnung, Nachwende, einig’ Deutschland: Jubiläums-typisch ergründen viele Bücher den Osten Deutschlands.
Ein Streifzug von Erik Heier
Die Mauer ist nicht gefallen. Sie bröselte weg. Wurde kurz und klein gehämmert. Mit Kränen weggewuchtet. Und ist doch immer noch da.
Bei Statistiken zeichnet sich die DDR wie ein Schatten auf der Deutschlandkarte ab. Vermögensverteilung, Großunternehmenszentralen, Arbeitslosenquote. Überall liegt der Osten hinten. Außer bei AfD-Stimmen.
Jetzt gibt es wieder viele Bücher, das alles zu sortieren. Die DDR, den Mauerfall, die Nachwendezeit, das Jetzt, das Morgen. Und was das alles heute immer noch, und immer mehr, mit uns macht. Die neue deutsche Frage.
Und jede Generation stellt sie anders.
Johannes Nichelmann ist Journalist, gebürtiger Ost-Berliner, Jahrgang Mauerfall, Scheidungskind. Einer aus der Generation Nachwendekinder, so heißt auch sein Buch, die die DDR nur noch gespiegelt kennt. Als fremderzählte Erinnerung. Als Geschichtsunterrichtslektion. Als Fernsehdoku. Die DDR, sie erscheint dem 90er-Kind Nichelmann im Entweder-Oder-Modus. Sommerausflug oder Stasiknast. Ein Schwarz-Weiß-Bild, das nach seiner Schule roch. Du hast den Farbfilm vergessen, mein Michael. Und in den Familien diese Leerstelle, die das Land hinterließ.
In Bayern, wo seine Mutter mit ihm nach der Wende hinzog, war er an der Schule plötzlich der Ossi. Der andere. „Othering“, wie es Soziologen nennen. Im Buch spricht Nichelmann mit anderen „Nachwendekindern“. Junge Frauen, Männer, meist keine 30, geboren in der DDR, aber gerade so noch.
Wie Franziska, fünf Tage vor der Wiedervereinigung geboren, eine rastlos internationale Akademikerin, deren Großvater sich 1985 erschoss, mit seiner Stasi-Dienstwaffe; deren Vater, wie so viele im Osten, seinen Arbeitsplatz verlor und den ganzen Hass auf das Callcenter, in dem er jobbte, mit heimbrachte; und deren Mutter nicht verstand, warum die Leute 1989 auf die Straße gegangen waren: „Wir hatten doch alles.“
Irgendwann schreibt Nichelmann: „Ich kann nicht wütend sein auf das Leben meiner Eltern in der DDR. Ich kann aber wütend sein, wenn sie nicht darüber sprechen, an bestimmten Stellen nicht reflektieren wollen und mich mit einem unvollständigen Fundament meiner eigenen Biografie zurücklassen.“
Eine andere DDR-Sichtweise beschreibt ein Buch, das sich mit DDR-Lebensläufen aus einer ähnlichen Generation wie der von „Nachwendekinder“-Eltern beschäftigt. Jana Göbel und Matthias Meisner versammeln in Schwierige Wege aus der DDR mit dem Titel „Ständige Ausreise“ 24 Porträts von Menschen, die sich nicht eingerichtet haben in der DDR. Es nicht wollten, nicht konnten. Die zum Beispiel einen Ausreiseantrag stellten und jahrelang vom Staat gegängelt wurden – und nach Jahren der Ungewissheit von einem Tag auf den anderen das Land verlassen mussten.
Wie die Radeberger Familie Marusch, die sich Mitte der 80er-Jahre extra symbolisch das Volksaufstandsdatum 17. Juni für den Ausreiseantrag ausgesucht hatte und daraufhin beim Zahnarzt keinen Termin mehr bekam: „Solche Kandidaten wie Sie werden bei uns nicht mehr behandelt“, erfuhren sie dort.
Oder Menschen, die zu flüchten versuchten und dabei verhaftet wurde. Wie York Mädel, der 1980 in Bulgarien gefasst wurde, 18 Monate Knast wegen Republikflucht bekam, in Cottbus mit vielen der DDR gleich unwohl Gesonnenen einsaß, wo ein gefürchteter Wärter den Spitznamen „Roter Terror“ trug und ein anderer „Arafat“ gerufen wurde. Irgendwann ließ das Land den renitenten Mädel raus.
Aber: „In dem Moment ihrer Ankunft betraten alle Ankommenden Neuland“, schreibt die Historikerin Jacqueline Boysen in „Ständige Ausreise“. „Sie beherrschten dieselbe Sprache wie die Menschen in ihrer neuen Umgebung – und doch wurden sie zu Fremden.“ Und: „Die westlich geprägte Aufnahmegesellschaft blieb vielen Ostdeutschen fremd.“
Eine Erfahrung, die nach der Wiedervereinigung viele Ostdeutsche machten. Das Zweite-Klasse-Gefühl! Entwertete Biografien! Vom Westen plattgemacht! Helmut Kohl! Die Treuhand! Die West-Wirtschaftsbosse! Der verdammte Kapitalismus!
Das haben wir jetzt davon: wütende Landschaften. Und die AfD.
Natürlich ist die Wirklichkeit komplexer.Ein Beispiel für diese Komplexität steht zum Beispiel in einem anderen Sammelband, dem von der früheren DDR-Bürgerrechtlerin Freya Klier herausgegebenen, auch lesenswerten Buch „Und wo warst du?“ Darin erzählt der damalige Referent für Deutschlandpolitik der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Bernd Dietmar Kammerschen, wie er 1990 nach Sachsen geschickt wird und alles daransetzt, eine ehemalige „Blockflöte“ als sächsischen Ministerpräsident zu verhindern. Und, weil er mangels Quartier bei einer DDR-Familie eine Matratze belegt, als letzter in die Badewanne durfte – nach Vater, Mutter und vier Kindern. Heißes Wasser war knapp. „Das erinnerte mich an meine Westkindheit in den 1960er-Jahren.“
Wie spannend, wie diffus, wie widersprüchlich diese Wendezeit war, wie wenig Schwarz-weiß, zeigen auch Hannes Bahrmann und Christoph Links im Buch Finale. Das letzte Jahr der DDR. Sie arbeiten sich chronologisch vom Oktober 1989 bis zum Oktober 1990 vor. Sie streuen Zeitzeugen, Dokumente, Hintergründe ein. Und tolle Fotos von Andreas Kämper.
Der ganze Wahnsinn dieses Jahres, die sich überschlagenden Ereignisse, hier wird alles greifbar. Wie etwa der ökonomisch fragwürdige, politisch aber unumgängliche Umtauschkurs D-Mark versus DDR-Mark zustande kam (1:1 bis zu einer Grenze von altersbedingt 2.000 bis 6.000 Euro, der Rest 1:2.): Denn auf der Straße riefen die Menschen: „Kommt die D-Mark, bleiben wir. Kommt sie nicht, geh’n wir zu ihr.“
Der Umtauschkurs sollte die DDR-Wirtschaft mehr zerlegen als es eine Treuhand je vermochte. Mit der Währungsunion am 2. Juli 1990 und dem Zusammenbruch des Marktes der sozialistischen „Bruderländer“ verloren die Betriebe und Kombinate mit einem Schlag fast alle Kunden. Katastrophe Ost.
Schärfer schreibt der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk in Die Übernahme. Wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde über die von der West-CDU unterstützte „Allianz für Deutschland“, die im Wahlkampf zur letzten Volkskammerwahl im März 1990 den schnellsten Weg zur Einheit plakatierte – die sofortige Einführung der D-Mark im Kurzs 1:1 für Sparkonten: „Heute nennt man so etwas Populismus.“
Kowalczyk geht in seiner Darstellung des Einheitsprozesses aufs große Ganze. Sein Buch ist eine heiter krachende Polemik, ein fußnotenreicher Ritt auf steilen Thesen („Ostdeutschland als Labor der Gobalisierung“). Und keine einseitige Schuldzuweisung. „Fehlende Anerkennung“, schreibt er, sei die „vielleicht am meisten unterschätzte Erscheinung, jedenfalls in Deutschland“. Und: „Ostdeutschland hat beginnend in den frühen 1990er Jahren bis heute einen vergeblichen Kampf um Selbstanerkennung geführt; die Gesellschaft war zu gespalten, als dass sie diesen im Konsens hätte angehen können.“
Welche Verheerungen die DDR in einer einzelnen Familie hinterlassen kann, zeigt vielleicht am eindrücklichsten die einstige DDR-Leichtathletin und heutige Schriftstellerin Ines Geipel in ihrem autobiografischen Buch Umkämpfte Zone. Literarisch ist es das herausragende der hier besprochenen Werke. Ausgehend von ihrem Bruder Robert, der an einem Glioblastom, dem „Herrndorf-Tumor“ stirbt, arbeitet sie schonungslos die Geschichten von Lügen und Angst auf. Einmal die Geschichten ihrer Familie aus Dresden: mit dem NSDAP-Großvater, der im besetzten Riga Dienst tut, den er bei seiner Entnazifizierung aus seiner Biografie tilgt. Mit dem Vater, der der Stasi treu im In- und Ausland dient.
Und Geipel seziert den Osten von der DDR-Nachkriegszeit bis ins Heute. „Angst als Polittrigger“ – dieses schlichte Prinzip nutze jetzt auch die AfD. „In diesem vulnerablen Wechselspiel garantiert sie dem Osten weiterhin seinen verkappten Opferstatus.“
Reden wir in 30 Jahren immer noch so? Von Jammer-Ossis, Besser-Wessis? Von der Mauer, die nicht gehen will. Wer holt uns da raus? Batman vielleicht?
Vor vier Jahren tauschte Batman schon mal Berlin gegen Gotham. Jetzt ist er, zum Jahrestag, wieder auf dem Cover in Berlin.
Räum’ die innere Mauer weg, Batman! Mach sie platt.