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Interview

Autorin Alice Hasters: „Die AfD hat nichts zu bieten außer Identitäten“

Mit ihrem ersten Buch „Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen aber wissen sollten“ wurde Alice Hasters zur Symbolfigur für den Diskurs um Identitätspolitik und Rassismus in Deutschland. Im Oktober erschien ihr zweites Buch „Identitätskrise“. Im Interview spricht die Autorin über die Notwendigkeit von Krisen, Wokeness als Feindbild und die Frage, ob sie überhaupt noch Hoffnung hat.

Alice Hasters, geboren 1989 in Köln, studierte Journalismus in München und arbeitete unter anderem für die Tagesschau. Ihr Buch „Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen aber wissen sollten“ erschien 2019 und stieg nach den Protesten infolge des Todes von George Floyd im Mai 2020 in die Spiegel-Bestsellerliste ein. Foto: Imago/Andreas Buck/Funke Foto Services

Alice Hasters: „Viele privilegierte Menschen sind es nicht gewohnt, dass ihnen eine Identität zugeschrieben wird“

tipBerlin: Alice Hasters, Ihr zweites Buch, „Identitätskrise“, ist gerade erschienen. Was ist anders als beim ersten?

Alice Hasters: Bei der Premiere meines ersten Buches sagte ein anderer Autor zu mir: Wart‘s ab, das zweite Buch ist viel schwieriger. Damals war mir das natürlich total egal, aber er hatte Recht. Beim zweiten Buch muss man sich fragen: Was habe ich noch zu sagen – vor allem, wenn ich das Privileg habe, relativ viel Aufmerksamkeit zu bekommen? Jetzt freue ich mich einfach sehr, dass es fertig ist. Und ich gehe davon aus, dass mein Buch diesmal nicht in so einen globalen Moment hineinkracht, wie es 2020 mit Black Lives Matter der Fall war.

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tipBerlin: Was war der Startpunkt: die gesamtgesellschaftliche Identitätskrise, oder Ihre eigene?

Alice Hasters: Zuerst habe ich den Zustand der Welt beobachtet und war überfordert von dem, was hier eigentlich los ist. Wir blicken oft auf 2020 und denken, da hat die Krise begonnen, aber ich glaube, die ging schon früher los. Corona hat alles nur nochmal verstärkt. Als Black Lives Matter 2020 an Momentum und Aufmerksamkeit gewonnen hat, habe ich an den Reaktionen gemerkt: Hier wird gerade mehr verhandelt als die Diskriminierung Schwarzer Menschen. Auf einmal geht es um Weltbilder. Ich hatte den Eindruck, für viele Leute bricht gerade ihre Vorstellung davon, wie unsere Gesellschaft funktioniert, zusammen. Das war es, was mich neugierig gemacht hat. Und dann bin ich selbst in eine Krise gerutscht: Ich habe es nie diagnostiziert bekommen, aber ich würde vermuten, dass ich ein Burnout hatte. Eine große Erschöpfung mit depressiven Zügen.

Persönliche Krise trifft auf Weltlage

tipBerlin: Fiel es Ihnen schwer, so offen von Ihrer persönlichen Krise zu erzählen?

Alice Hasters: Am Anfang konnte ich über gar nichts anderes schreiben. Ich hatte eine krasse Schreibblockade und immer wenn ich angesetzt habe, kam dabei heraus: Mir geht es schlecht, die Welt ist schlecht. Ich wollte so gerne optimistisch sein, aber meine Gedanken drifteten immer ins Negative. Meine Lektorin hat sanft dagegengehalten und mich hier und da gefragt, wie sehr ich mich wirklich in diesen Morast hineinbegeben möchte. Dann ist viel davon wieder rausgefallen, worüber ich froh bin, weil ich nicht wollte, dass sich dieses Buch im Endeffekt um mich dreht. Ich wollte zwar transparent machen, dass hinter dem Gedanken, den ich darlege, auch eine persönliche Identitätskrise steckt, aber ich wollte meine eigene Krise nicht in den Fokus stellen.

tipBerlin: Identitätspolitik und „Wokeness“ werden mittlerweile zu einem regelrechten Feinbild stilisiert. Wie ist es überhaupt dazu gekommen?

Alice Hasters: Ich glaube, wenn sich Dinge in eine Richtung entwickeln, gibt es immer eine Art Backlash in die andere Richtung. Der ganze Diskurs um Identitätspolitik, der Ende 2020 laut wurde, hat das extrem befeuert. Übrigens bin ich davon überzeugt, dass die Debatten in dieser Zeit sehr davon geprägt waren, dass wir alle zu Hause saßen und uns über unsere Handys angeschrien haben: Die Nerven lagen überall blank.

tipBerlin: Warum lässt dieser Diskurs viele Menschen so emotional werden?

Alice Hasters: Grundsätzlich habe ich den Eindruck, dass viele privilegierte Menschen es nicht gewohnt sind, dass ihnen überhaupt eine Identität zugeschrieben wird. Ihre Identität ist einfach so gut in die Gesellschaft eingebettet, dass sie noch nie darüber nachdenken mussten. Die Erkenntnis, dass sie sich jetzt vielleicht davon verabschieden müssen, immer und überall der Standard zu sein, ist für viele schwierig. Dadurch entstehen Ängste.

Vergleiche zu den USA: „Im Endgame des Individualismus“

tipBerlin: Sie schreiben, was fehlt, ist die Anerkennung, dass sich unsere Gesellschaft überhaupt in einer Identitätskrise befindet. Können Sie das erläutern?

Alice Hasters: Eine Krise ist sinnvoll, wenn daraus Taten folgen. Es ist eine unglaubliche Aufgabe, wenn man sagt, eine Gesellschaft muss sich verändern – und sie muss sich leider schnell verändern, weil uns die Klimakrise eine Art Deadline setzt. Es ist wichtig, dabei den emotionalen Aspekt dieser großen Veränderungen anzuerkennen, und das ist etwas, was die Rechten viel besser verstanden haben. Es gibt keine starke, linke Bewegung, die darauf eine gute Antwort gibt. Rechte Parteien gewinnen währenddessen immer mehr an Zulauf, dabei hat die AfD selbst nichts anderes zu bieten als Identitäten.

tipBerlin: Sie ziehen im Buch immer wieder Vergleiche zwischen Deutschland und den USA. Sieht die Identitätskrise in Amerika anders aus?

Alice Hasters: Einerseits ist die Identitätskrise in den USA noch stärker spürbar, weil sich viele Menschen dort im Endgame des Individualismus befinden. Andererseits finde ich es interessant, dass in den USA mit bestimmten Diskursen ganz anders umgegangen wird als in Deutschland. Die Idee, dass Identitäten in der Gesellschaft eine Rolle spielen, ist in Amerika zum Beispiel selbstverständlich. Mein erstes Buch kam in Deutschland 2019 raus, zu dem Zeitpunkt wäre es in den USA schon ein alter Hut gewesen, was ich da von Mikroaggressionen und Alltagsrassismus erzähle. In Deutschland hingegen werden die Leute bei diesem Thema ganz nervös. Wobei ich es richtig finde, auch ein bisschen kritisch über Identität nachzudenken: Die deutsche Skepsis, was Identitäten angeht, ist nicht komplett unberechtigt.

Alice Hasters: „Identität ist eine soziale Konstruktion“

tipBerlin: Warum?

Alice Hasters: Weil Identität eine soziale Konstruktion ist. Man muss Identitäten ernst nehmen und sie bedeuten uns etwas, so wie Kultur uns generell etwas bedeutet. In den USA sprechen viele Leute über race jedoch so, als sei es etwas ganz Inhärentes. Einerseits gibt es in den USA für mich eine klarere Idee davon, was meine Identität als Schwarze Person bedeutet. Andererseits ist es für Schwarze Menschen in den USA oft mit einem unglaublichen Druck verbunden, diese Identität aufrechtzuerhalten und ihre Zugehörigkeit nicht zu verlieren. Jede Schwarze Person hat vermutlich schon mal gehört, dass sie „nicht Schwarz genug“ ist. Das ist das Paradoxon von unterdrückten Identitäten: Sie werden gebildet, um Solidarität und Stärke zu finden und sich der Erzählung zu widersetzen, dass man minderwertig ist. Wenn man es dann aber aus der Unterdrückung heraus schafft, gerät dieser Identitätsbegriff auf einmal ins Wanken. Dann muss man sich fragen: Warum habe ich diese Identität, wobei hilft sie mir? Und wird eine Zeit kommen, in der ich sie nicht mehr brauche?

Berlin vs. Los Angeles: Die Plastikstadt der Träume

tipBerlin: Sie waren selbst Anfang des Jahres in den USA als Stipendiatin im Thomas Mann House in Los Angeles. Wie hat die Zeit dort Sie und Ihre Gedanken zu „Identitätskrise“ geprägt?

Alice Hasters: Es war sehr regnerisch in L.A., aber es war trotzdem tausendmal besser als Januar und Februar in Berlin (lacht). Wenn ich daran denke, wie ich im Januar dort ankam und im März abgereist bin, dann habe ich den Eindruck, dass es diese Zeit war, die mich aus meiner Erschöpfung so richtig rausgeholt hat. Und das, obwohl L.A. ja eigentlich die absolute Plastikstadt ist: Dort ist alles, was mich an der Welt so fertig macht…

tipBerlin: …auf Großleinwand?

Alice Hasters: Total. Ich stand einmal in West Hollywood vor einem riesigen, schicken Hundefutterladen. Davor saß eine obdachlose Person. Du siehst Leute in diesen Laden reingehen und Hundefutter kaufen, das 150 Dollar kostet, und davor sitzt jemand, der sich nichts zu essen leisten kann. Was ist das für eine Welt? Gleichzeitig ist L.A. faszinierend. Die Stadt ist voller Menschen, die dort hingehen, weil sie so sehr an diese Erzählung des amerikanischen Traums glauben. Darüber liegt aber auch eine gewisse Melancholie. Ich glaube, ich konnte L.A. nur genießen, weil ich wusste, dass ich nach drei Monaten wieder weg bin.

tipBerlin: Gibt es etwas, das Ihnen gerade Hoffnung gibt?

Alice Hasters: Nicht wirklich. (lacht) Aber ich weiß, dass es viele Menschen gibt, die sich wirklich reinhängen und versuchen, etwas besser zu machen. Die Effekte dieser Arbeit wirken auch jeden Tag. Gäbe es diese Menschen nicht, wäre vieles sehr viel schlechter. Das möchte ich nicht vergessen. Ich würde sagen, ich bin nicht direkt hoffnungsvoll, aber ich bin dankbar: dankbar für alle, die dagegenhalten, weil ich weiß, dass es einen Unterschied macht. Das ist es, was mich gerade aufrechterhält.

  • Identitätskrise von Alice Hasters, hanserblau, 240 S., 20 €

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